W&F 2007/2

Konfliktverhütung durch Krieg?

Verfassungsfragen an das neue Bundeswehr-Weißbuch

von Martin Kutscha

Anders als der Entwurf vom April d.v.J. fand das im Oktober von der Bundesregierung vorgelegte »Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr«1 in der breiteren Medienöffentlichkeit nur mäßige Aufmerksamkeit. Die eine oder andere Entschärfung des Entwurfs im Zuge der Ressortabstimmung hatte jedoch vor allem kosmetischen Charakter; an der »ganzen Richtung« hat sich nichts geändert. Die bleibt nicht zuletzt mit gravierenden verfassungsrechtlichen Problemen behaftet.

Häufig wird die Kurzatmigkeit der Politik beklagt. Statt langfristige Gestaltungskonzepte zu verfolgen, sind die meisten Politiker vor allem damit beschäftigt, durch Agenda-Setting und geschickte Selbstdarstellung ihre Erfolgsaussichten bei der nächsten Wahl zu optimieren. Angesichts einer solchen von kurzfristigen Effekten lebenden Praxis ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass in einem umfangreichen Grundsatzpapier Zukunftslinien für die deutsche Sicherheitspolitik entwickelt werden. Das neue Weißbuch hat dennoch viele Erwartungen enttäuscht: Auf brennende Gegenwartsfragen rund um die Verwendungen der Bundeswehr gibt es keine eindeutige Antwort, sondern verbleibt im Nebulösen.2 Ausgangspunkt der Darstellung sind auch nicht etwa die präzisen Vorgaben unserer Verfassung für Einsätze der deutschen Streitkräfte als Teil der vollziehenden Gewalt des Bundes, sondern vage definierte „Werte, Interessen und Ziele deutscher Sicherheitspolitik“, zu denen u. a. der „freie und ungehinderte Welthandel als Grundlage unseres Wohlstands“ gerechnet wird (S.28). Angesichts solcher Blindstellen im neuen Weißbuch, aber auch angesichts einer verbreiteten Gewöhnung an Einsätze der Bundeswehr rund um die Welt erscheint es umso notwendiger, an die Inhalte und Hintergründe der einschlägigen Aussagen des Grundgesetzes zu erinnern.

Abschied von der Friedensstaatlichkeit?

Nicht nur im ersten, feierlich-pathetisch klingenden Satz des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ spiegelt sich die entschiedene Absage an die Praktiken des überwundenen Naziregimes. Darüber hinaus wird ein – eigentlich – unmissverständliches Verdikt gegen Krieg und Gewaltanwendung gegenüber anderen Völkern ausgesprochen: Art. 26 Abs. 1 verbietet jegliche Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker und erklärt schon die Vorbereitung eines Angriffskrieges für verfassungswidrig.3 Es muss erstaunen, dass eine so grundlegende Verfassungsnorm nirgendwo im neuen Weißbuch erwähnt, geschweige denn abgedruckt wird, selbst nicht im Abschnitt 3.3 „Verfassungsrechtliche Vorgaben“. Eine makabre Erklärung hierfür wäre, dass seitens der Verfasser des Weißbuchs die Auffassung vertreten wird, diese Verfassungsnorm inkriminiere nur die Vorbereitung des Angriffskrieges, nicht aber den Angriffskrieg selbst. In der Tat wird der den Art. 26 GG ausfüllende Straftatbestand des § 80 StGB vom Generalbundesanwalt ganz in diesem Sinne verstanden: In seinem Antwortschreiben vom 26. Januar 2006 auf die Strafanzeige einer Friedensorganisation gegen den früheren Bundeskanzler Schröder u. a. wegen der Tätigkeit deutscher Agenten im Irak behauptete der Generalbundesanwalt, nach diesem Tatbestand sei nur die Vorbereitung eines Angriffskriegs, nicht aber der Angriffskrieg selbst strafbar.4 Nun nennt § 80 StGB tatsächlich nicht das Führen des Angriffskrieges selbst, und Analogieschlüsse sind im Strafrecht wegen der strikten Geltung der Regel »nulla poena sine lege« untersagt5. Aber in diesem Fall ist völlig eindeutig, dass auch das Führen des Angriffskrieges selbst vom verfassungsrechtlichen Verdikt und von der Strafbarkeit umfasst sein sollte. In der Begründung des zuständigen Bundestagsausschusses für diese Strafbestimmung heißt es: „§ 80 umfasst nicht nur, wie der Wortlaut etwa annehmen lassen könnte, den Fall der Vorbereitung eines Angriffskrieges, sondern erst recht den der Auslösung eines solchen Krieges.“6

