Kollateralschaden des Koreakriegs
60 Jahre ohne Friedensvertrag
von Christine Ahn
Der Koreakrieg endete laut der üblichen Geschichtsschreibung vor 60 Jahren, wenn auch nur mit einem Waffenstillstand, nicht mit einem Friedensvertrag. Unsere Autorin sieht dies anders: Dieser Krieg sei bis heute nicht beendet, mit fatalen Folgen für die Koreaner nördlich wie südlich der Demarkationslinie. Auch gigantische Aufrüstungsmaßnahmen seien Folge des nie beendeten Krieges, und mitschuldig an der Misere seien die USA.
Die Insel Jeju wurde 2011 für ihre außerordentliche landschaftliche Schönheit zu einem der sieben neuen Weltwunder gewählt. Gut 100 Kilometer südlich der koreanischen Halbinsel gelegen, weist Jeju Island die weltweit höchste Zahl an UNESCO-Geoparks sowie mehrere Biosphärenreservate und als UNESCO-Weltkulturerbe ausgewiesene Stätten auf.
An der Südküste der Insel, weniger als zwei Kilometer vom UNESCO-Biosphärenreservat Beom Islet entfernt, liegt das 450 Jahre alte Dorf Gangjeong. Die Straßen dieser landwirtschaftlich geprägten Ortsgemeinde sind von Mauern aus Lavagestein gesäumt; Mandarinen-, Aprikosen- und Feigenbäume wachsen in Hülle und Fülle. Entlang Ganjeongs Küste, wo frisches Quellwasser auf Meerwasser trifft, zieht sich ein großes Lavamassiv, von den Dorfbewohnern liebevoll »Gureombi« genannt. Dieses seltene marine Ökosystem – das einzige felsige Feuchtgebiet auf der Insel Jeju – beheimatet verschiedene bedrohte Arten und Weichkorallenriffe. Von den 132 in Korea vorkommenden Korallenarten finden sich 92 an der Küste von Jeju und davon wiederum 66 in diesem Gebiet. Seit Generationen bieten diese Gewässer den Fischern und den »haenyo«, Jejus berühmten Meerestaucherinnen, eine stabile Existenzgrundlage. Seit einigen Jahren sind sie allerdings auch Schauplatz einer hartnäckigen Widerstandsbewegung von DorfbewohnerInnen, die sich erbittert gegen den Bau eines südkoreanischen Marinestützpunktes wehren. Die Jeju Naval Base soll u.a. Stützpunkt für das amerikanische Raketenabwehrsystem werden, das der Eindämmung Chinas dienen soll.
Jeju liegt in der Koreastraße, ziemlich genau im Schnittpunkt zwischen Beijing, Hongkong, Shanghai, Tokio, Taipeh und Wladiwostok. Viele Kommentatoren sagen, Jeju sei ein Opfer des »Asia Pacific Pivot«, der politisch-strategischen Umorientierung der USA auf den asiatisch-pazifischen Raum, die die Regierung Obama im Jahr 2011 angekündigt hat. Diese neue außenpolitische Doktrin sieht vor, dass die USA mittels aggressiver ökonomischer Expansion und dem Einsatz militärischer Mittel ihre Vorherrschaft über diese Region sichern. Dazu sollen erhebliche militärische Kontingente nach Asien und in die Pazifikregion verlegt werden; Bestandteil der Planung sind zusätzliche bzw. erweiterte Militärbasen, Überwachung und moderne Kriegsführung. Das Pentagon hat entschieden, 60% seiner Luft- und Seestreitkräfte in Asien und dem Pazifik zu stationieren, u.a. in Vietnam, den Philippinen und Australien. Zweifellos verschärft der «Pivot« die Spannungen in einer Region, die ohnehin noch von Konflikten aus dem letzten Jahrhunderts geprägt ist.
Korea als Rechtfertigung für US-»Pivot«
Der nie formell beendete Koreakrieg ist einer dieser ungelösten Konfliktea und liefert die Begründung für die weitere Militarisierung des Landes und für den Bau der Marinebasis auf Jeju.
