W&F 2002/4

Kommt der Rechtsstaat unter die Räder?

von Margret Johannsen

Die Mehrheit der israelischen Bevölkerung will Frieden und sie spricht sich für eine Zweistaatenlösung aus. Daran kann man die Hoffnung knüpfen, dass der Krieg, der seit Ausbruch der Intifada vor fast zwei Jahren mehr als 2.000 Menschen das Leben gekostet hat, irgendwann ein Ende haben wird. Irgendwann, denn Voraussetzung dafür ist sicher die Ablösung der Regierung Sharon. Doch danach sieht es im Moment nicht aus: Betäubt von den Terroranschlägen in ihren Städten sieht gleichfalls eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung keine Alternative zur Gewaltstrategie Ariel Sharons.
Auf den Zusammenhang von Besatzung und Terror macht der israelische Friedensblock Gush Shalom1 mit dem Slogan „Die Besatzung tötet uns alle“ aufmerksam. Doch das Argument überfordert den Bürger, der Angst hat Bus zu fahren, einzukaufen oder Essen zu gehen und um das Leben der eigenen Kinder fürchtet, wenn sie nicht zur verabredeten Zeit nach Hause kommen. Die Bomben töten nicht nur »wahllos«, wie amnesty international jüngst kritisch vermerkte,2 sie vermitteln auch dem »Mann auf der Straße« die Botschaft, dass es den Palästinensern um die Zerstörung Israels geht.3 Und da ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zu der Forderung, für das eigene Überleben den Aufstand der Palästinenser mit allen Mitteln niederzuschlagen.

Mit allen Mitteln? Israel ist keine Militärdiktatur, sondern eine Demokratie mit Gewaltenteilung, politischer Kontrolle des Militärs, einer unabhängigen Justiz und einer freien Presse, die Verstöße gegen rechtsstaatliche Normen kritisieren und auf Abhilfe dringen kann. Nicht nur solche Verstöße, die den Bürger des Staates Israel in seinen Rechten verletzen. Auch die Bevölkerung der besetzten Gebiete kann sich auf diese Normen berufen und hoffen, dass Verstöße bemerkt und geahndet werden. Nur: Dazu braucht sie eine Lobby und eine kritische Öffentlichkeit in Israel.

Doch damit steht es nicht zum Besten: Viele Israelis sind offensichtlich nicht bereit sich für die Rechte von Palästinensern einzusetzen, wenn sich unter ihnen immer wieder welche finden, die als lebende Bomben Tod und Zerstörung nach Israel tragen. Das ist kein Spezifikum Israels und würde mit Sicherheit in anderen Teilen der Welt genauso sein. In Zeiten des Krieges geraten Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unter die Räder, wenn sich nicht kritische Minderheiten ihrer annehmen. Sie sind der Sand im Getriebe eines kriegführenden Staates, dessen Führer von militärischen Lösungen besessen sind. Folgende Beispiele mögen dies verdeutlichen:

Folter für Informationen

Am 6. September 1999 erklärte das Oberste Gerichts Israels die gängige und von der israelischen Justiz bis dahin gebilligte Praxis der Geheimpolizei Shin Beth, palästinensischen Häftlingen mit »physischem Druck« Informationen abzupressen, für illegal.4 Bereits wenige Jahre nach der Besetzung der West Bank und des Gazastreifens waren Berichte über Misshandlungen von Palästinensern in israelischen Gefängnissen an die Öffentlichkeit gelangt. Im Oktober 1987 wurde der Versuch unternommen, durch ein präzise festgelegtes Antrags- und Bewilligungsverfahren klare Grenzen zwischen verbotenen und erlaubten Verhörmethoden zu ziehen. Vergeblich, wie sich zeigen sollte. Seit dem Ausbruch der ersten Intifada im Dezember 1987 stieg die Zahl der bekanntgewordenen Fälle steil an. Nach offiziellen Schätzungen verhörte der Shin Beth während der Intifada rund 30.000 Palästinenser. Tausende von ihnen wurden mit Methoden traktiert, die Folter (im Sinne von Artikel 1) oder andere grausame, unmenschliche oder entwürdigende Behandlung (gemäß Artikel 16 der Anti-Folter-Konvention) darstellen. Israel begründete diese Praxis mit der besonderen Sicherheitslage des Staates, der sich gegen Gewalt und Terror zur Wehr setzen müsse.

