W&F 2008/1

Kernwaffen runderneuert:

Effektiver, treffgenauer, einsatzfähiger

von Giorgio Franceschini

Bis vor etwa einem Jahrzehnt herrschte noch Aufbruchstimmung in der nuklearen Rüstungskontrolle. Viele hatten gehofft, dass mit dem Ende des Kalten Krieges auch jene Waffen verschwinden würden, mit denen sich die Supermächte ein halbes Jahrhundert lang der Fähigkeit zur »Mutual Assured Destruction« (MAD, gegenseitig gesicherte Zerstörung) versichert hatten, sollte es je zu einem nuklearen Schlagabtausch kommen.

Dass es zu keinem atomaren Armageddon kam, ist weniger den ausgeklügelten Abschreckungsdoktrinen zu verdanken, an die inzwischen immer weniger Experten glauben, sondern dem puren Zufall oder »Glück«, wie die jüngere Geschichtsschreibung zeigt. Es schien sich deshalb bereits vor dem Ende des Kalten Krieges die Erkenntnis durchzusetzen, dass Nuklearwaffen unabhängig von ihren Besitzern und den spezifischen Nuklearwaffen-Doktrinen eine Bedrohung für die Menschheit darstellen und dass dementsprechend nach Wegen gesucht werden müsste, sie vollständig abzuschaffen.

Die großen geopolitischen Umwälzungen nach dem Fall der Berliner Mauer schienen dabei erstmals ein »window of opportunity« zu öffnen, innerhalb dessen die weltweite Eliminierung der Kernwaffen in Angriff genommen werden konnte. Die Herausforderung war immens, da die Hinterlassenschaft des Kalten Krieges aus über 60.000 atomaren Sprengköpfen bestand, die die acht »offiziellen« und »inoffiziellen« Kernwaffenstaaten im Laufe von vier Jahrzehnten aufgehäuft hatten. Ein Großteil dieser Waffen befand sich allerdings in den Händen der beiden Supermächte USA und Sowjetunion bzw. Russlands, auf die sich folgerichtig die Abrüstungsbemühungen zu Beginn der 1990er Jahre konzentrierten.

Die Anfänge dieses Unterfangens waren dabei durchaus viel versprechend:

Mit der Unterzeichnung und Ratifizierung des START I-Vertrags (1991) gelang es, die vollkommen überdimensionierten Arsenale der Vereinigten Staaten und Russlands binnen eines Jahrzehnts um etwa zwei Drittel zu reduzieren.

Auf amerikanische Initiative hin begannen erstmals Verhandlungen zu einem umfassenden Teststoppvertrag (Comprehensive Test Ban Treaty, CTBT), der 1996 schließlich zur Unterzeichnung freigegeben wurde.

Auf der Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag (NVV) wurde 1995 dessen unbefristete Verlängerung beschlossen. Dabei verpflichteten sich die Kernwaffenstaaten, die Mitglieder des Vertrags sind, nochmals explizit zur vollständigen nuklearen Abrüstung.

Im Laufe der 1990er Jahre wandelte sich somit die Vision einer kernwaffenfreien Welt von einer rhetorischen Leerformel des Kalten Krieges zu einer realistischen Perspektive für das 21. Jahrhundert. Bis George W. Bush jun. kam.

Nuklearpolitisches Rollback

Es hatte zwar schon vor seinem Amtsantritt das eine oder andere Störfeuer gegeben1, doch hatten sich bis dahin zumindest formell alle amerikanischen Präsidenten seit 1945 zum Ziel einer atomwaffenfreien Welt bekannt. Insbesondere Bill Clinton, Bushs Vorgänger, hatte mit der Unterzeichnung des CTBT und der Annahme der Abrüstungsagenda der 13 »practical steps« Meilensteine auf dem Weg der nuklearen Abrüstung gesetzt. In den 13 Schritten, vereinbart auf der NVV-Überprüfungskonferenz des Jahres 2000, verpflichteten sich neben den USA auch die vier weiteren »offiziellen« Kernwaffenländer zur vollständigen Eliminierung ihrer Arsenale.