Es wird oft übersehen, dass vor allem ein Land den USA als Rechtfertigung für ihre militärische Expansion in der asiatisch-pazifischen Region dient: Korea. Bruce Cumings, der führende Historiker zur koreanischen Geschichte, schreibt dazu: „Weder […] der Vietnamkrieg noch der Marshall-Plan waren Ursache für den hohen Verteidigungshaushalt und den nationalen Sicherheitsstaat, sondern der Koreakrieg. Er bedingte die Transformation von einer begrenzten Eindämmungsdoktrin zu einem globalen Kreuzzug. Letzterer wiederum entfachte den McCarthyismus just dann neu, als dieser zu verebben schien, und verlieh damit auch dem Kalten Krieg seinen langen Atem.“
Wie vor 60 Jahren dient auch heute Korea als Rechtfertigung für die amerikanische Aggression im asiatisch-pazifischen Raum. Als Nordkorea im Dezember 2012 erfolgreich einen Satelliten startete und wenige Monate später erneut eine Atomwaffen testete, drängten die USA den UN-Sicherheitsrat zu weiteren Sanktionen, dieses Mal unter Beteiligung Chinas. Nordkorea verschärfte daraufhin den Ton: Das Land erklärte das Waffenstillstandsabkommen für ungültig und drohte mit Schlägen auf US-amerikanische und südkoreanische Ziele, falls ein Angriff auf nordkoreanisches Territorium erfolgen sollte. Das entscheidende Wort hierbei wurde in den US-Medien unterschlagen: „falls“. Dies setzte einen Feuersturm militärischer Reaktionen in Gang, darunter eine beispiellose Machtdemonstration der USA während eines gemeinsam mit Südkorea durchgeführten Gefechtsübung. Im Rahmen dieses Militärmanövers schickten die USA nuklearwaffenfähige Tarnkappenbomber des Typs B-2 nach Südkorea. Diese Bomber können 30.000-Pfund-Bomben abwerfen, die speziell für die Zerstörung von Nordkoreas unterirdischen Militäranlagen entwickelt wurden. Auch das mit Tomahawk-Raketen ausgerüstete Atom-U-Boot U.S.S. Cheyenne nahm an dem Manöver teil. Der ehemalige US-Verteidigungsminister Leon Panetta sagte, die Vereinigten Staaten stünden „jeden Tag wenige Zentimeter vor einem Krieg mit Nordkorea“.
Das Wissen um die Geschichte
In Wahrheit sind die USA immer noch im Krieg mit Nordkorea. Nach dem Tod von vier Millionen Koreanern, die meisten davon Zivilisten, blieb der Koreakrieg trotz Unterzeichnung des vorläufigen Waffenstillstandabkommens zwischen den USA, Nordkorea und China am 27. Juli 1953 ungelöst. Der Waffenstillstand enthielt drei zentrale Klauseln:
1. Innerhalb von drei Monaten sollen die Unterzeichnerstaaten eine dauerhafte Friedensregelung ausarbeiten. Diese Vereinbarung wurde nie erfüllt.
2. Alle ausländischen Truppen sollen sich aus Korea zurückziehen. China rief daraufhin sämtliche Truppen zurück, die USA hingegen stationieren immer noch 28.500 Soldaten auf 80 Militärbasen und in anderen Einrichtungen in ganz Südkorea.
3. Es sollen keine neuen Waffen in Korea eingeführt werden. Auch diese Klausel verletzten die USA mit der Stationierung von Nuklearwaffen in Südkorea, die erst 1991 von der Regierung Bush sen. abgezogen wurden.
Dieses Jahr jährte sich das Waffenstillstandsabkommens zum 60. Mal – und die gesamte Ära seither ist durch Krieg, die Teilung des Landes und die anhaltende Militarisierung Koreas gekennzeichnet, im Norden wie im Süden.
Das Wissen um diese Geschichte ist Voraussetzung zum Verständnis der gegenwärtigen Situation. Der nie beendete Koreakrieg ist ursächlich für die gegenwärtige Krise auf der koreanischen Halbinsel und für Maßnahmen wie den Bau der Militärbasis auf Jeju. Es ist einfach, Nordkorea als kriegslüstern zu verurteilen. In Wirklichkeit wird Nordkorea provoziert, und zwar durch den »Pivot« und die amerikanisch-koreanischen Kriegsspiele, bei denen Zehntausende amerikanische und südkoreanische Soldaten eine Invasion in und Besetzung von Nordkorea simulieren. Nordkorea ist der perfekte Schwarze Peter für Washington, um den »Pivot« zu begründen, ohne die wahre Absicht – die Eindämmung Chinas – zuzugeben. Seitdem die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton diesen »Pivot« im Jahr 2011 ankündigte, verzeichnete die Rüstungsindustrie der USA ungeachtet der globalen Rezession eine Umsatzsteigerung um fünf Prozent. Und seitdem Washingtons im Dezember 2012 dem Verkauf von Drohnen an Seoul zustimmte, wächst auch der Waffenhandel der USA mit Japan, Taiwan, Singapur, Australien und anderen US-Alliierten.
