W&F 2008/2

Kollektive Gewalt als Herausforderung

Überlegungen zur transdisziplinären Genozidforschung

von Mihran Dabag

Nicht alleine der Massenmord an den europäischen Juden, sondern auch zahlreiche andere Verbrechen des 20. Jahrhunderts haben die Diskussion um Genozide und die Notwendigkeit zur Erforschung genozidalen Handelns aufgeworfen.

1.

Wenn wir heute von der Aktualität der Forschung über Prozesse staatlicher Gewalt und Völkermord sprechen müssen, heißt dies dann nicht, dass wir bei einer entscheidenden Aufgabe, die uns der Nationalsozialismus hinterließ, versagt haben: nämlich bei der Verpflichtung an das »Nie wieder«?

Dass aus der Beschäftigung mit der Ermordung der europäischen Juden wichtige Orientierungen für eine Demokratisierung der gesellschaftlichen Strukturen gewonnen werden können, dies war einer der wichtigen Ausgangsgedanken nicht nur der deutschen Politik nach 1945. Doch erst aufgrund der Veränderungen in der internationalen Politik nach 1990, insbesondere durch die neue Nähe gewaltvoller Auseinandersetzungen, ist deutlicher bewusst geworden, dass man kollektive Gewaltphänomene nicht als historische Irrtümer behandeln kann. Auch reicht es nicht aus, die Gewalt auf dem Balkan, den Völkermord in Rwanda oder die Gewaltpolitik der sudanesischen Regierung gegenüber der Bevölkerung der Region Darfur als eskalierte Reaktionen oder als aggressive, durch Hass motivierte Ausbrüche zu beschreiben.

Können ähnliche oder sogar identische Ursachen für die einzelnen historischen Gewaltereignisse ausgemacht werden? Welche Unterschiede lassen sich für verschiedene Gewaltpolitiken feststellen? Inwiefern lassen sich aber für die jeweiligen Gewaltpolitiken vergleichbare, wiederholbare Strukturelemente typisieren? Unter anderem diesen Fragen widmet sich die seit den 1970er Jahren zunächst in anglo-amerikanischen Forschungszusammenhängen entstandene interdisziplinäre Genozidforschung. Denn, und so versteht die heutige Genozidforschung ihre Aufgabe, um Genozide zu verstehen reicht es nicht, einzelne Täter oder Tätergruppen zu untersuchen, sie in einen historischen Kontext einzuordnen oder ihre möglichen Motivationen zu charakterisieren, weil Genozide als gesamtgesellschaftliche Prozesse begriffen werden müssen.

Dies bedeutet zunächst (a), dass es notwendig ist, die Ursachen von Genozid generationenübergreifend nachzuzeichnen. Genozide sind Ereignisse, deren Beginn und Ende mittels Daten eigentlich nur symbolisch definiert werden können, so, wenn man einen Völkermord über den Antritt oder das Ende einer Regierung historisch zu verorten sucht. Zu berücksichtigen ist vielmehr die Entstehung des ideologisch-legitimatorischen Rahmens, die Entstehung des Verwaltungsapparats und die ersten veräußerlichten Gewaltformen. Ähnliches gilt auch für das Ende: denn Genozide haben generationenübergreifende Nachfolgen - dies nicht allein für die Opfer, sondern auch in bezug auf die Strukturen der Tätergesellschaft.

Es bedeutet ferner (b), dass die Einzelprozesse moderner Genozide nicht aus den Strukturen und Charakteristika moderner Gesellschaften herauszulösen sind. Zwar sind Planung und Durchführung der unterschiedlichen Prozesse, auf denen ein Völkermord aufbaut, nur als national spezifische Prozesse zu verstehen. Doch werden Verfolgungen und Gewalt mit Argumenten legitimiert, die zu allgemeinen Normen der modernen Wirklichkeit gehören: Stabilität, Gleichgewicht, die Wiederherstellung oder der Schutz von Identität, die Rede vom inneren Feind. Die Erwägung eines Genozids wird dabei insbesondere eingebunden in die gestaltende Planung der Zukunft der eigenen Gesellschaft - legitimiert als »Sicherung« oder »Rettung«, legitimiert mit allgemeinen Mustern von Fortschritt und Zivilisation.