Dieser Initiative hat die Bush-Regierung seit 2001, mit Amtsantritt, den Wind aus den Segeln genommen und damit auch den anderen Nuklearwaffenstaaten einen Vorwand geboten, ihre Abrüstungsverpflichtungen schnell wieder zu vergessen. Seitdem läuft das nukleare Rollback. Die Kernwaffenländer verkündeten in den letzten Jahren wieder öffentlich und ungeniert ihre Modernisierungspläne und machten sich schnell die amerikanische Rhetorik zu Eigen, seit dem 11. September 2001 sei eine neue geopolitische Realität entstanden, die alle vorhergehenden Verpflichtungen (insbesondere die der nuklearen Abrüstung) obsolet mache.

Die Zukunft sei zu ungewiss, als dass das Vereinigte Königreich jetzt auf Kernwaffen verzichten könnte. Mit dieser Argumentation verteidigte der scheidende britische Premier Tony Blair vor einem Jahr in einer seiner letzten Amtshandlungen die Entscheidung seiner Regierung, sich neue Trident-U-Boote für die heimische Nuklearflotte anzuschaffen. Worin diese spezifische Bedrohung bestehen soll, wurde zwar im entsprechenden »White Paper«2 nicht ausgeführt; dafür fand sich die Feststellung, die anderen Nuklearwaffenländer würden schließlich auch nicht abrüsten.

In diesem Klima der generalisierten Verantwortungslosigkeit verweisen die »kleinen« Atommächte auf die großen und letztere auf den internationalen Terrorismus, die so genannten Schurkenstaaten und die immer unübersichtlichere internationale Landschaft, um sich ihrer Abrüstungsverpflichtungen zu entledigen. In diesem Versteckspiel bleibt die meiste Kritik an den USA hängen, die aufgrund ihrer Machtfülle und ihrer militärischen Überlegenheit unweigerlich den Ton in der Rüstungskontrolle angeben. Washingtons Abwendung von bereits beschlossenen Abrüstungsplänen ist mithin besonders fatal.

Die Antwort ließ auch nicht lange auf sich warten. Aus Moskau meldete sich vor kurzem Präsident Vladimir Putin und verkündete seinem russischen Fernsehvolk „grandiose Atomrüstungspläne“, welche die gesamte Trägersystem-Triade des russischen strategischen Arsenals umfassen sollen, also Bomber sowie land- und U-Boot-gestützte Langstreckenraketen. Dieses Modernisierungsprogramm sei vor allem eine Antwort auf Washingtons fortwährende „Provokationen“ und habe nebenbei noch den Zweck, Russlands Großmachtambitionen für das 21. Jahrhundert zu unterstreichen.

Auch Frankreichs scheidender Präsident Chirac zeigte in seinen letzten Amtsjahren immer weniger Zurückhaltung, auf die Schlagkraft seiner »force de frappe« hinzuweisen, die Paris' Ansprüche einer Ordnungsmacht auch im 21. Jahrhundert absichern soll, und ließ es sich dabei nicht nehmen, dem Iran mit einem verheerenden Atomschlag zu drohen, sollte sich Teheran anmaßen, sich in den Club der Kernwaffenbesitzer einzureihen.

Umstrukturierung und Modernisierung der Arsenale

Der Trend ist heute in allen Nuklearwaffenländern derselbe. Die Zeit der Zurückhaltung - der faktischen wie der verbalen - ist vorbei; die Nuklearwaffenkomplexe (Forschung, Entwicklung, Produktion und Wartung) werden umstrukturiert und modernisiert und verschlingen wieder beachtliche Teile der Verteidigungsbudgets. Die Friedensdividende, die man mit dem Ende des Kalten Krieges verband, scheint somit auch schon wieder verbraucht.

