Kongresse und Tagungen
Transformation konfliktsensibel begleiten
Jahrestagung der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung, Ev. Akademie Bad Boll, 1.-2. April 2022
»Transformation: Bedrohung – Herausforderung – Chance? Umgang mit Transformationskonflikten weltweit« – unter diesem Titel stand die diesjährige Jahrestagung der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung, die Anfang April ziemlich genau am Höhepunkt der Omikron-B2-Coronawelle stattfand und gemeinsam mit der Evangelischen Akademie Bad Boll vorbereitet und durchgeführt wurde. Zum Glück war die Vorbereitungsgruppe rechtzeitig auf eine rein digitale Tagungsplanung umgestiegen, so dass die Tagung stattfinden konnte. Was aber nicht verhinderte, dass es sowohl im Vorbereitungsteam als auch unter den Referent*innen zum entscheidenden Zeitpunkt symptomatische Coronaerkrankungen gab, und auch einige Teilnehmer*innen sich krankheitsbedingt wieder abmelden mussten. Trotzdem nahmen insgesamt etwa 60 Menschen an der Tagung teil.
Zum Auftakt gab es einen kurzen Impuls von Dr. Jürgen Zattler, dem Leiter der Abteilung 4 (Internationale Entwicklungspolitik; Agenda 2030; Klima) im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) mit Fokus auf die Dimension der ökologischen Transformationen. Er schilderte insbesondere eine konkrete Projektlinie: das BMZ fördert und unterstützt die Dekarbonisierung in Ländern des globalen Südens, die bereits entschieden haben, ihre Energieversorgung zu dekarbonisieren. In der Republik Südafrika steht z.B. eine vergleichbare sozio-ökonomische Transformation in den Regionen an, die vom Kohlebergbau leben, wie dies in Deutschland im Ruhrgebiet oder in der Lausitz der Fall ist. Auch dort muss berücksichtigt werden, dass Arbeitsplätze im Kohlebergbau kurzfristig wegfallen, Chancen für neue Arbeitsplätze in den betreffenden Regionen aber erst mittelfristig entstehen. Soziale Härten müssten also erkannt und abgemildert werden, so Zattler. Dazu sei die Einbindung aller Stakeholder nötig, insbesondere der Arbeitgeber, der Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft.
Nach einer Kleingruppen-Diskussionsphase folgte der ausführliche Einführungsvortrag »Transformationskonflikte – Herausforderungen heute« von Prof. Dr. Klaus Dörre vom Institut für Soziologie der Universität Jena. Er beschrieb die „ökonomisch-ökologische Zangenkrise“, in der früh industrialisierte Länder wie Deutschland sich aktuell befinden, mit Hilfe zahlreicher Grafiken und statistischer Fakten, die unter anderem aufzeigten, dass die wachsende ökonomische Ungleichheit mit einer wachsenden Ungleichheit der CO2-Fußabdrücke unterschiedlicher Einkommensgruppen verbunden ist. Er beschrieb das hohe Konfliktpotenzial dieser Entwicklung am Beispiel der Lausitz und verwies auf die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (SDGs) als geeigneten Ansatzpunkt für die Gestaltung der notwendigen sozial-ökologischen Transformation. Er wies darauf hin, dass es für die Moderation dieser Konflikte notwendig sei, dass sich Demokrat*innen im eigenen Land dahin begäben, wo die Konflikte eskalierten.
Der zweite Konferenztag begann mit einer Paneldiskussion, bei der zusätzlich zum Thema »Klimawandel« auch das zweite große Transformationsthema »Digitalisierung« miteingebracht wurde. Anthea Bethge (EIRENE) erläuterte zunächst am Beispiel eines Projektes des Zivilen Friedensdienstes im Tschad, dass die Klimakrise dort nicht – wie bei den Beschäftigten der Kohleindustrie – zu konfliktträchtigen Statusverlusten führe, sondern buchstäblich zum Kampf ums Überleben. Hier bedeute die »Transformation« längst Anpassung an eine sich immer schneller verändernde Umwelt. Julia Hofstetter (ICT4Peace) stellte ihre Forschungsergebnisse zu Digitalisierung und Konflikt vor. Sie erläuterte an einigen Beispielen, dass digitale Prozesse neue Beteiligungsmöglichkeiten bieten oder digitale Medien wie aktuell im Ukrainekrieg zur Dokumentation von Kriegsverbrechen genutzt werden können, verwies aber auch auf negative Effekte wie Online-Hass oder digitale Mobilisierungen für Gewalttaten.