Als weitere in diesem Zusammenhang bedeutsame Verfassungsnorm ist Art. 25 GG zu nennen, der den „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ Vorrang vor den Gesetzen der Bundesrepublik verleiht. Zu diesen „allgemeinen Regeln“ gehört nach einhelliger Meinung auch das in Art. 2 Ziffer 4 der UNO-Satzung verankerte Gewaltverbot.7 Damit im Einklang beschränkt Art. 87 a GG den Handlungsrahmen der deutschen Streitkräfte auf die Verteidigung sowie auf Einsätze aufgrund besonderer Zulassung durch das Grundgesetz selbst.8 Was der Verfassungsbegriff der Verteidigung bedeutet, ist in der Rechtswissenschaft allerdings umstritten: Aus entstehungsgeschichtlicher Sicht spricht vieles für die Auffassung, dass sich dieser Begriff auf den in Art. 115 a GG definierten »Verteidigungsfall« bezieht, mithin einen Angriff auf das Bundesgebiet mit Waffengewalt zur Voraussetzung hat.9 Dem gegenüber gehen andere Autoren von einem völkerrechtlichen Verteidigungsbegriff aus, der auch z. B. militärische Hilfeleistungen bei einem Angriff auf Bündnispartner im Rahmen des NATO-Vertrages umfasst.10 Ein Einsatz der Bundeswehr „zur Verfolgung, Durchsetzung und Sicherung ökonomischer oder politischer Interessen“ wäre dagegen nicht vom Verteidigungsbegriff gedeckt, wie das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 21. Juni 2005 richtig feststellte.11

Zwar heißt es im neuen Weißbuch: „Die Verteidigung Deutschlands gegen eine militärische Bedrohung von außen ist und bleibt die verfassungsrechtliche Kernfunktion der Bundeswehr“ (S.75). Wenige Seiten später lesen wir dann aber: „Die herkömmliche Landesverteidigung gegen einen konventionellen Angriff als strukturbestimmende Aufgabe der Bundeswehr entspricht nicht länger den aktuellen sicherheitspolitischen Erfordernissen“ (S.93). Danach ist es nur konsequent, wenn bei der Aufzählung der Aufgaben der Bundeswehr an erster Stelle nicht etwa die Verteidigung, sondern „internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus“ genannt wird (S.13 und 72). Unter den Begriff der Verteidigung, wie ihn Art. 87 a GG verwendet, lässt sich diese Aufgabe jedenfalls kaum subsumieren.

Sicherlich gehört es zu den Zielen einer verantwortungsbewussten Außenpolitik, zur Lösung von international sich auswirkenden Konflikten beizutragen und dabei auch deren Ursachen in den Blick zu nehmen. Zu fragen bleibt aber, warum denn gerade eine Kampftruppe das optimale Instrument sein soll, um auf die sozialen, ethnischen bzw. politischen Wurzeln solcher Konflikte in anderen Ländern einzuwirken. Zivile Instrumentarien wie z. B. sozial orientierte Hilfsprogramme dürften hierbei weitaus erfolgsversprechender sein. Entgegen dem von Regierung und manchen Medien gepflegten Image ist die Bundeswehr kein Verband von Sozialarbeitern, die auf den Krisenschauplätzen der Welt im Einklang mit den jeweiligen sozialen und kulturellen Prägungen der Bevölkerung behutsam und hingebungsvoll ihr Aufbauwerk verrichten. Der just bei der Präsentation des Weißbuchs enthüllte Fall der Leichenschändungen in Afghanistan dürfte nur die Spitze des Eisbergs darstellen; die verrohende Wirkung der Beteiligung an Kriegseinsätzen lässt sich kaum bestreiten.