Es bedeutet schließlich (c), dass Genozide nicht allein Ergebnis multifaktorieller Ursachen sind, sondern auch von multifaktorieller Gewalt bestimmt werden. Wir können Genozide nicht auf eine - letzte - Form der Ermordung, etwa in der Form eines Vernichtungsmassakers oder des Vernichtungslagers reduzieren. Genozid wird über Stufen verwirklicht: Stufen der Ausgrenzung, Stigmatisierung, Entrechtung; Stufen unterschiedlicher Gewalt. Aus diesen drei Charakteristika folgt ein weiteres Kennzeichen der Genozidforschung: Sie muss davon ausgehen, dass kein generell gültiges, allgemeines Verlaufsmodell von Genozid definiert werden kann.

2.

Vor diesem Hintergrund besteht das Ziel der Genozidforschung nicht darin, auf die zahlreichen Fälle staatlicher Gewalt aufmerksam zu machen, sondern auf die Vielfalt der Gewaltpolitiken zu verweisen, auf ihre Strategien und Mechanismen. Genozidforschung zeigt, dass Differenzierungen notwendig sind; Differenzierungen, die verweigern, so unterschiedliche Gewaltformen wie Bürgerkrieg und Krieg, Folter, Diskriminierung, Vertreibung oder Genozid unter einer einzigen geschichtlichen oder anthropologischen Ursache von Gewalt zu vereinheitlichen. Ansätze strukturvergleichender Untersuchungen widmen sich daher zunächst der definitorischen Unterscheidung des Genozids von anderen Formen kollektiver Gewalt: Massaker und »ethnischer Säuberung« im besonderen.1

So könnte man zunächst das Massaker als jene Gewalt eingrenzen, die einem kurzfristigen Ausbruch gleichkommt. Die Gruppe der Mordenden im Massaker weist nicht notwendig eine systematische Struktur der Schulung und Disziplinierung auf, es handelt sich zudem meist um eine einzelne und geschlossene Gruppe, in der nicht notwendig eine deutliche Funktionstrennung zwischen planenden und ausführenden Personen besteht. Die Verwirklichung und die angewendeten Mittel werden dabei häufig den Ausführenden selbst überlassen. Die Gruppe der Mordenden hegt darüber hinaus zunächst keinen längerfristigen, das heißt generationenübergreifenden Exterminationsplan, es geht vorrangig um eine situationale Eliminierung, eine »Bestrafungs-« oder »Racheaktion«. Die ideologischen ebenso wie die technischen Bedingungen des Massakers sind als gering einzuschätzen. Die Opfer des Massakers sind Angehörige einer als solcher klar erkennbaren Gruppe. Die Gruppe selbst ist, trotz des Massakers, in ihrer Existenz nicht gefährdet: das Massaker löscht Einzelpersonen oder auch Familien aus, nicht Generationen. Ein Massaker unterbricht somit nicht die Generationenfolge der Opfergruppe.

»Ethnische Säuberung« wäre der Versuch einer dominanten ethnischen Gruppe die Mitglieder einer anderen, nicht-dominanten ethnischen Gruppe, die innerhalb eines Staates oder eines Staatenbundes leben, aus einer bestimmten Region zu vertreiben oder zu ermorden (Massaker), mit der Absicht, durch die ethnische Homogenisierung der Bevölkerung die Herrschaft über diese Region zu erlangen oder zu sichern. Ethnische Gewalt wird demnach im Kontext eines Konfliktes bezüglich der Herrschaft über eine bestimmte geographische Region ausgeübt und richtet sich zunächst nicht gegen die Mitglieder einer ethnischen Gruppe im gesamten Staatsgebiet, sondern ausschließlich gegen jene, die innerhalb der beanspruchten Region leben. Ethnische Gewalt setzt nicht notwendig eine ideologische Legitimierung voraus.

Genozid schließlich wäre die mit dem ausgesprochenen Ziel der Extermination geplante, ideologisch begründete und systematisch durchgeführte Auslöschung einer spezifischen Bevölkerungsgruppe als solcher aus der Mitte einer Gesellschaft mit der Absicht den visionären Selbstentwurf einer homogenen Gesellschaft in Identität von Volk, Kultur, Territorium und Herrschaft durch die Vernichtung des als nicht-integrierbar definierten »Anderen« in kürzester Frist zu verwirklichen. Genozid ist somit ein nationales, gesamtgesellschaftliches, jeweils singulares Verbrechen, das sich in national spezifischen Transformationsprozessen vollzieht.