Unterdessen treibt die südkoreanische Regierung die Sprengung und Ausbaggerung der Korallenriffe von Gangjeong für die Marinebasis mit Hochdruck voran. Südkoreas Wirtschaft hängt fast ausschließlich vom Seehandel ab – ein Resultat der Teilung der Halbinsel entlang des 38. Breitengrades. Gemäß der südkoreanischen Marineplanung sollen an der Basis 20 Kriegsschiffe andocken können, einschließlich der Aegis-Boote mit der Raketenabwehr der USA.
Gegen den Bau der Basis gibt es täglich Proteste von Dorfbewohnern und sympathisierenden Aktivisten, darunter den großen Glaubensgemeinschaften des Landes; US-Stars wie Filmemacher Oliver Stone und Schriftstellerin Gloria Steinem unterstützen die Bewegung mit Solidaritätsbesuchen.1 Dennoch arbeiten die Firmen Samsung und Daelim im Auftrag der Regierung rund um die Uhr, um die Basis bis 2015 fertig zu stellen.
Die Kosten des Krieges
Es gibt noch mehr Kollateralschäden des nie beendeten Koreakrieges. Kürzlich fand an der Universität von Kalifornien in Los Angeles (UCLA) eine Konferenz statt, die vom Korea Policy Institute, dem UCLA Center for Korean Studies und den United Methodist Women on Ending the Korean War veranstaltet wurde. Eine junge koreanisch-amerikanische Frau warf die Frage auf, warum ihre Generation Interesse an der Wiedervereinigung Koreas haben sollte, wo die Kosten für die Unterstützung des verarmten Nordens für Südkorea doch absolut unerschwinglich seien.
Ich forderte sie auf, das Problem anders zu betrachten, und fragte meinerseits: „Wie hoch sind die Kosten für die Aufrechterhaltung der Teilung und den permanenten Kriegszustand?“ Dabei geht es nicht nur um die Verschwendung knapper öffentlicher Gelder für die Kriegsvorbereitung, die die öffentlichen Kassen überall belastet. Den meisten Amerikanern ist nicht bewusst, dass die US-Regierung mehr als die Hälfte des Staatshaushalts für den militärisch-industriellen Komplex ausgibt, während gleichzeitig jedes vierte Kind hungrig zu Bett geht und fast 50 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung dastehen.
Zu den Kosten dieses Krieges gehören auch Repressionen im Namen der nationalen Sicherheit auf beiden Seiten der demilitarisierten Zone. Im so genannten demokratischen Südkorea definiert das vom Kalten Krieg geprägte »National Security Law« Gewerkschafter, Umwelt-, Friedens- und andere im Bereich sozialer Gerechtigkeit tätige Aktivisten als »Kommunisten«; infolgedessen unterwerfen sich die meisten Menschen einer Art Selbstzensur und sagen lieber nicht, was sie denken.
Gegenwärtig führen die Konservativen unter Führung der südkoreanischen Präsidentin Park Geun-hye, Tochter des früheren Diktators Park Chung-hee, der Korea 18 Jahre lang mit eiserner Faust regierte, eine regelrechte Hexenjagd durch. Während der Präsidentschaftswahlen 2012 griff der Inlandsgeheimdienst »National Intelligence Service« (NIS) in den demokratischen Prozess ein: Er organisierte eine Hetzkampagne gegen liberale und linke Kandidaten, die er in einer Rufmordkampagne in mehreren Online-Foren als Kommunisten und Sympathisanten des Nordens verleumdete. Als landesweit Rufe nach Auflösung des NIS aufkamen, konterte der Geheimdienst mit Razzien in den Büros der Unified Progressive Party, verhaftete mehrere Mitglieder der Partei, darunter den Abgeordneten Lee Seok-ki, und stellte sie unter Anklage. Er behauptet, Lee sei Anführer der »Revolutionary Organization«, die angeblich gemeinsam mit Nordkorea einen bewaffneten Aufstand plane. Die Situation ist inzwischen so eskaliert, dass aus allen Bereichen der südkoreanischen Zivilgesellschaft die Forderungen erhoben wird, diese Hexenjagd zu beenden und das Augenmerk wieder auf die wahren Kriminellen zu richten, namentlich den NIS.
Nördlich der demilitarisierten Zone gibt es einen weiteren Kollateralschaden des unbeendeten Koreakrieges: die Menschenrechtskrise in Nordkorea, geschürt von 60 Jahren Sanktionen, die vor allem von den USA betrieben werden und die Wirtschaft des Nordens lahm legten sowie die Menschen in das Elend zwangen.