Die jahrelange Kampagne von Menschenrechtsorganisationen und die Empfehlungen des UN-Komitees gegen Folter sowie des UN-Menschenrechtsausschusses, diese Praxis einzustellen, hatten schließlich Erfolg. Als es noch einen Friedensprozess gab, konnten die obersten Richter Israels nicht auf Dauer die Kritik im In- und Ausland, die der jüdischen Diaspora eingeschlossen, an der Verhörpraxis des Geheimdienstes und der damit verbundenen Rechtsbeugung ignorieren.

Allerdings enthält das Urteil von 1999 Schlupflöcher. Die Richter gründeten es nämlich auf die Feststellung, dass die Rechtsgrundlage für die Anwendung der inkriminierten Vernehmungsmethoden fehlte. Nötigenfalls könne auf dem Wege der Gesetzgebung die Anwendung »physischen Drucks« autorisiert werden. Seit dem Urteil streiten sich in Regierung und Parlament die Befürworter und die Gegner eines solchen Gesetzes, das die Anwendung »besonderer Methoden« seitens des Shin Beth legalisieren würde. Es würde allerdings seine Schranken in dem israelischen »Grundgesetz über Menschenwürde und Freiheit«5 finden müssen, mit dem der Einsatz von Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung in Verhören nicht vereinbar wäre. Doch wo liegt die Grenze? Wer definiert sie im Einzelfall? Dass Grauzonen die Tendenz haben sich auszudehnen zeigte sich schon vor Ausbruch der zweiten Intifada. Die Vertreter des Staates Israel haben vor den UN-Gremien stets bestritten, dass die angewandten Verhörmethoden die in der Anti-Folter-Konvention verbotenen Tatbestände darstellten. Umso zweifelhafter wäre eine legislativ begründete Legalisierung von Misshandlungen im Zeichen des »Krieges gegen den Terror«.

Seit Ausbruch der zweiten Intifada im September 2000 wächst der Druck des Shin Beth auf Regierung, Parlament und Gericht. Die Geheimpolizei argumentiert, unter der Drohung einer Strafverfolgung könnten die Beamten ihre Aufgabe, Terrorattentate zu verhindern, nicht effizient wahrnehmen. Noch ist der Streit nicht entschieden. Die alte Praxis lebt wieder auf, mit gerichtlicher Billigung. Aber es scheinen Einzelfälle zu sein.6 Schließlich gibt es auch andere Methoden, an Informationen zu gelangen: Die Geheimpolizei macht systematisch von Informanten Gebrauch, die sie zumeist unter den palästinensischen Insassen israelischer Gerichte rekrutiert. Rund 6.000 der Planung oder Ausführung von Gewaltakten Verdächtigter, von Israel pauschal als »verdächtige Terroristen« bezeichnet, wurden im Laufe der zweiten Intifada festgenommen. Es ist zumeist die nackte wirtschaftliche Not, die Palästinenser dazu treibt, aktive Kämpfer zu verraten und damit das Risiko einzugehen, von den militanten Gruppen als Kollaborateure getötet zu werden.7 Die Folgen – ausufernde Lynchjustiz in den Palästinensergebieten – hat die palästinensische Zivilgesellschaft und nicht das israelische Rechtssystem zu tragen.

Deportationen zur Abschreckung von Terror

Heute, nach zwei Jahren Intifada, steht Israels Oberstes Gericht unter enormem Druck von zwei Seiten: Aus den Reihen des Militärs und der Regierung wird Kritik laut, die Richter seien lediglich um den Ruf Israels im Ausland besorgt und gefährdeten das Leben israelischer Bürger. Menschenrechtsorganisationen kritisieren, die Richter wichen vor der militanten öffentlichen Mehrheitsmeinung in Israel zurück, nach der die Verletzung elementarer Menschenrechte der Palästinenser angesichts der Sicherheitslage Israels eine lässliche Sünde ist.