Es folgten vier Arbeitsgruppen (AG), in denen jeweils mit weiteren Referierenden einzelne Aspekte des Umgangs mit Transformationskonflikten diskutiert wurden.
- Die erste AG diskutierte nach einem Input von Cora Bieß (Universität Tübingen) und Dagmar Nolden (Berghof Foundation) die Frage, wie (digitale) Friedensarbeit und Konfliktbearbeitung rassismus- und diskriminierungskritisch gestaltet werden können. Aus dem »Do no harm«-Prinzip wurde die These abgeleitet: „Für Konfliktsensibilität braucht es auch Privilegienbewusstsein, Rassismus- und Diskriminierungssensibilität“. Außerdem wurde diskutiert, wie der digitale Raum Konfliktdynamiken dadurch verändert, dass neue Mobilisierungsmöglichkeiten bestehen, der digitale Raum ein neuer (zusätzlicher) Raum ist und sich schnell verändern kann, wer die Konfliktakteur*innen sind. Als konkretes Beispiel wurden »Deep Fakes« genannt, also per Künstlicher Intelligenz produzierte gefälschte Videos von Personen, die die ihnen in den Mund gelegten Worte nie gesagt haben, die dann im Netz verbreitet werden. Diese »Deep Fakes« lassen sich immer schwerer von legitimen Videoaufzeichnungen unterscheiden – was ein massives Risiko für Konflikteskalationen birgt.
- In der zweiten AG schilderte Peter Lengurnet (Universität Nairobi) ein konkretes Praxisbeispiel aus dem Samburu County im nördlichen Rift Valley in Kenia. Dort sind die Auswirkungen des Klimawandels schon deutlich spürbar und verschärfen traditionelle Landnutzungskonflikte im ländlichen Raum. Maßnahmen zur Abmilderung der Folgen des Klimawandels müssten daher konfliktsensitiv sein, traditionelle Verfahren des Konfliktmanagements berücksichtigen und mit der lokalen Bevölkerung gemeinsam erarbeitet und umgesetzt werden, so das Ergebnis der Arbeitsgruppe.
- Die dritte AG erarbeitete mit der Friedens- und Konfliktforscherin Sabine Jaberg und Jan Burck von German Watch, wie eine friedenslogische Sicht auf klimapolitische Transformationskonflikte aussehen könnte. Dabei zeigte sich, dass eine friedenslogische Perspektive auch bei Polykrisen, also dem Zusammentreffen mehrerer Krisen, und bei auf den ersten Blick unlösbaren Dilemmata hilfreich sein kann.
- In der vierten AG stellte die Konfliktberaterin Agnes Sander anhand von zwei Praxisbeispielen aus deutschen Kommunen den Ansatz der kommunalen Konfliktbearbeitung vor. In beiden Kommunen, Weißenfels und Hohe Börde, hatten die dramatischen Veränderungen nach der deutschen Wiedervereinigung zu Transformationskonflikten geführt. In der Beratungsarbeit hat sich unter anderem gezeigt, dass Transformationsprozesse auf der kommunalen Ebene vermittelt werden müssen und die Rolle der Kommunen als Ideengeberinnen bei ihrer Gestaltung stärker berücksichtigt werden sollte.
Allen Gruppen wurden für die Diskussion vier Leitfragen mitgegeben: Was macht Transformationskonflikte besonders? Was muss Zivile Konfliktbearbeitung (ZKB) in Bezug auf Transformation besonders beachten? Was kann ZKB besonders beitragen? Wo besteht weiterer Lern-/Handlungsbedarf?