Das Scheitern einer vorrangig auf militärische Intervention setzenden Politik zeigt sich vor allem im Irak: Die Besetzung dieses Landes hat hier zwar zur Entmachtung eines Diktators geführt, jedoch keineswegs ein blühendes Land und eine funktionierende demokratische Ordnung hergestellt. Stattdessen herrschen im Irak Massenelend und Bürgerkrieg, das Land ist zu einer Brutstätte von Gewalt und Terrorismus geworden. Die Lage in Afghanistan entwickelt sich offenbar in die gleiche Richtung. Der von der US-Regierung propagierte »Krieg gegen den Terror« hat mithin, wie die 16 US-Geheimdienste in einer Ende September 2006 bekannt gewordenen Stellungnahme einräumten, im Ergebnis zu einer Verstärkung der terroristischen Bedrohung geführt.12

Einordnung in internationale Friedenssysteme

Breiten Raum nimmt im Weißbuch die Darstellung der Entwicklung internationaler Organisationen ein, vom NATO-Bündnissystem bis zu den Vereinten Nationen. Die inzwischen zahlreich gewordenen Einsätze der Bundeswehr auf Schauplätzen im Ausland finden schließlich auch durchweg im Rahmen solcher Vertragssysteme statt. Betrachten wir die insoweit bestehende Verfassungslage.

Das Grundgesetz hat den Bund in Art. 24 Abs. 2 ermächtigt, sich „zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ einzuordnen. In seinem Grundsatzurteil vom 12. Juli 1994 erblickte das Bundesverfassungsgericht in dieser Bestimmung die Ermächtigung zu Bundeswehreinsätzen im Ausland, die „im Rahmen und nach den Regeln“ solcher Systeme stattfinden.13 Ignoriert wurde dabei, dass Art. 24 GG die von Art. 87 a Abs. 2 GG verlangte ausdrückliche Zulassung von Bundeswehreinsätzen gerade nicht enthält und deshalb als Ermächtigungsgrundlage hierfür recht fragwürdig ist. Auch stieß es bei Völkerrechtlern auf Befremden, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil nicht nur die UNO als ein solches „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ betrachtete, sondern auch die NATO, ein klassisches Militärbündnis, das den potentiellen Gegner eben nicht mit einbezieht.14

Immerhin hat das höchste deutsche Gericht einige Jahre später noch einmal ausdrücklich an die Zweckbestimmung der nach Art. 24 Abs. 2 GG zulässigen Einordnung Deutschlands erinnert, nämlich die Wahrung des Friedens. Die tatbestandliche Formulierung dieser Norm schließe es aus, so heißt es in seinem Urteil vom 22. November 2001, „dass die Bundesrepublik Deutschland sich in ein gegenseitiges kollektives System militärischer Sicherheit einordnet, welches nicht der Wahrung des Friedens dient. Auch die Umwandlung eines ursprünglich den Anforderungen des Art. 24 Abs. 2 GG entsprechenden Systems in eines, das nicht mehr der Wahrung des Friedens dient oder sogar Angriffskriege vorbereitet, ist verfassungsrechtlich untersagt.“15 Dies mochte das Gericht im Hinblick auf die NATO jedenfalls im Jahre 2001 nicht annehmen.

Klare Aussagen zu den aktuellen Konzepten »präventiver« Kriege, wie sie vor allem in den USA propagiert werden, sucht man im Weißbuch von 2006 vergebens. Von einer scheinbar neutralen Warte aus wird statt dessen die völkerrechtliche Lehre von der »Responsibility to Protect« geschildert, die sich im Gefolge des Kosovo-Krieges von 1999 herausgebildet habe und nach der militärische Zwangsmaßnahmen auch zur Abwendung humanitärer Katastrophen, zur Bekämpfung terroristischer Bedrohungen und zum Schutz der Menschenrechte geboten sein könnten (S.57/58). Auch wenn dies nicht ausdrücklich formuliert wird, scheinen die Verfasser des Weißbuchs diese Auffassung wohl als begrüßenswerten Fortschritt des Völkerrechts zu betrachten.