Dass die Rechtsprechung den gesellschaftlichen Konsens nicht schlichtweg ignorieren will, zeigte sich bereits 1993, als das Oberste Gericht die Deportation von 415 Aktivisten der Hamas und des Islamischen Jihad in den (damals von Israel besetzten) Südlibanon für rechtens erklärte. Es hagelte juristische Kritik im In- und Ausland. Doch 91% der jüdischen Bevölkerung Israels billigten damals die Entscheidung, und das Oberste Gericht sah sich offenkundig außerstande, der geballten Front einer entschlossenen Regierung in Verbindung mit einer eindeutigen öffentlichen Meinung zu widerstehen. Aharon Barak, Vorsitzender des Obersten Gerichts, steht dazu. Seiner Ansicht nach muss das Gericht dem sozialen Konsens im Lande Rechnung tragen und sollte in Fällen, wo Menschenrechte und Sicherheitserfordernisse in Konflikt geraten, nach Lösungen suchen, die diesem Konsens nicht zuwiderlaufen.8 Dahinter steht die Auffassung, dass die Gerichte eines demokratischen Staates des Vertrauens seiner Bürger bedürfen. Aber was bedeutet dieser Grundsatz, wenn Krieg herrscht und die Rechte der »Feinde« auf dem Spiel stehen?Für das israelische Verteidigungsestablishment sind die palästinensischen Selbstmordanschläge die größte strategische Bedrohung, der sich Israel gegenwärtig gegenüber sieht. Seit Wochen erörtern Armee, Polizei und Geheimdienste neue Strategien gegen den Terror, der trotz der Wiederbesetzung der palästinensischen Städte weiter geht. Aus den Brainstorming Sessions ging unter anderem der Vorschlag hervor, die Familien von Selbstmordattentätern aus der West Bank in den Gazastreifen zu deportieren. Das Militär bezeichnet kollektive Deportationen, wie auch die Zerstörung von Häusern der Familien von Selbstmordattentätern, als Waffe im Krieg um das Bewusstsein der palästinensischen Gesellschaft. Ziel sei es, die Heroisierung der Täter und die Akzeptanz des Terrors langfristig zu unterminieren und potenzielle Terroristen abzuschrecken.9Nach Bekanntgabe der Deportationspläne hatten sich die Reaktionen begeisterter Israelis förmlich überschlagen. Doch am 19. Juli 2002 durchkreuzte der israelische Generalstaatsanwalt Elyakim Rubinstein die Pläne der Sicherheitskräfte. Er entschied, dass die Deportation der Familienangehörigen von Terroristen nur dann rechtens sei, wenn ihnen direkte Verbindungen zu Terrororganisationen nachgewiesen würden.10

Gemäß der Vierten Genfer Konvention (1949)11 sind Deportationen, als Kollektivstrafe verhängt, verboten. Sie verstoßen gegen den Rechtsgrundsatz, dass niemand für Handlungen anderer bestraft werden darf. Was aber, wenn Deportationen keine Strafe darstellen, sondern zur Abschreckung dienen? Bereits 1996 urteilte der Oberste Gerichtshof, dass Sanktionen gegen die Familien von Terroristen rechtmäßig seien, wenn sie dazu bestimmt seien, Terroristen abzuschrecken. Solange dabei mit „Zurückhaltung und Vernunft“ vorgegangen werde, habe das Gericht aufgrund der in den besetzten Gebieten geltenden Notstandsverordnungen keine Möglichkeit, in das Ermessen des Militärs einzugreifen.12 So wurden die Häuserzerstörungen in den Palästinensergebieten legalisiert. Das Militär glaubt, dass diese Maßnahme die Rekrutierung von Selbstmordattentätern erschwert, die zwar nicht an ihrem Leben, wohl aber an ihren Familien hingen, die unter den Vergeltungsmaßnahmen zu leiden hätten.