Diese Differenzierung entlang von Strukturaspekten ist der Beobachtung gezollt, dass sich eine Unterscheidung zwischen Genozid und anderen Gewaltpolitiken nicht anhand der jeweils ausgeübten Gewalt vornehmen lässt. So können Massaker oder Deportationen - als Todesmärsche - Methoden eines Genozids sein, ebenso wie die logistisch durchdachte, industrielle Vernichtung. Krieg und Bürgerkrieg können mit Massakern einhergehen, ebenso wie mit »ethnischen Säuberungen«. Festzustellen bleibt, dass es die eine, für einen Genozid typische Gewalt nicht gibt. So war die Gewalt der nationalsozialistischen Täter nicht nur modern, technisiert und entfremdet, sie war zugleich auch direkt, hasserfüllt, traditionell und »barbarisch«.

Und auch die ausgeübte Gewalt während des Genozids in Rwanda war nicht nur unmittelbar, wild, rauschhaft und somit gewissermaßen vormodern - wie es die zur Metapher für diesen Genozid avancierten Bilder der Macheten suggerieren -, sondern sie war zugleich geplant, in gesellschaftlichen Diskursen vorbereitet, medial propagiert und institutionell organisiert. Signifikanter als die ausgeübte Gewalt sind für eine Charakterisierung von Genoziden - wie bereits in der Genozidkonvention aus dem Jahr 1948 festgestellt wurde - die Intention der Täter, das Ziel der Vernichtung einer Bevölkerungsgruppe als solcher sowie, dies möchte ich erweiternd hinzufügen, die gesamtgesellschaftliche Verwirklichung der Vernichtungspolitik.

3.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf zwei Gefahren hinweisen: Die eine wäre der Versuch, Parameter aus den Struktureigenschaften der Shoah zu abstrahieren, um sie als generalisierte Muster über andere Formen kollektiver Gewalt zu stülpen - dies im übrigen nicht selten mit relativistischen Motiven.

Die andere wäre die Konzentration auf eine Fallsammlung, auf ein additive Reihung von verschiedenen kollektiven Gewaltverbrechen. Denn solche additiven Verfahren gehen doch häufig mit dem Versuch einher, über wilde und inflationäre Begriffsbildungen und ihre Hierarchisierungen eine Ordnung zu suchen. Hier denke ich an Begriffe wie »genozidales Massaker«, »Ethnozid«, »Politizid«, »Demozid«, »Ökozid« oder an den Begriff »Gendercide«.

Die Entstehung solcher Begrifflichkeiten sowie die Herleitung des Genozidbegriffs aus dem Völkerrecht2 hat in jüngerer Zeit dazu geführt, dass seine Tauglichkeit im Kontext insbesondere historischer Forschung problematisiert worden ist, da die Überführung einer politisch aufgeladenen juristischen Kategorie in die historische Analyse in eine Sackgasse von Typologien und Kategorien zu führen drohe, in ein Ranking von Gewalterfahrungen, in eine Hierarchisierung von Leid. Aus diesen Gründen ist wiederholt angemahnt worden, den Begriff als wissenschaftliche Kategorie aufzugeben. Alternativ wurden Begriffe wie »Massenmord« oder »Massaker« vorgeschlagen.3

Genozid aber ist kein solcher Begriff, der die besondere Schrecklichkeit einer Gewalt benennt, fast könnte man sagen: auszeichnet. Folglich besteht das Ziel der Genozidforschung auch nicht darin, Opferzahlen zu quantifizieren und über historische Analysen die Schwere einer Tat festzustellen, um dies schließlich mit dem Begriff »Genozid« zu etikettieren. Im Gegenteil wurde der Begriff geschaffen, um die Struktur einer Gewaltpolitik zu charakterisieren, wobei im Zentrum des Interesses eben das Politische der Gewalt steht. Anliegen der Genozidforschung ist es einerseits auf die differenten Strukturen von Gewaltpolitiken aufmerksam zu machen sowie Genozidpolitik in einem erweiterten gesellschaftlichen Rahmen zu betrachten und andererseits detaillierte Einzelstudien zu weniger erforschten Akten kollektiver Gewalt durchzuführen.

So umfasst das Arbeitsgebiet der Genozidforschung heute drei Aufgabenbereiche: 1. die historische Einzelfallanalyse; 2. interdisziplinäre, komparative Untersuchungen zu einzelnen Strukturen, Institutionen, Prozessen, Ideologemen oder Motivationen im Genozid und 3. Analysen zu den Wissensmustern, Identitätsbildern und Identitätsentwürfen moderner Gesellschaften. Gerade mit den beiden zuletzt genannten Aspekten erweitert die Perspektive der Genozidforschung die bisherigen historischen Analysen über Gewaltprozesse um ein komplexes Analysefeld. Es sind die sozialpsychologischen Aspekte der Intention der Täter, ferner die Verwicklung des Einzelnen in die Gewaltpolitik, die Rückbindung der Gewaltpolitik an verbindliches Wissen und gültige Diskurse, sowie die verursachten Nachfolgen, die - in Einzelaspekten - sowohl für die Einzelfallforschung, als auch für komparative Analysen zugänglich gemacht werden.