In einem World Café (jawohl, auch das geht digital) wurden die AG-Ergebnisse zu den Leitfragen zusammengetragen und anschließend mit Bodo von Borries (VENRO) und Christof Starke (Friedenskreis Halle) darüber diskutiert, wie es weiter gehen könnte.
Eine große Frage dabei war auch, wie es mit der Finanzierung von Ziviler Konfliktbearbeitung aus dem Bundeshaushalt angesichts des mittlerweile verabschiedeten 100-Milliarden-Sondervermögens für Sicherheitspolitik weitergehen kann und welche Möglichkeiten es gibt, im Rahmen der Erstellung der Nationalen Sicherheitsstrategie friedenspolitische Ansätze unterzubringen. Den inhaltlichen Abschluss bildete ein Open Space, in dem überlegt wurde, wie das umfangreiche Thema Transformationskonflikte, das auf der Tagung ja nur angerissen werden konnte, in der Plattform auch in der kommenden Zeit weiter diskutiert werden kann. Ein Vorschlag dafür war, dass die nächste Jahrestagung inhaltlich an die diesjährige anknüpft. Carola Hausotter, die zuständige Studienleiterin aus Bad Boll, verwies in ihrem Schlusswort auf zwei zentrale Erkenntnisse: „Lasst uns dorthin gehen, wo es weh tut“ und „Lasst uns kreativ sein“. Wer sich kreativ in die Vorbereitung der nächsten Jahrestagung einbringen will, die Ende April 2023 in Loccum stattfinden wird, ist herzlich eingeladen, sich bei der Geschäftsstelle der Plattform ZKB zu melden.
Ute Finckh-Krämer
Fachgespräch zum Ukraine-Krieg
FONAS-Fachgespräch, Berlin/online, 26. April 2022
Am 26. April 2022 veranstalteten der Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS) und die Arbeitsgruppe Physik und Abrüstung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG-AGA) im Magnus-Haus der DPG in Berlin ein Fachgespräch mit dem Titel »Gefahren im Ukraine-Krieg: Einschätzungen der naturwissenschaftlichen Friedensforschung«. Vor Ort nahmen etwa 20 Personen teil, darunter Vertreter*innen des Auswärtigen Amts, per Videokonferenz waren es weitere etwa 40, u.a. darunter Journalist*innen und Mitarbeiter*innen des Bundestags.
Die Hauptvorträge des Fachgesprächs brachten Nuklearexpert*innen, Expert*innen für chemische und biologische Waffen sowie für neue Waffensysteme zusammen, die in der Gesamtschau die Breite der einzuschätzenden Risiken im Ukraine-Krieg abdeckten. Im Einzelnen sprachen:
- Matthias Englert (Öko-Institut Darmstadt) präsentierte eine Einschätzung der bisherigen Kriegswirkungen auf die Kraftwerksruine Tschernobyl, ihre Umgebung und die Kampfhandlungen bei den Reaktoren in Saporischschja und verwies auf weitere Gefahren für Nuklearanlagen in der Ukraine.
- Moritz Kütt (IFSH Hamburg) gab einen Überblick über die Zusammensetzung und Anzahlen des russischen Kernwaffenarsenals. Seine zentrale Aussage: Die Gefechtsköpfe der taktischen Nuklearwaffen sind bisher noch in zentralen Lagern.
- Möglichkeiten nuklearer Eskalation und Folgen von Nuklearexplosionen erläuterte Malte Göttsche (RWTH Aachen); die Wahrscheinlichkeit sei gering, aber das Risiko bestehe.
- Kathryn Nixdorff (TU Darmstadt) erläuterte die Lage in Bezug auf biologische und chemische Waffen. Russische Vorwürfe, in der Ukraine werde an B-Waffen geforscht, seien unbegründet.
- Beispiele von Drohnen, Raketen und Flugkörpern wurden von Jürgen Altmann (TU Dortmund) gezeigt. Sowohl Russland als auch die Ukraine setzen solche Waffensysteme ein; Drohnen konnten Panzer zerstören, wurden aber auch selbst abgeschossen; keine Seite habe die Lufthoheit.