Werden die geplanten Deportationen der gleichen Logik folgen? Am 3. September 2002 befasste sich das Oberste Gericht mit der Frage, ob die Deportation der Familienangehörigen von verdächtigten Terroristen rechtens sei. Unter anderem war zu klären, ob die Armee überhaupt berechtigt sei, sich auf die Notstandsverordnungen zu berufen, um Deportationen anzuordnen. Schließlich sind die Besatzer gemäß den Oslo-Verträgen aus den palästinensischen Städten und Dörfern abgezogen und haben damit die sogenannte »kriegerische Besetzung« von 1967 beendet. Würde das Gericht entscheiden, dass die Wiederbesetzung dieser Gebiete eine erneute »kriegerische Besetzung« darstellt und damit eine rechtliche Grundlage für die Anwendung der Notstandsverordnungen gegeben ist, so bliebe immer noch die Frage zu beantworten, ob die geplanten Maßnahmen »vernünftig und verhältnismäßig« sind. Das Militär versuchte darum den doppelten Nachweis zu führen, dass erstens die Familienangehörigen Helfershelfer der mutmaßlichen Täter gewesen seien und dass zweitens die Deportationen auf potenzielle Terroristen abschreckend wirkten.13 Mit Erfolg: Die Armee erhielt grünes Licht für zwei der drei vorerst geplanten Deportationen.14 Aber man fand ein anderes Wort für die Sache: Den Betroffenen wurde ein „Wohnort zugewiesen“ – was die Vierte Genfer Konvention nicht verbietet.

Doch auch nach dieser Gerichtsentscheidung wird es kaum zu Massendeportationen kommen. Zur Umsiedlung oder Vertreibung soll die Maßnahme ohnehin nicht dienen. Und wenn sich herausstellen sollte, dass der Gazastreifen Deportierte wie Helden empfängt, wird das Militär von sich aus darauf verzichten. Nicht das Völkerrecht, sondern Sicherheitsgründe dürften hierbei ausschlaggebend sein.

Extralegale Hinrichtungen

„Jedes Opfer ist eine Tragödie“, erklärte Ariel Sharon in der Sendung »Achtung Friedman«, die der Hessische Rundfunk in der ARD am 24. Juli 2002 ausstrahlte. Gutes oder schlechtes Timing? Am Vortag hatte eine 1.000-Kilo-Bombe ein dreistöckiges Wohnhaus in Gaza-Stadt in Schutt und Asche gelegt und weitere Häuser in der Umgebung zerstört.15 Der Angriff galt Salah Shehada, dem Gründer und Kommandanten des militärischen Hamas-Flügels Azal-Din al-Kassam. Weitere 16 Menschen starben, darunter elf Kinder.

Das Ausland zeigte sich schockiert. Weltweit wurde die Attacke, vorgetragen mit einem F-16-Kampfflugzeug gegen ein dichtbesiedeltes Wohnviertel, als inakzeptabel und schädlich bezeichnet. Arabische Stimmen sprachen zudem von einem gezielten Sabotageakt gegen eine bevorstehende Selbstverpflichtung der größten palästinensischen Milizen, die Angriffe gegen israelische Zivilisten einzustellen, um den Rückzug der israelischen Armee aus den palästinensischen Städten zu ermöglichen.

Der israelische Premier feierte die Aktion in einem ersten Statement als einen der größten Erfolge Israels im Kampf gegen den palästinensischen Terror. Später erklärte er, er hätte den Befehl zum Angriff nicht gegeben, wenn er gewusst hätte, dass sich in Shehadas Nähe Zivilisten aufhielten. Die interne Debatte in Israel konzentrierte sich auf die Fehlleistungen des Nachrichten- und des Geheimdienstes, die den Entscheidungsträgern offenbar falsche Informationen über die Lage vor Ort vorgelegt hatten.

Es waren die »Kollateralschäden«, die im In- und Ausland die Wellen hochschlagen ließen. Gewiss, schon vorher waren immer wieder auch Zivilisten gestorben, wenn israelische Kommandos führende Köpfe militanter Oppositionsgruppen exekutierten. 78 so genannte präventive Liquidierungen zählt die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem seit Ausbruch der zweiten Intifada; dabei starben 30 Unbeteiligte.16 Die Verantwortlichen versicherten immer, dass sie stets größte Sorgfalt walten ließen, damit Unbeteiligte verschont blieben. Am 23. Juli aber waren militärische Gesichtspunkte anscheinend wichtiger. Geht es Sharon, dem »Krieger« (so der Titel seiner Autobiographie), nur noch um den Sieg?