4.

Im Zeitalter der immer noch von kollektiver Gewalt gezeichneten globalisierten Weltgesellschaft, die allerdings weitgehend (national)staatlich verfasst und deren Ringen um regionale Stabilität weiterhin am Gedanken homogener Staatlichkeit orientiert ist, sind wir dabei besonders davon herausgefordert, dass wir zwar von einer historischen Verpflichtung an ein »Nie wieder« gesprochen haben, doch zugleich keine Regungen erkennen lassen, den Genozid in Darfur als Problem wahrzunehmen. Zu leicht willigen wir ein in eine allgemeine Rede über Weltrisiken, Konfliktrisiken, Politikrisiken, Gewaltrisiken, Umweltrisiken; zu leicht akzeptieren wir auch heute noch, unter dem hohen Ziel regionaler Stabilität und der Verlässlichkeit politischer Ansprechpartner und Absprachen, homogenisierende, ja gewaltvoll homogenisierende Staatenbildungen. Es ist daher auch eine Forschungsaufgabe der strukturvergleichenden Genozidforschung, die aktuelle Konzentration auf eher enthistorisierte Konfliktbetrachtungen zu prüfen und die Problematik einer Fokussierung von Dynamiken der Gewalt selbst zu erörtern und darauf aufmerksam zu machen, eben nicht nur das Risikopotential zu analysieren, das letztlich die Opfergruppen als Minderheiten womöglich in sich tragen, sondern die Motivationen der Täter wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Nicht zuletzt macht die Genozidforschung somit auch auf Fehlstellen in öffentlichen und politischen Diskursen aufmerksam.

Ihr hier nur kurz skizziertes Forschungsfeld ist ebenso transdisziplinär wie spezifisch. Es wirft aber auch sehr grundsätzliche Fragen für die Grundlagenforschung der einzelnen Disziplinen auf, um sich dem komplexen Geflecht von Wissen, Diskurs und politischem Handeln anzunähern, die Ursachen kollektiver und staatlicher Gewalt nicht zu schnell in zwangsläufigen Kausalzusammenhängen von Ethnizität und Konflikt, Ausgrenzung und Gewalt zu typisieren, sondern auch Absichten und Strategien zu berücksichtigen - und damit auch zu sehen, dass wir uns mit den Wissensgrundlagen moderner Gesellschaften beschäftigen müssen. Nicht zuletzt - und dies ist eine besonders schwer zu akzeptierende Herausforderung - weist die Genozidforschung darauf hin, dass viele der Wissensgrundlagen in den Legitimationen von Genozid auch heute noch gültig sind. Die Aktualität der Genozidforschung ist darin begründet, dass es auch heute noch möglich ist, Völkermord zu denken.

Anmerkungen

1) Vgl. zu den folgenden definitorischen Eingrenzungen ausf.: Dabag, Mihran (2005): Modern Societies and Collective Violence: The Framework of Interdisciplinary Genocide Studies, in: Graham C. Kinloch/Raj P. Mohan (Hrsg.): Genocide: Approaches, Case Studies and Responses. New York, S.37-62, hier S.41ff. Dort finden sich auch weitere, sicherlich notwendige definitorische Eingrenzungen, etwa gegenüber Krieg und Bürgerkrieg.

2) Geprägt wurde der Neologismus »Genozid« von dem Völkerrechtler Raphael Lemkin in seinem 1944 veröffentlichten Bericht Axis Rule in Occupied Europe (Washington D.C. 1944) über die nationalsozialistische Besatzungspolitik im Osten Europas. Lemkin war dann auch zentral an der Formulierung der »Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord« beteiligt, die am 9. Dezember 1948 verabschiedet wurde. In der Konvention wird »Genozid« explizit als strafrechtlicher Tatbestand definiert, nämlich als eine Handlung, »die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.«

3) Vgl. etwa Sémelin, Jacques (2007): Säubern und Vernichten. Die politische Dimension von Massakern und Völkermorden, Hamburg.

Prof. Dr. Mihran Dabag ist Leiter des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2008/2 Migration und Flucht, Seite