Die Modernisierungsbestrebungen umfassen das gesamte Spektrum atomarer Waffen: Unterseeboote und deren Trägersysteme (Submarine Launched Ballistic Missiles, SLBM), landgestützte Interkontinentalraketen (Intercontinental Ballistic Missiles, ICBM), Marschflugkörper (cruise missiles) und strategische Bomber. Zusätzlich arbeiten wahrscheinlich alle Kernwaffenstaaten an neuen Sprengköpfen: Die USA, Frankreich und Russland tun dies offen, die restlichen Kernwaffenbesitzer heimlich. Die Motive hinter diesen Sprengkopfentwicklungen sind nicht immer einfach nachzuvollziehen, auch weil sie unter der Auflage erfolgen, dass die neuen Designs nicht getestet werden sollen und sich somit nicht zu stark von bereits existierender Hardware unterscheiden können.3

Warum also werden neue Sprengköpfe entwickelt? Ein Blick in die USA ist hier lohnenswert, wo seit zwei Jahren die Debatte um die so genannten »Reliable Replacement Warheads« (RRW) die Gemüter erregt. Die Befürworter dieser neuen Sprengköpfe verweisen auf (angebliche) technisch-ökonomische Vorteile eines Neustarts in der Nuklearwaffenentwicklung und halten den Ansatz der »Life Extension Programs« (LEP, Wartungsprogramme) für nicht nachhaltig. Letzterer sieht vor, die Erbmasse des Kalten Krieges (Sprengköpfe, aber auch Produktionsstätten und Wartungszentren) durch »lebensverlängernde Maßnahmen« solange wie möglich zu erhalten. Dieser konservative Ansatz scheint sich bewährt zu haben, wie inzwischen zahlreiche unabhängige Gutachten zeigen.

Dennoch sind die neuen Sprengköpfe damit noch nicht aus der Welt, da es in den Kernwaffenstaaten nach wie vor einflussreiche Lobbygruppen gibt, die versuchen, »replacement warheads« über immer neue Argumente im Gespräch zu halten. Die stärksten Befürworter dieser neuen Sprengköpfe kommen aus dem Umkreis der Waffenschmieden, der berüchtigten »weapon labs«. Diese riskieren schließlich im Kontext des Testmoratoriums und der konservativen Wartungsprogramme langfristig ihre Existenzberechtigung, denn der Teststopp erlaubt es ihnen nicht mehr, fundamentale Neuentwicklungen in Angriff zu nehmen4, und die »Life-Extension«-Programme sind intellektuell so anspruchslos, dass sie großteils vom Wartungspersonal in den Produktionsstätten übernommen werden können.

Da nützt den Waffenforschern auch ihr vollkommen überdimensioniertes Forschungsprogramm wenig, das ihnen als »Entschädigung« für den Teststopp zugesprochen wurde. Das kostspielige »Stockpile Stewardship Program« (US-Forschungsprogramm, Jahresbudget 2007: über 6 Milliarden $), aber auch seine britischen und französischen Pendants, werden es wohl kaum schaffen, »die besten Köpfe« aus Physik und Ingenieurswissenschaften langfristig an die »weapon labs« zu binden, wenn deren Aufgaben nicht klar umrissen sind. Junge und ehrgeizige Wissenschaftler werden nämlich wenig Freude daran haben, in überteuerten Versuchsanlagen und auf Supercomputern immer nur bereits existierende Nuklearwaffen zu simulieren, ohne jemals selbst ihre eigene Kreativität (z.B. im Zuge einer Neuentwicklung) entfalten zu können. In diesem Lichte erscheint das Trommelfeuer der Nuklearwaffenforscher für neue Sprengköpfe in einem vollkommen anderen Licht: Es geht darum, die Abwanderung von Spitzenkräften aus den »weapon labs« zu bremsen und dem »brain drain« Einhalt zu gebieten. Das russische Beispiel der 1990er Jahre hat nämlich gezeigt, wie schnell diese Erosion vonstatten gehen kann und wie schwierig es ist, sich danach wieder zu stabilisieren.