Kaum jemand, weder in Israel noch im Ausland, äußerte sich kritisch über das eigentliche Ziel, die Hinrichtung eines Terroristen ohne Gerichtsverfahren. Die Regierung sagt, es gehe um Selbstverteidigung, Menschenrechtler nennen die Aktionen der israelischen Todeskommandos Mord.

Vor dem Obersten Gericht ist eine Klage gegen die Politik der Liquidierungen anhängig. Doch Zweifel sind angebracht, ob die Richter dieser Praxis ein Ende machen.

Menschenrechtler im Kreuzfeuer

Wieviele tote Unbeteiligte bei Militäraktionen in Kauf zu nehmen sind wenn es darum geht, Terror zu verhindern, kann der Oberkommandierende der Luftwaffe, Generalmajor Dan Halutz, nicht sagen. Doch dass die Liquidierung des Hamas-Führers die 16 zivilen Opfer der 1.000-Kilo-Bombeauf Gazastadt rechtfertige, steht für ihn außer Frage.17 In seinem ersten Interview nach der umstrittenen Bombardierung vom 23. Juli 2002 bezeichnete er den Entscheidungsprozess als korrekt, ausgewogen und umsichtig. Ein Problem habe es allerdings mit der Information gegeben.

Dieses Interview veranlasste Gush Shalom dazu, eine umgehende Untersuchung des Vorgangs und der Rolle des Beteiligten – des Oberkommandierenden der Luftwaffe, des Kommandeurs der Fliegerstaffel und des Piloten – zu fordern. Der Befehl, eine 1.000-Kilo-Bombe auf ein Haus in einer dichtbesiedelten Wohngegend zu werfen, sei offenkundig illegal und die ausführenden Offiziere seien verpflichtet gewesen, ihn zu verweigern.18 Die Rechtfertigung der Operation durch den Oberkommandierenden der Luftwaffe, so die Friedensaktivisten, lasse künftig ähnliche Operationen erwarten, es sei also Gefahr im Verzug.

Gush Shalom setzte mit der Forderung einer sofortigen Untersuchung seine offensive Kritik an der israelischen Kriegführung fort. Der zentrale Vorwurf der Menschenrechtsorganisation lautet: Die israelischen Streitkräfte begehen im Krieg gegen die Intifada Kriegsverbrechen. Und Gush Shalom ging weiter: Der Friedensblock stellte die Fähigkeit des Staates in Frage, aus eigener Kraft dafür zu sorgen, dass die Streitkräfte in ihrem Krieg gegen die Palästinenser die Normen des Kriegsvölkerrechts einhalten. Nachdem eine zu Beginn des Jahres von Gush Shalom organisierte Konferenz in Tel Aviv über Kriegsverbrechen von den Massenmedien mehr oder weniger totgeschwiegen worden war, wandten sich die Menschenrechtsaktivisten direkt an die Soldaten und Offiziere. Sie verteilten an die Soldaten Materialien über die Verbotstatbestände gemäß den Genfer Konventionen – Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren, Erschießung unbewaffneter Zivilisten, Folter, Verweigerung medizinischer Behandlung, Töten Verwundeter, Aushungern, Deportationen – und riefen die Soldaten dazu auf, die Ausführung offenkundig widerrechtlicher Befehle zu verweigern sowie Kriegsverbrechen, deren Zeuge sie wurden, anzuzeigen, um sich davor zu schützen, im Ausland bzw. vor einem internationalen Gericht wegen Kriegsverbrechen angeklagt zu werden. 15 Kommandeure erhielten zudem Briefe mit der Warnung, dass die von ihnen zu verantwortenden Operationen zu einer Anklage vor einem israelischen oder internationalen Gericht führen können. Die Organisation fügte hinzu: Sie werde das von ihr gesammelte Belastungsmaterial den Gerichten – den israelischen oder notfalls auch dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag – zur Verfügung stellen.19