- Schließlich berichtete Götz Neuneck (IFSH Hamburg) über den Stand und die Erfahrungen bei der Abwehr von Flugkörpern und ballistischen Raketen. Außer bei Raketen kürzester Reichweite sei der Erfolg begrenzt; die Kosten für Abwehr und Angriff müssten gut abgewogen werden.
In anschließenden einzelnen Runden mit den Vortragenden ergaben sich lebhafte Diskussionen. Das Video der Hauptvorträge steht online beim Dienst YouTube https://youtu.be/CHNUUoRszs8 zur Verfügung.
Jürgen Altmann
»The ban has a plan«
1. Vertragsstaatenkonferenz des Atomwaffenverbotsvertrags (AVV/TPNW), Wien, 21-23. Juni 2022.
Es muss als historischer Moment gelten, als Izumi Nakamitsu, die Abrüstungsbeauftragte der Vereinten Nationen (UNODA), zum Mikrofon griff. Endlich konnte die lange erwartete erste Vertragsstaatenkonferenz zum Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) beginnen. Nach einer Covid-19-bedingten Verschiebung der Konferenz vom März fand sie nun vom 21. bis 23. Juni in Wien statt. Ein solches globales Forum für den Austausch über das bestehende Atomwaffenverbot war vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen – doch bis zur Konferenz waren 65 Staaten dem Vertrag beigetreten.
Nach dem Inkrafttreten des AVV im vergangenen Jahr etablierte diese erste Staatenkonferenz den Vertrag in der UN-Abrüstungsarchitektur und ebnete den Weg für die konstruktive Umsetzung des Vertrages.
Worum geht es in dem Vertrag?
Der Atomwaffenverbotsvertrag wurde vor fünf Jahren, am 7. Juli 2017, von einer großen Mehrheit der Staaten weltweit in der UN-Generalversammlung angenommen. Der AVV verbietet es, Atomwaffen zu entwickeln, zu testen, zu produzieren und zu besitzen. Außerdem sind die Weitergabe, die Lagerung, der Einsatz sowie die Androhung des Einsatzes verboten. Darüber hinaus verbietet der Vertrag die Unterstützung solcher Aktivitäten.
Vor Inkrafttreten des Vertrages waren Atomwaffen die einzige Massenvernichtungswaffe, die noch nicht in einem internationalen Vertrag verboten war – trotz ihrer katastrophalen humanitären Auswirkungen und Umweltfolgen. Der AVV schloss daher eine große Lücke des Völkerrechts und leistet seither einen wichtigen Beitrag zur Stärkung des »nuklearen Tabus« gegen den Einsatz von Atomwaffen.
Ergebnisse der ersten Staatenkonferenz
Der Vertrag steht, doch die Bestimmungen aus dem Vertrag müssen jetzt mit Leben gefüllt und in die Praxis umgesetzt werden: Dafür erarbeiteten und beschlossen die Vertragsstaaten auf der dreitägigen Konferenz eine gemeinsame politische Erklärung (»Vienna Declaration«) und einen Aktionsplan, der die zukünftige Zusammenarbeit und Arbeitsbereiche regelt.
In der Vienna Declaration, dem gemeinsamen Abschlussdokument der Konferenz, verurteilten die Vertragsstaaten klar und deutlich „jede und alle Drohungen mit nuklearen Waffen, mögen sie explizit oder implizit sein, ganz unabhängig von den Umständen.“ Als erste multilaterale Konferenz zur nuklearen Abrüstung nach dem Beginn des russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine lag besonderes Augenmerk auf dem Umgang mit nuklearen Drohungen. Durch die klare Verurteilung sämtlicher nuklearer Drohungen stellten sich die Staaten deutlich gegen die russische Politik und verliehen dem Anliegen und den darin festgeschriebenen Prinzipien des AVV erneut Nachdruck.