Nun ist es zwar richtig, dass die im Völkerrecht inzwischen weitgehend anerkannte Verantwortung der Staatengemeinschaft für den weltweiten Menschenrechtsschutz (»Responsibility to Protect«) eine Beschränkung des Prinzips der Souveränität der Staaten impliziert, wenn die UNO auf massive Menschenrechtsverletzungen mit jeweils abgestuften Sanktionen reagiert.16 Die Anerkennung eines Rechts auf militärische Intervention ohne ausdrückliche Ermächtigung durch den Sicherheitsrat würde allerdings nichts anderes als eine Einladung an mächtige und kriegsbereite Staaten bedeuten, unter Berufung auf wirkliche oder vermeintliche Verletzungen von Menschenrechten nach ihrem Belieben andere Staaten anzugreifen.17 Dies wäre ein verhängnisvoller Schritt zurück zur alten, auf Augustinus und Thomas von Aquin zurückgehenden Lehre vom »bellum iustum«, zur Vorstellung vom »gerechten Krieg«, und damit die Preisgabe einer der wichtigsten Errungenschaften des modernen Völkerrechts, des universellen Grundsatzes des Gewaltverzichts zwischen den Staaten. Die in Art. 24 Abs. 2 GG vorgeschriebene Zweckbestimmung für die Einordnung Deutschlands in internationale Systeme würde damit jedenfalls eklatant missachtet.

Terrorbekämpfung durch Bundeswehreinsätze im Inneren?

Im Zuge der Notstandsgesetzgebung von 1968 sind die Voraussetzungen für Inlandseinsätze der deutschen Streitkräfte im Grundgesetz präzise geregelt worden. Danach sind solche Einsätze nur im Verteidigungs- oder im Spannungsfall oder zur Abwehr drohender Gefahren für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes (Art. 87 a Abs. 2 und 3 GG), ferner im Falle von Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen gemäß Art. 35 Abs. 2 und 3 GG zulässig. So konnten auf der Grundlage des Art. 35 Abs. 2 GG Bundeswehrsoldaten z. B. als Helfer bei Hochwasserkatastrophen an der Oder und der Elbe eingesetzt werden.

In seinem Urteil vom 15. Februar 2006 zum Luftsicherheitsgesetz hat das Bundesverfassungsgericht weitere Restriktionen für Inlandseinsätze der Streitkräfte statuiert. Danach dürfen diese bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen nicht mit „spezifisch militärischen Waffen“ eingesetzt werden. Weil die Streitkräfte in diesen Fällen nur Unterstützungsleistungen für die überforderten Polizeien der Länder erbringen würden, seien sie auf die Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben und Befugnisse beschränkt.18 Der Abschuss von »terrorverdächtigen« Flugzeugen fällt nicht darunter und ist deshalb nach Auffassung des Gerichts weder mit den genannten kompetenzrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes noch mit dem Recht auf Leben in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie vereinbar. Der Staat dürfe die unschuldigen Passagiere nicht als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer Menschen benutzen und auf diese Weise verdinglichen und entrechtlichen. Damit würde „den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt.“19

Der »Rettungsabschuss« von Zivilflugzeugen wurde nun von den Regierungspolitikern nicht etwa ad acta gelegt. Um ihn in Zukunft trotz des Urteils aus Karlsruhe zu ermöglichen, wird eine Verfassungsänderung gefordert. Wie es im Weißbuch heißt, „sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit einer Erweiterung des verfassungsrechtlichen Rahmens für den Einsatz der Streitkräfte. Infolge der neuartigen Qualität des internationalen Terrorismus sowie des gewachsenen und territorial weitgehend unbeschränkten Gewaltpotentials nichtstaatlicher Akteure sind heute auch in Deutschland Angriffe vorstellbar, die aufgrund ihrer Art, Zielsetzung sowie ihrer Auswirkungen den bestehenden tatsächlichen und rechtlichen Rahmen der klassischen Gefahrenabwehr überschreiten“ (S.76).