Momentan werden in den USA (aber auch in Großbritannien, Frankreich, Russland und möglicherweise in China) die traditionellen und die neuen Programme parallel gefahren, d.h. die alten und bereits getesteten Sprengköpfe der 1980er Jahre werden generalüberholt, während gleichzeitig an neuen Sprengköpfen geforscht wird, welche langfristig dann das Erbe des Kalten Krieges antreten sollen. Dieser Übergang von »alten« zu »neuen« Sprengköpfen variiert dabei von Land zu Land. Frankreich hat schon längst beschlossen, in den nächsten Jahren neue Sprengköpfe (Têtes Nucléaires Océaniques, TNO) auf seine Trägersysteme zu montieren, in deren Entwicklung u.a. die Daten der umstrittenen Tests auf den Mururoa-Inseln 1996 einflossen. Demgegenüber hält sich London noch bedeckt, ob die neue Trident-Flotte mit »High Surety Warheads« (der unbestätigte Name der britischen Ersatzsprengköpfe) oder mit dem bereits vorhandenen Sprengkopfdesign ausgestattet werden sollen.

In den USA schließlich scheinen erstmals drei Szenarien möglich. Erstens könnte die RRWs dasselbe Schicksal ereilen wie ihre Vorgänger, die »Mini Nukes« (Mini-Atomwaffen) und den »Bunker Buster« (bunkerbrechende Bombe mit nuklearem Sprengkopf), d.h. sie könnten nicht über das Stadium einiger Vorfeldstudien hinauskommen, wenn weiterhin so viele Unzulänglichkeiten zutage treten, wie sie von unabhängigen Gutachtern bereits moniert wurden.5 Ein zweites Szenario wäre eine partielle »Stockpile«-Transformation, d.h. von den neun Sprengkopfdesigns, die sich momentan in Washingtons Nukleararsenal befinden, würden einige mit RRWs ersetzt und andere über LEP konserviert. Dieser Ansatz würde es auch ermöglichen, einen Leistungsvergleich zwischen LEP- und RRW-Programmen für die Weiterentwicklung des US-Arsenals durchzuführen. In einem dritten Szenario hingegen kommt es zu einer vollständigen Transformation des Nuklearwaffenkomplexes (Complex 2030), an deren Ende ein Arsenal aus ausschließlich neuen Sprengkopfdesigns steht.6 Diese Aussicht lässt viele Beobachter um die Zukunft des Teststoppabkommens bangen, da es schwer vorstellbar ist, dass das »Strategic Command« der USA, dem die strategischen Kernwaffen anvertraut sind, seine Abschreckung auf Waffensysteme basieren wird, die niemals getestet wurden. Der Druck der Militärs, insbesondere bei einer geopolitischen Bedrohung, das Testmoratorium zu kippen und die Ersatzsprengköpfe zu testen, wäre für politische Entscheidungsträger in dieser Situation schwer auszuhalten.

Doch ein einziger Test würde wahrscheinlich genügen, um den letzten Bremsklotz in der vertikalen Proliferation7 aus dem Weg zu räumen und das letzte bisschen Zurückhaltung in der Kernwaffenmodernisierung zu beenden. Es ist nämlich ein offenes Geheimnis, dass Russland und China, und sicherlich auch Indien und Pakistan, höchstwahrscheinlich ihre Aktivitäten auf den jeweiligen Testgeländen wieder aufnehmen würden, sollte ihnen Washington die entsprechende Steilvorlage bieten. Ganz aufgegeben haben sie ihre Testaktivitäten nie, wie zahlreiche subkritische Tests nach Unterzeichnung des CTBT beweisen.8

Funktionswandel der Kernwaffen

Bei all der Kritik an den gegenwärtigen Modernisierungsprogrammen sollte man vorsichtig sein, sie mit den Rüstungswettläufen des Kalten Krieges gleichzusetzen. Der Unterschied zwischen der ersten und zweiten nuklearen Ära lässt sich nämlich sowohl quantitativ als auch qualitativ bestimmen. Während im Kalten Krieg, der ersten nuklearen Ära, Nuklearwaffen in erster Linie die Funktion der Abschreckung besaßen und als solche in hinreichend großen Mengen produziert wurden, um zu jeder Zeit »Zweitschlagsfähigkeit« zu garantieren, scheinen sie im 21. Jahrhundert, in der zweiten nuklearen Ära, eine vollkommen neue Funktion zu erhalten, die noch schwer greifbar ist.