Der Vertragsstaatenkonferenz waren zwei weitere Veranstaltungen zu atomarer Abrüstung vorangegangen: Ein zivilgesellschaftliches Forum (»Nuclear Ban Forum«, ICAN) und eine »Humanitäre Konferenz«, organisiert vom österreichischen Außenministerium. Auf beiden Veranstaltungen wurden humanitäre Risiken und Betroffenenperspektiven in den Fokus gerückt (siehe dazu in mehr Details: Balzer 2022). Auch die Vienna Declaration bekräftigt, dass humanitäre Sicherheit in Zukunft die Umsetzung des Vertrags anleiten soll. In diesem Sinne kündigt sie an, alle Aspekte des Vertrags umzusetzen, insbesondere die positiven Verpflichtungen hinsichtlich des durch Atomwaffeneinsätze und -tests entstandenen Leids.
Die Umsetzungsschritte dazu, gemäß des Aktionsplans (TPNW/MSP/2022/CRP.7) sind folgende:
- Die weitere Universalisierung des Vertrags soll durch spezifische Maßnahmen vorangetrieben werden, etwa durch diplomatische Bemühungen aller Mitgliedstaaten, bilateral und in der UN, und der weiteren Kooperation mit relevanten nichtstaatlichen Partnern wie ICAN.
- Die im Artikel 6 und 7 des AVV festgelegten positiven Verpflichtungen hinsichtlich der Entschädigung von Betroffenen und des Umweltschutzes sollen insbesondere im direkten Kontakt mit den betroffenen Gemeinschaften und mit Sensibilität für marginalisierte Gruppen umgesetzt werden. Die Einrichtung eines internationalen Fonds zur Finanzierung der Unterstützung soll diskutiert und konkretisiert werden.
- Es wurde eine zehnjährige Abrüstungsfrist sämtlicher Atomwaffen festgelegt, sollte ein Atomwaffenstaat dem Vertrag beitreten. Die Frist für den Abzug von im Land stationierten Atomwaffen, wie etwa in Deutschland im Rahmen der nuklearen Teilhabe, beträgt 90 Tage.
- Begleitet und unterstützt wird die Umsetzung des Vertrags in Zukunft durch eine wissenschaftliche Berater*innengruppe (»Scientific Advisory Group«) und einen »Gender Focal Point«, der den geschlechtsspezifischen Dimensionen der atomaren Bedrohung Rechnung trägt.
- Informelle Arbeitsgruppen werden sich mit den Aspekten der Universalisierung, Opferentschädigung und Umweltsanierung sowie der Verifikation beschäftigen.
Zudem betont der Aktionsplan die Kompatibilität des AVV mit dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV), dem ältesten Vertrag der nuklearen Rüstungskontrolle. Während seitens der AVV-Gegner häufig der Vorwurf zu hören ist, der AVV wolle andere atomare Rüstungskontrollverträge aushebeln, so zeigt die Konferenz ganz deutlich, dass die Vertragsstaaten des AVV klar hinter bestehenden Verträgen stehen und offen für Kooperation sind.
Welche Rolle nahm Deutschland ein?
Deutschland ist kein Vertragsstaat des AVV. Dennoch nahm die Bundesregierung, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, als Beobachterin an der Konferenz teil. Neben Deutschland waren noch drei weitere NATO-Mitglieder – Norwegen, Belgien und die Niederlande – beobachtend vor Ort. Dazu kamen die NATO-Beitrittskandidaten Finnland und Schweden. Die Teilnahme an der nuklearen Abschreckung der NATO, in deren Rahmen auch Atomwaffen auf deutschem Boden stationiert sind, widerspricht offensichtlich den Bestimmungen des Vertrags. Dennoch hebt sich die Beobachterrolle und ein konstruktiver Umgang mit dem AVV von der früheren, stark ablehnenden Haltung Deutschlands ab – ein Schritt in die richtige Richtung.
In ihrem Statement während der Staatenkonferenz zeigte sich die Bundesregierung im Vergleich zu den anderen teilnehmenden Beobachterstaaten, z.B. den Niederlanden oder Schweden, überraschend konstruktiv und zugewandt.