Die Aktion zeigte Wirkung und löste einen Sturm der Entrüstung aus. Bei seinem Besuch einer Luftwaffenbasis am 13. August 2002 erfuhr der Ministerpräsident, die Offiziere seien »besorgt«; sie fürchteten, künftig nicht mehr sorglos ins Ausland reisen zu können, weil sie dort – ähnlich wie der Ministerpräsident (der in Belgien mit einem Prozess wegen Kriegsverbrechen, begangen 1982 in Libanon, zu rechnen hat) – mit Strafverfolgung rechnen müssten. Gush Shalom-Aktivisten wurden mit Beschimpfungen und Drohungen überschüttet und als „Verräter“, „Informanten“, „Capos“, „Judenrat“ und dergleichen mehr bezeichnet. Der Ministerpräsident empörte sich darüber, dass „diese Leute unsere Soldaten dem Feind ausliefern“ wollten, und forderte die Einleitung eines Strafverfahrens gegen Gush Shalom. Justizminister Melir Shitret sprach von „Fünfter Kolonne“ und „Hochverrat“; sollte der Generalstaatsanwalt in den israelischen Gesetzen keine rechtliche Basis für ein Strafverfahren finden, so müsse ein Gesetz her, das dem Treiben der Friedensaktivisten ein Ende mache.

Selbst die liberale Presse in Israel tut sich schwer mit diesem Fall.20 In ihrem Editorial vom 6. August 2002 wertete die Tageszeitung Ha’aretz die Ankündigung Gush Shaloms, nötigenfalls mit dem Internationalen Gerichtshof zusammen zu arbeiten, als „Misstrauensvotum gegenüber den Institutionen und der öffentlichen Meinung Israels“. Ha’aretz Korrespondent Gideon Levy, einer der couragiertesten Kritiker der Besatzung und des Krieges gegen die Palästinenser, machte dagegen geltend, dass das im Ha’aretz-Editorial inkriminierte Misstrauen gegenüber den Institutionen des Staates nicht grundlos sei. Er stellte fest, das die Soldaten in den besetzten Gebieten inzwischen vermummt operierten, dass die Streitkräfte – anders als während der ersten Intifada – Todesfälle kaum mehr untersuchten und dass das Oberste Gericht in Fragen der Sicherheit mehr oder weniger verstummt sei. Die Obersten Richter hätten es z.B. bisher abgelehnt, sich mit der Praxis der sogenannten präventiven Liquidierungen zu befassen, mit der Begründung, die Regeln des Kriegsrechts seien hierauf nicht anwendbar. In einer Situation, in der die Legislative, das Oberste Gericht, der Generalstaatsanwalt und die herrschende öffentliche Meinung die Augen davor verschließen, was Israel anderen und sich selbst in diesem Krieg zufüge, sei es, so Levy, im Interesse eines besseren Israel legitim, als letztes Mittel Abhilfe von Außen zu suchen.Gideon Levy ist einer derjenigen, die den Sand im Getriebe bilden, ohne den der israelische Rechtsstaat im Krieg unter die Räder kommt. Am 11. August 2002 war er unterwegs in der West Bank, um die Umstände des Todes eines palästinensischen Bauern zu recherchieren, dem ein Koordinationsfehler der Armee zum Verhängnis geworden waren. In Tulkarem feuerte ein Soldat der dort stationierten Fallschirmjägerbrigade fünf oder sechs Schüsse auf Levys Taxi ab.21 Wieder, so die Armee, ein Koordinationsfehler.. Eine Kugel traf den Motor, eine andere die Wagenseite, zwei oder drei Kugeln die Windschutzscheibe. Die Insassen – der Journalist, ein Photograph, ein Repräsentant der Organisation »Ärzte für Menschenrechte« und der palästinensische Fahrer – hatten Glück. Die Windschutzscheibe war aus Panzerglas.

Anmerkungen

1) Zum Profil von Gush Shalom vgl. Maren Qualmann: Die israelische Friedensbewegung und die Al Aqsa-Intifada, in: Bruno Schoch et al.: Friedensgutachten 2002, Münster 2002, S. 226-234.