Die neuen amerikanischen, französischen und russischen Doktrinen mögen insofern einen Vorgeschmack auf diesen Trend geben, als sie heute - anstelle der Abschreckung vor nuklearer Aggression - andere Einssatzszenarien in den Vordergrund stellen, den ungünstigen Kriegsverlauf auf dem Schlachtfeld etwa oder die »Sicherung der strategischen Versorgung« - also von Öl und Rohstoffen - oder eben die Abschreckung auch beschränkter konventioneller Bedrohungen. Allen Doktrinen gemeinsam ist die Herabsetzung der Schwelle eines Kernwaffeneinsatzes, obwohl dies von den jeweiligen Regierungen wenig überzeugend abgestritten wird. Somit ist die zweite nukleare Ära weniger von einem quantitativen Wettrüsten als von einer qualitativen Transformation der Nuklearwaffenarsenale bestimmt, wo im Ansatz bereits die neue Rolle der Kernwaffen im 21. Jahrhundert zum Ausdruck kommt. Diese sollen - auch im Hinblick auf die relativ spannungsfreie Koexistenz der Atomwaffenbesitzer - neuen Aufgaben zugeführt werden, die in den entsprechenden Doktrinen bereits angedeutet sind.

Um aber Nuklearwaffen für den konkreten Einsatz zu optimieren, sollten diese über Eigenschaften verfügen, die reine Abschreckungspotenziale nicht unbedingt aufweisen müssen: Sie sollten treffgenauer, zuverlässiger und flexibler sein. Diese Eigenschaften mussten reine Abschreckungswaffen nur zu einem gewissen Grad erfüllen, da sie eher eine politische als eine militärische Funktion zu erfüllen hatten: Sie mussten lediglich in hinreichender Zahl so über das Territorium (und die Ozeane) verteilt sein, dass sie nicht alle in einem atomaren Erstschlag vernichtet werden konnten.

Wie treffgenau, zuverlässig und flexibel sie waren, spielte bei dieser defensiven Aufstellung kaum eine Rolle. Es war für einen potentiellen Angreifer irrelevant, ob 70 oder 90 Prozent der Sprengköpfe des Gegners beim erwarteten Gegenschlag detonieren würden. Die schiere Zweitschlagsfähigkeit des Gegners mit eventuell Hunderten von Sprengköpfen sollte jegliche Angriffslust im Keim ersticken, unabhängig von der jeweiligen Zuverlässigkeit der atomaren Bestände.

Anders gestaltet sich eine offensivere Ausrichtung der Bestände. Hier werden Sprengköpfe einzelnen militärischen Zielen zugeordnet, die sie im Falle einer Konfrontation ausschalten und dementsprechend möglichst genau mit dem erwünschten Detonationswert treffen müssen. Daraus lassen sich die Optimierungsparameter der neuen »einsatzfähigeren« Kernwaffen ableiten: höhere Zuverlässigkeit, höhere Treffgenauigkeit und höhere Flexibilität. Diese Anforderungen bringen unweigerlich die Atomraketen ins Spiel, welche insbesondere bei der Zuverlässigkeit und Treffgenauigkeit noch reichlich Optimierungspotential haben.9 Dementsprechend konzentrieren sich in allen Kernwaffenländern die Modernisierungsprogramme neben den Sprengköpfen besonders auch auf die zugehörigen Trägersysteme, die nebenbei auch noch die zurzeit entstehenden Raketenabwehrsysteme überwinden sollen.

Ein Blick nach Moskau und Paris verdeutlicht diesen Trend. Das französische Raketenprogramm verschlingt seit einigen Jahren über die Hälfte des jährlichen Budgets der »force de frappe« (Jahresbudget 2006: 3 Milliarden Euro). Ab 2015 werden die vier strategischen U-Boote der Grande Nation mit jeweils 16 neuen Interkontinentalraketen des Typs M51 ausgestattet, an deren Spitze bis zu sechs neue Mehrfachsprengköpfe des Typs TNO montiert werden können. Die M51 soll wesentlich treffgenauer und zuverlässiger sein als das Vorgängermodell, die M45, und erlaubt in Kombination mit den neuen Sprengköpfen eine höhere Variabilität bei den Detonationswerten. So sollen für jeden Sprengkopf Werte bis zu 150 kt einstellbar sein, womit indirekt das potentielle Aufgabenspektrum dramatisch vergrößert wird.10