Uneinigkeit herrscht zwischen den Regierungsparteien bislang noch über den Inhalt der beabsichtigten Verfassungsänderung. Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Wiefelspütz, hat eine Ergänzung des Art. 35 GG vorgeschlagen, nach der die Streitkräfte unter bestimmten Voraussetzungen im Inneren „auch militärische Mittel zur Gefahrenabwehr“ einsetzen dürfen.20 Dagegen plädierte Bundesinnenminister Schäuble für eine Änderung des Art. 87 a GG, die Bundeswehreinsätze außer zur Verteidigung auch zur „unmittelbaren Abwehr eines sonstigen Angriffs auf die Grundlagen des Gemeinwesens“ gestatten soll.21

In einem entscheidenden Punkt ist sich Schäuble mit dem Sozialdemokraten Wiefelspütz indessen einig: Bei einer Flugzeugentführung durch Terroristen wie am 11. September 2001 in den USA dürften die Streitkräfte die Maschine abschießen, weil es sich um einen kriegerischen Akt handele.22 In diesem Fall käme das Kriegsvölkerrecht zur Anwendung, das auch die Tötung unschuldiger Passagiere eines als Angriffswaffe missbrauchten Verkehrsflugzeugs als Kollateralschaden nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips zulasse.23

Nun mag es zwar der Logik des Krieges entsprechen, Menschenleben insbesondere von Soldaten als bloße Rechenposten zu behandeln. Entgegen den Behauptungen von Schäuble und Wiefelspütz lässt sich der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aber keineswegs entnehmen, dass das Verbot einer staatlichen Abwägung »Leben gegen Leben« sowie die in Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte Unverletzlichkeit der Menschenwürde nur in Friedenszeiten gelten sollen. Im Übrigen handelt es sich bei einem Terroranschlag mithilfe eines entführten Verkehrsflugzeugs um einen Akt schwerster Kriminalität, aber keineswegs um einen kriegerischen Angriff auf das Bundesgebiet.24

Der Verwischung der Grenze zwischen terroristischer Kriminalität und Kriegszustand hat verheerende Konsequenzen für die rechtsstaatliche Ordnung und die Geltung der Grundrechte in Deutschland: Jenseits der detaillierten Verfassungsregeln für den Verteidigungsfall (Art. 115 a ff. GG) werden unter der Flagge des »Krieges gegen den Terror« Elemente des Ausnahmezustandes zum Leben erweckt. Carl Schmitt lässt grüßen: „Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut.“25 Alles, was zur Terrorabwehr als notwendig erscheint, gilt dann auch als legitim – bis hin zur Opferung unschuldiger Menschen. Die Grundrechte werden zu Gnadenakten des Staates degradiert, die dieser nach Belieben erteilen und wieder kassieren kann. Eine Regierung, so die treffende Kritik von Burkhard Hirsch, „die nach ihrem Ermessen das Kriegsrecht ausrufen kann, erhebt sich über die Verfassung und macht aus den Bürgern Untertanen.“26

Anmerkungen

1) Bundesministerium der Verteidigung (2006): Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin. Die Seitenangaben im folgenden Text beziehen sich auf diese gedruckte Ausgabe. Das Weißbuch ist im Internet verfügbar unter: http://www.weissbuch2006.de.

2) Dazu auch Uesseler, R. (2006): Weißbuch 2006: Interessenpolitik weißgewaschen. Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 12/06, S.1423 ff.

3) Dazu im Einzelnen Schiedermair, S. (2005): Der internationale Frieden und das Grundgesetz, Baden-Baden, Nomos-Verlag, S.100 ff.

4) Nach Finckh, U. (2007): Sind Angriffskriege nicht strafbar? In T. Müller-Heidelberg u.a. (Hrsg.), Grundrechte-Report 2007. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland, Frankfurt/M., Fischer-Verlag.