2) Vgl. amnesty international, Israel and the Occupied Territories and the Palestinian Authority. Without distinction – attacks on civilians by Palestinian armed groups, July 2002: http:// web.amnesty.org/ai.nsf/Index/MDE020032002.

3) Vgl. Israel Gilead: The Dilemma of Israel’s High Court of Justice: The Battle for Human Rights in Times of War, in: Jurist, http://jurist.law.pitt.edu/world/Israelhcj.php.

4) Vgl. Avishai Ehrlich/Margret Johannsen: Folter im Dienste derSicherheit?, in: Jana Hasse et al. (Hg.): Menschenrechte, Baden-Baden 2002, S. 332-359.

5) Israel besitzt keine Verfassung. Statt dessen gibt es eine Reihe so genannter „Grundgesetze“, in denen Grundsätze von Verfassungsrang niedergelegt sind.

6) Vgl. Amos Harel, Shin Bet tested by legal restraints and a growing caseload, in: Ha’aretz, 25.7.2002.

7) Vgl. Palästinenserin auf offener Straße exekutiert, Neue Zürcher Zeitung, 28.8.2002.

8) Vgl. Ze’ev Segal: Stop, High Court ahead, Ha’aretz, 26.8.2002.

9) Vgl. Amos Harel, Analysis / No easy answer to stopping the attacks, in: Ha’aretz, 21.7.2002.

10) Vgl. Moshe Reinfeld/Baruch Kra/Amos Harel, Cmte. Begins open debate on expelling militants’ families, in: Ha’aretz, 4.8.2002.

11) Die Genfer Konventionen wurden von Israel zwar 1951 ohne Vorbehalt unterzeichnet, nicht aber ausdrücklich in innerstaatliches Recht übernommen. Ihre humanitären Bestimmungen sind vor israelischen Gerichten darum nicht justiziabel. Die israelische Regierung bestreitet ihre Anwendbarkeit auf die besetzten Gebiete, weil diese genau genommen von Israel nicht besetzt seien, sondern verwaltet würden. Die herrschende Meinung im Völkerrecht teilt diese Auffassung nicht. Vgl. Ludwig Watzal: Der Nahostkonflikt als Problem des Völkerrechts, in: Jana Hasse et al. (Hg.): Menschenrechte, Baden-Baden 2002, S. 179-196.

12) Vgl. Ze’ev Segal, Analysis / The legality of demolition, in: Ha’aretz, 21.7.2002.

13) Vgl. Moshe Reinfeld: High Court hears sides in deportation; told deterrents work, Ha’aretz 27.8.2002.

14) Vgl. Moshe Reinfeld/Gideon Alon: Court okays ‚relocating‘ two to Gaza, Ha’aretz 4.9.2002.

15) Vgl. Amos Harel, Analysis / From a ‘pinpoint’ operation to massive caualties, in: Ha’aretz, 24.7.2002.

16) Vgl. die Statistik der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem: www.btselem.org

17) Vgl. Vered Levy-Barzalai: IAF chief strongly defends Shehadeh bombing mission, in: Ha’aretz, 21.8.2002.

18) Vgl. Moshe Reinfeld: Gush Shalom demands probe of Shehadeh bombing, in: Ha’aretz, 22.8.2002.

19) Vgl. Israels Friedensbewegung ist wieder da, in: Neue Zürcher Zeitung, 18.8.2002. Einzelheiten über die Aktion und die Reaktionen in den Medien und in der Politik sind den Informationen entnommen, die Gush Shalom über seinen E-mail-Verteiler publiziert.

20) Vgl. Amos Harel: Peace group warns IDF officers: We have evidence of war crimes, in: Ha’aretz 4.8.2002; Amos Harel/Gideon Alon: Sharon tells AG to probe Gush Shalom over Hague threats, in: Ha’aretz 4.8.2002; The blindness of political purity (Editorial), in: Ha’aretz, 6.8.2002; Gideon Levy: The last recourse, in: Ha’aretz, 11.8.2002.

21) Vgl. Gideon Levy, Nothing happened, in: Ha’aretz, 17.8.2002.

Dr. Margret Johannsen ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2002/4 Israel – kein Friede in Sicht, Seite