Das russische Pendant der M51 ist die »Bulava«, eine Neuentwicklung im Bereich der SLBM, die auf eine neue Generation strategischer U-Boote der sog. »Borej«-Klasse zum Einsatz kommen soll. Sie wird zu Wasser die ebenfalls neuen Interkontinentalraketen des Typs »Topol-M« ergänzen, welche zu Land die alten sowjetischen ICBM, die SS-18, SS-19 und SS-25, ersetzen sollen. Mit der Bereitstellung neuer strategischer Bomber (sog. »Blackjacks«) wird damit in einigen Jahren die gesamte russische Triade aus land-, see- und luftgestützten Systemen erneuert sein.

Dieser Modernisierungsschub sollte allerdings nicht davon ablenken, dass sich Moskaus Nukleararsenal in den kommenden Jahren wesentlich verkleinern wird, da die neuen Raketen vorerst nur in geringer Stückzahl stationiert werden und gleichzeitig große Bestände aus Zeiten des Kalten Krieges aus Altersgründen sukzessive abgebaut werden müssen. So werden in den nächsten Jahren über 250 SS-25, die als das Rückgrat des sowjetischen landgestützten Arsenals galten, ihren Einsatz beenden, gefolgt von weiteren Altlasten, den SS-18 und SS-19. Die Indienststellung neuer »Topol-M« kann diesen vorläufigen Rückgang stationierter ICBM dabei kaum aufhalten. Dasselbe gilt für Moskaus seegestützte Nuklearkapazität. Die U-Boot-Flotte wird vorerst verkleinert, indem man auf weniger, dafür aber schwerer aufzuspürende und besser bewaffnete U-Boote setzt. Auch hier wird die Zahl der SLBM erstmals drastisch sinken, auch weil die ersten Flugtests der neuen »Bulava« nicht die gewünschten Erfolge gebracht haben.

Dennoch kommen Moskau diese Unzulänglichkeiten nicht ganz ungelegen, da Russland noch bis 2012 einiger Restriktionen in der Anzahl der Raketen und der darauf stationierten Sprengköpfe unterliegt. Mit dem Auslaufen des START I-Vertrags im Jahre 2009 und des SORT-Vertrages11 drei Jahre danach entfallen aber für die russischen Nuklearstrategen sämtliche Auflagen, auf die man sich in den Abrüstungsverhandlungen seit Anfang der 1990er Jahre mit den USA geeinigt hatte. Dann wird sich das russische Arsenal wohl auf eine Größe einpendeln, die den Strategen im Kreml »strategische Parität« mit den Amerikanern garantiert. Man kann davon ausgehen, dass dieses rundum erneuerte Arsenal einige tausend Sprengköpfe umfassen, sich aber nicht mehr den exorbitanten Zahlen aus dem Kalten Krieg nähern wird (ca. 70.000 Sprengköpfe im Jahr 1986, zuletzt etwa 25.000).

Ähnliches könnte für Frankreich und Großbritannien gelten, die eine Gesamtzahl von einigen hundert Sprengköpfen anstreben, welche leicht unterhalb ihrer Arsenalgröße der letzten Jahrzehnte liegen sollte. Auch China (geschätzte Arsenalgröße: etwa 200 Sprengköpfe) scheint sich momentan eher um eine qualitative Optimierung seiner Nuklearflotte zu bemühen als diese quantitativ auszubauen. Dabei folgt Peking den Beispielen Londons und Paris' und ist im Begriff, einen Teil seiner strategischen Sprengköpfe auf neueste U-Boote der so genannten »Jin«-Klasse auszulagern. Einzig Indien und Pakistan setzen vorerst noch auf quantitatives Wachstum, bis ihre Sprengkopfanzahl ihren Vorstellungen einer »Minimalabschreckung« entspricht. Dieses Ziel könnte New Delhi mit indirekter Hilfe Washingtons in den nächsten Jahren erreichen, wenn der umstrittene Nukleardeal, den Bush und Singh im Jahre 2006 ausgehandelt hatten, zum Tragen kommt.