5) Vgl. Art. 103 Abs. 2 GG.

6) Bundestagsdrucksache V/2860, S.2.

7) Vgl. nur Bundesverfassungsgericht (BVerfG): Urt. v. 22. 11. 2001, 2 BvE 6/99. Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen (BVerfGE) 104, S.151 (213); Bundesverwaltungsgericht (BVerwG): Urt. v. 21. 06. 2005, 2 WD 12/04. Neue Juristische Wochenschrift, H. 1-2/06, S.77 (82 u. 93).

8) Geregelt in den Art. 87 a Abs. 3 u. 4, 35 Abs. 2 u. 3 GG; dazu näher im dritten Abschnitt.

9) So z.B. Arndt, C. (1992): Bundeswehreinsatz für die UNO. Die Öffentliche Verwaltung, H. 14/92, S.618; Deiseroth, D. (1993): Die Beteiligung Deutschlands am kollektiven Sicherheitssystem der Vereinten Nationen aus verfassungsrechtlicher Sicht. Neue Justiz, 47, S.145 (149); ausführlich dazu Kutscha, M. (2004): „Verteidigung“ – vom Wandel eines Verfassungsbegriffs. Kritische Justiz, 37, S.228 (232 f.).

10) So z. B. Baldus, M. (2005): Art. 87 a, Rdnr. 43. In H. v. Mangoldt, F. Klein & C. Starck (Hrsg.), Grundgesetz (Bd. 3, 5. Aufl.). München: Vahlen; Heun, W. (2000): Art. 87 a, Rdnr. 17. In H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar (Bd. 3). Tübingen: Mohr.

11) BVerwG: wie in Anm. 7.

12) Vgl. FR vom 28. 09. 06.

13) BVerfG: Urt. v. 12. 7. 1994, 2 BvE 3/92. BVerfGE 90, S.286, u.a.

14) Vgl. im Einzelnen Kutscha, M. (2004): Militäreinsätze vor dem Bundesverfassungsgericht. In H. Kramer & W. Wette (Hrsg.): Recht ist, was den Waffen nützt. Justiz und Pazifismus im 20. Jahrhundert, Berlin, Aufbau-Verlag, S.321 (325 ff.).

15) BVerfG: wie in Anm. 7.

16) Vgl. dazu z. B. Brzoska, M. (2006): Friedensmissionen: Erfolg und Scheitern. Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 12/06, S.1491 (1494 f.).

17) Vgl. dazu im Einzelnen Paech, N. (2007): Völkerrechtliches Souveränitätsprinzip vs. Menschenrechte, in diesem Heft; Neu, A. (2006): Verteidigung grenzenlos. Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 7/06, S.788 ff.

18) BVerfG: Urt. v. 15. 02. 2006, 1 BvR 357/05. Neue Juristische Wochenschrift, 59, S.751 (755 f.).

19) BVerfG: wie in Anm. 18, S.758.

20) Wiefelspütz, D. (2007): Vorschlag zur Neufassung des Art. 35 GG. Zeitschrift für Rechtspolitik, 40, S.17 (19).

21) Nach FR vom 03.01.07.

22) FR vom 04. 05. 06 u. vom 03.01.07.

23) Wiefelspütz, D. (2006): Der kriegerische terroristische Luftzwischenfall und die Landesverteidigung. Recht und Politik , 42, S.71ff.

24) Vgl. auch die Kritik von Hirsch, B. (2007): Schäubles Quasi-Krieg. Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 2/07, S.133 (135); ausführlich: Kutscha, M. (2006): Terrorbekämpfung jenseits der Grundrechte? Recht und Politik , 42, S.202 ff.

25) Schmitt, C. (1934): Politische Theologie (2. Aufl.), München, Duncker & Humblot, S.19.

26) Hirsch, B.: wie in Anm. 24, S.134.

Prof. Dr. Martin Kutscha lehrt Staats- und Verwaltungsrecht an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2007/2 Menschenrechte kontra Völkerrecht?, Seite