So würdigte der Vertreter des Auswärtigen Amtes, Rüdiger Bohn, einleitend die Staatenkonferenz als ein wichtiges Ereignis in den internationalen nuklearen Abrüstungsbemühungen. Während in der Vergangenheit oftmals die Kompatibilität des AVV mit dem bestehenden NVV bezweifelt wurde, begrüßte Botschafter Bohn im deutschen Statement die klare, NVV-würdigende Haltung der Staaten in Wien. Die Bundesregierung glaube, dass „Unterstützer*innen und Skeptiker*innen des AVV dennoch Seit an Seit zusammenarbeiten können“ in der nuklearen Abrüstung, Nichtverbreitung und der Reduzierung der Rolle von Atomwaffen in den Militärdoktrinen.
Anstatt falsche Vorbehalte bezüglich der Kompatibilität des Vertrages mit bestehenden Abkommen vorzubringen, machte die Bundesregierung klar, was dem Beitritt des Vertrages tatsächlich im Wege steht: “Als Mitglied der NATO – und solange Nuklearwaffen existieren, wird die NATO ein Nuklearbündnis bleiben – […] kann Deutschland kein Vertragsstaat des AVV werden.“ Diese Haltung ist zwar nicht lobenswert, war aber für die Anwesenden erwartbar – bis hin zu frustrierten Äußerungen einiger Aktivist*innen, denen der »Rummel« um die deutsche Position etwas auf die Nerven ging (beispielsweise Ray Acheson von Reaching Critical Will).
Gleichzeitig zeigte sich die Bundesregierung offen für einen Dialog über die positiven Verpflichtungen des Vertrages, denn „die vorgesehene Unterstützung für Betroffene und der Umweltausgleich von den Langzeitschäden nuklearer Tests haben breitere Aufmerksamkeit und Engagement verdient.“ Konkrete Schritte der Unterstützung fehlen hier jedoch noch, und es bleibt fraglich, ob sich Deutschland im Rahmen der zukünftigen Vertragsstruktur für diese Ziele engagieren wird.
Wie geht es weiter?
Die Konferenz in Wien ist der Startschuss für die weitere Umsetzung des Vertrages. Damit fängt jedoch die tatsächliche Arbeit, etwa in den einzelnen Arbeitsgruppen, erst an. Auch ob die konstruktive Begleitung Deutschlands erhalten bleibt, wie im Koalitionsvertrag versprochen, wird sich noch zeigen müssen.
Es bleibt noch viel zu tun auf dem Weg hin zu einer atomwaffenfreien Welt. Das nächste Mal wird bei der zweiten Staatenkonferenz Bilanz gezogen werden, die im November und Dezember 2023 unter dem Vorsitz Mexikos bei den Vereinten Nationen in New York stattfinden wird.
Literatur
Balzer, A. (2022): »Nuclear Ban Week« in Wien. Austausch, Inspiration und praktische Schritte auf dem Weg zur Abschaffung von Atomwaffen. W&F Blog, 27.6.2022.
Eva Siegmann
Hohe Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes
4. Internationale Konferenz über die humanitären Auswirkungen von Kernwaffen, Wien, 20. Juni 2022.
Die unverhohlene Drohung des russischen Präsidenten Putin am 27. Februar 2022, „die Streitkräfte der Abschreckung der russischen Armee in ein besonderes Regime der Alarmbereitschaft zu versetzen“, also die Bereitschaft zu zeigen, Atomwaffen einzusetzen, schreckte die Welt auf. Wie wird diese Drohung von den internationalen Experten eingeschätzt, die sich am 20. Juni 2022 zur 4. Internationalen Konferenz über die humanitären Auswirkungen von Kernwaffen in Wien trafen (Acheson und Pytlak 2022)?
Zur Debatte standen folgende Themen: (1) Was wir wissen: Die wichtigsten Fakten über Humanitäre Folgen und Risiken von Nuklearwaffen; (2) Auswirkungen von Kernwaffen auf Menschen und den Planeten: neue Entwicklungen und Erkenntnisse; (3) Die Risiken von Kernwaffen durch die Androhung des Einsatzes und die nukleare Abschreckung.