Fazit

Abschließend bleibt festzuhalten, dass seit etwa einem Jahrzehnt die Nuklearwaffenländer der Mut verlassen hat, den Weg in Richtung Kernwaffeneliminierung weiterzugehen, den sie nach dem Kalten Krieg zaghaft angetreten hatten. Wesentliche Verantwortung für diesen Stimmungswechsel tragen jene neokonservativen Berater der amerikanischen Regierung, denen es gelungen ist, Washington von den Prinzipien kooperativer Rüstungskontrolle abzubringen und in dessen Folge zentrale Pfeiler der globalen Sicherheitsarchitektur geschleift wurden (der Raketenabwehrvertrag, die START II- und START III-Verträge) und wesentliche Meilensteine auf der Abrüstungsagenda verschleppt wurden (beispielsweise das Umfassende Teststoppabkommen oder ein Vertrag über ein Verbot der Produktion von Spaltmaterialien). Vor diesem Hintergrund »partieller Anarchie« haben sich die weiteren Kernwaffenbesitzer berechtigt gesehen, ihrerseits eine zweite nukleare Ära einzuläuten, die für die Zukunft der nuklearen Nichtverbreitung nichts Gutes bedeutet.

Anmerkungen

1) Der bedeutendste Rückschlag war sicherlich die Weigerung des US-Senats im Jahre 1999, den CTBT zu ratifizieren, den der damalige US-Präsident Bill Clinton drei Jahre zuvor feierlich unterzeichnet hatte.

2) »The Future of the United Kingdom's Nuclear Deterrent«, White Paper Presented to Parliament by the Secretary of State for Defense and the Secretary of State of Foreign and Commonwealth Affairs By Command of Her Majesty, Dezember 2006.

3) Der CTBT ist zwar nicht in Kraft, dennoch halten sich momentan alle Kernwaffenbesitzer an ein Testmoratorium. Aber ohne Tests können keine fundamentalen Neuentwicklungen in Angriff genommen werden.

4) Die RRWs sind demnach auch keine vollkommen neuen Sprengköpfe, sondern basieren auf bereits getesteten Designs, die mithilfe neuer technischer Merkmale besonders sicher, zuverlässig und »umweltverträglich« sein sollen - ohne dass sie jemals im Ensemble mit den neuen Features getestet wurden.

5) Siehe vor allem die neuesten JASON-Studien zum Thema der Sprengkopfalterung und der Zertifizierung von RRWs.

6) Vgl. Jacqueline Cabasso (2007): Complex 2030: US-Atomwaffen für das 21. Jahrhundert. Wissenschaft und Frieden, 25 (1), S.43-47.

7) Als »vertikale Proliferation« wird die qualitative Verbesserung des Arsenals bezeichnet, als »horizontale« die Verbreitung in neue Länder.

8) Subkritische Tests werden ohne kritische Menge an Spaltmaterialien durchgeführt, so dass auch keine sich selbst erhaltende Kettenreaktion entsteht. Sie sind nicht explizit verboten, führen aber immer wieder zu Irritationen und Missverständnissen.

9) Unabhängige Gutachter schätzen die Zuverlässigkeit der amerikanischen Sprengköpfe auf 98%, aber die ihrer Trägersysteme auf nur circa 85%. Siehe z.B. Robert Nelson (2006): If It Ain't Broke: The Already Reliable U.S. Nuclear Arsenal. Arms Control Today, 36 (3), S.18-24.

10) Zum Vergleich: Die Hiroshima-Bombe hatte einen Detonationswert von 13 kt.

11) Der »Strategic Offensive Reduction Treaty« (SORT) von 2002 definiert Obergrenzen für stationierte russische und amerikanische Sprengköpfe, enthält jedoch keinerlei Überprüfungsmaßnahmen. Der Vertrag läuft 2012 aus und wird nicht verlängert.

Giorgio Franceschini beschäftigt sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) mit nuklearer Rüstungskontrolle und Abrüstung.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2008/1 Rüstungsdynamik und Renuklearisierung, Seite