Es ist allgemein bekannt, dass im Krieg oder unter der Drohung des Krieges bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte oft eingeschränkt oder bedroht sind. Auch die USA begründen Menschenrechtsverletzungen mit der nationalen Sicherheit. Unter diesem Vorwand rechtfertigte die Regierung Bush jr. die systematische Folter von Gefangenen, und sogar Präsident Obama führte die nationale Sicherheit ins Feld, um zu erklären, warum Guantanamo nicht geschlossen werden kann.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will auf keinen Fall die Praxis Nordkoreas rechtfertigen, Flüchtlinge zwangsweise nach Nordkorea zurückzuführen und dort in Umerziehungslager zu stecken. Der Gedanke an diese Vorgehensweise ist nur schwer zu ertragen. Aber die Suche nach einer Lösung dieser Menschenrechtskrise verlangt einen holistischen Ansatz und eine kontextbezogene Wahrnehmung, warum Nordkorea sich so verhält. Man muss zur Wurzel des Konflikts vordringen: den nie beendeten Koreakrieg, der auf beiden Seiten der demilitarisierten Zone die Militarisierung und die Verletzung der Menschenrechte im Namen der nationalen Sicherheit vorangetrieben hat. In den Vereinigten Staaten und den anderen Ländern des Westens mangelt es an jeglicher Historisierung des Koreakriegs und seine Folgen und damit auch an einem tieferen Verständnis, warum so viele Menschen aus Nordkorea fliehen.
Elend und getrennte Familien
Die Teilung hat unmittelbare Folgen vor allem für die nordkoreanischen Frauen, die auf der Suche nach einem besseren Leben den Großteil der Nordkoreaflüchtlinge stellen, sind Frauen auf der Flucht doch besonders vielfältigen Gefahren ausgesetzt, u.a. dem Menschenhandel und der sexuellen Ausbeutung. Sogar die Washington Post stellte fest, dass „nordkoreanische Überläufer vor allem Frauen aus der Arbeiterschicht und aus ländlichen Gebieten sind, die vor Hunger und Armut fliehen, nicht vor politischer Repression.“
An dem Elend der Menschen in Nordkorea sind die Vereinigten Staaten federführend mitschuldig, und dies in mehrerer Hinsicht: Zum einen wirkten sich die Sanktionen in den vergangenen 60 Jahren massiv auf das Alltagsleben der Nordkoreaner aus. Auf seiner letzten Reise nach Nordkorea, die er gemeinsam mit anderen Friedensnobelpreisträgern unternahm, sagte der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter: „Werden Sanktionen über ein ganzes Volk verhängt, dann leiden die Menschen am stärksten und die Führer am wenigsten.“ Und weiter: „Aufgrund der Sanktionen blieb den Nordkoreanern ein angemessener Zugang zu Handel und Gewerbe verwehrt, mit verheerenden Folgen für die nordkoreanische Wirtschaft.“ Zum anderen zwingt der unbeendete Krieg Nordkorea dazu, seine begrenzten Ressourcen in das Militär zu stecken. Als Nordkorea im Frühjahr 2013 das Waffenstillstandsabkommen aufkündigte, erklärte das Regime, der unbeendete Krieg habe das Land dazu gezwungen, „große personelle und materielle Ressourcen auf die Verstärkung der Streitkräfte zu verwenden, obwohl diese für die ökonomische Entwicklung und die Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung dringend benötigt würden“. Dies ist wahrlich ein Eingeständnis, das wir in ähnlicher Form bislang weder von den USA noch von Südkorea gehört haben.
Und schließlich leiden Millionen getrennter Familien in Korea und in der gesamten Diaspora unter den Kriegsfolgen. Schätzungen zufolge sind immer noch zehn Millionen Familien auseinander gerissen aufgrund der Teilung entlang der entmilitarisierten Zone. Wir sollten auf der ganzen Welt unsere kollektive Energie darauf verwenden, die 1,2 Millionen Landminen in der demilitarisierten Zone zu entschärfen, so dass Koreaner aus dem Norden und dem Süden diese unbehindert überqueren können. Voraussetzung dafür ist aber, dass der Koreakrieg endlich mit einem endgültigen Friedensvertrag beendet wird.
Anmerkung
1) Die Proteste gegen die Marinebasis auf Jeju und ihre historische Vorgeschichte (entsetzliche Massaker der unter US-Befehl stehenden südkoreanischen Sicherheitskräfte an 60.000 BewohnerInnen von Jeju während des Koreakrieges) schildert Regis Tremblay in seinem Film »The Ghosts of Jeju« (2013, 90 Min.); www.theghostsofjeju.net.
Christine Ahn ist Gründungsmitglied des Korea Policy Institute, der National Campaign to End the Korean War und der Global Campaign to Save Jeju Island.
Übersetzt von Bentje Woitschach