Mehr als 800 Delegierte aus 80 Staaten, den Vereinten Nationen, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung und andere relevante internationale Organisationen, Organisationen der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft nahmen an der Konferenz teil.
Einen wichtigen Beitrag in der dritten Podiumsdiskussion lieferte Zia Mian (Programm für Wissenschaft und globale Sicherheit der Princeton University). Er beschrieb die Risiken der nuklearen Situation in Südasien und erläuterte, wie Geschichte und Geographie hierfür eine Rolle spielen. Pakistan und Indien waren noch nie Verbündete, während selbst die USA und Russland es in der Vergangenheit gewesen seien. Sie haben einen ungelösten Streit über Kaschmir. Beide sind dabei, ihre Atomwaffenarsenale und Trägersysteme zu modernisieren und zu erweitern. Die Zeit, die für einen Angriff auf die Hauptstadt der jeweils anderen Seite benötigt wird, beträgt weniger als 5 Minuten; zwischen den USA und Russland sind es immerhin etwa 30 Minuten.
„Unser grundlegendes Problem im Atomzeitalter ist das Problem des Staates“, argumentierte Mian. Staaten machten Kriege. Kriege machten Ungeheuer aus Menschen. Kein Staat habe jemals sein Volk gefragt, ob es durch Massenmord verteidigt werden wolle. Die öffentliche Meinung wünsche sich eine atomwaffenfreie Welt, auch in den nuklear bewaffneten Staaten. Atomwaffen sind also ein Problem des Machtgefüges und der fehlenden Verantwortlichkeit. Aber wir wüssten nie, wann und wie sich die Dinge ändern werden, und deshalb müssten wir „heute das Unmögliche fordern“.
Als roter Faden durch die Konferenz zog sich folgende Aussage: Die einzige Möglichkeit, das Risiko von Atomwaffen zu beseitigen, ist die Abschaffung von Kernwaffen. Sowohl die Vortragenden auf den drei Podien als auch die Teilnehmenden verdeutlichten die Notwendigkeit, Dringlichkeit und Praktikabilität der Abschaffung von Atomwaffen. Die Daten über die Auswirkungen früherer Einsätze und Tests ließen keinen Zweifel an der Aussage: Die Folgen von Atomwaffen sind schrecklich, sowohl unmittelbar als auch langfristig.
Am Ende dieses Konferenztages fasste der Vorsitzende der Konferenz, Thomas Hajnoczi (2022), wichtige Ergebnisse, die für die Einschätzung der gegenwärtigen Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes in Europa relevant sind, folgendermaßen zusammen:
- Die Risiken von versehentlichen, irrtümlichen, unbefugten oder absichtlichen Atomwaffenexplosionen haben aus politischen, strategischen und technologischen Gründen ein nie dagewesenes Niveau erreicht.
- Die Ausbreitung kleinerer taktischer, besser einsetzbarer Atomwaffen ist beunruhigend. Schon die Detonation einer einzigen sogenannten »kleinen« Atomwaffe hätte verheerende und verstärkende Auswirkungen und birgt darüber hinaus ein sehr hohes Risiko, eine Eskalation zu einem begrenzten oder totalen Atomkrieg auszulösen.
- Die von führenden russischen Politikern ausgesprochene Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen zeigt, wie real dieses Risiko heute ist und unterstreicht die Fragilität eines Sicherheitsparadigmas, das auf der Theorie der nuklearen Abschreckung beruht. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine unterstreicht die Tatsache, dass Atomwaffen größere Kriege nicht verhindern, sondern nuklear bewaffnete Staaten dazu ermutigen, Kriege zu beginnen.
- Ein Krieg zwischen atomar bewaffneten Staaten ist nicht nur möglich, sondern hat bereits mehrfach stattgefunden, z.B. auf dem indischen Subkontinent. Wir wissen, dass ein Atomkonflikt keine abstrakte Gefahr ist, sondern eine sehr reale. Angesichts der regionalen und globalen Spannungen gibt es heute mehrere plausible Szenarien in verschiedenen Teilen der Welt für einen Atomkonflikt.
- In der heutigen Welt, in der es kein gemeinsames Verständnis von Regeln, Normen und Standards gibt, erhöhen Atomwaffen die Ungewissheit und Unsicherheit weiter.
- Substanzielle und nicht nur deklaratorische Maßnahmen zur Risikominderung sind sicherlich kurzfristig erforderlich, aber nur die Abschaffung von Atomwaffen bietet eine wirksame Prävention.
- Die Theorie, dass nukleare Abschreckung einen Atomkrieg verhindern kann, wird außerdem durch die Auswirkungen des technologischen Fortschritts und die Integration neuer Technologien in Kernwaffensysteme und Entscheidungsstrukturen weiter in Zweifel gezogen.
- Sicherheit auf nuklearer Abschreckung aufzubauen, ist nicht nachhaltig. Wenn die nukleare Abschreckung versagt, wird sie mit katastrophalen Auswirkungen versagen. Viele sehen ein logisches Problem darin, wie eine Waffe, die den Fortbestand der Zivilisation bedroht, als Grundlage für Sicherheit dienen kann.
Meine persönliche Einschätzung zur derzeitigen Gefahr eines regionalen Atomwaffeneinsatzes in Europa lautet: Sollte Putin im Verlauf dieses Krieges die Staatlichkeit seines Landes als existentiell gefährdet einschätzen, so ist die Wahrscheinlichkeit für den Einsatz sog. taktischer Atomwaffen nicht mehr zu vernachlässigen. Das Gleiche gilt, wenn es – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – zu einem kriegerischen Akt kommt, der von den beteiligten NATO-Staaten als Angriff interpretiert wird. Dagegen halte ich die Gefahr eines nuklearen Weltkrieges für sehr viel unwahrscheinlicher, nachdem die fünf im UN-Sicherheitsrat vertretenen Vetomächte Anfang Januar 2022 noch einen gemeinsamen Beschluss hierzu verabschiedet hatten (US Administration 2022).
Literatur
Acheson, R.; Pytlak, A. (2022): Report on the Fourth Conference on the Humanitarian Impact of Nuclear Weapons. Reaching Critical Will Blog, 20.06.2022.
Hajnoczi, Th. (2022): Chair’s Summary. Wiener Konferenz zu den humanitären Auswirkungen von Atomwaffen. Dokumentiert auf den Seiten des österreichischen Bundesministeriums für Europäische und internationale Angelegenheiten, 20.06.2022.
US Administration (2022): Joint Statement of the Leaders of the Five Nuclear-Weapon States on Preventing Nuclear War and Avoiding Arms Races. Pressemitteilung, 03.01.2022.
Dirk M. Harmsen
Welches Wissen für welche Friedensforschung?
Konferenz »Umkämpftes Wissen«, Marburg, 23.-25. Juni 2022
Welche Friedens- und Konfliktforschung brauchen wir heute? Unter dieser Fragestellung fand die Konferenz »Umkämpftes Wissen« an der Universität Marburg statt. Die dreitägige Veranstaltung wurde von der Fachschaft der Friedens- und Konfliktforschung Marburg, dem UNEINS Magazin und dem Bildungskollektiv Decentrale organisiert. Sie adressierte vorrangig ein studentisches Publikum, wandte sich aber auch darüber hinaus an Interessierte und in friedenspolitische Zusammenhänge involvierte Akteur:innen.
Das abstrakte »heute« der Fragestellung wurde in den Tagen der Konferenz überraschend konkret und führte die Dringlichkeit der Auseinandersetzung mit dieser Frage vor Augen: Der Angriff Russlands auf die Ukraine ging in den fünften Monat. Der Oberste Gerichtshof der USA kippte das Recht auf Abtreibung, während zugleich der deutsche Bundestag das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche aufhob. An den Grenzen Europas in Melilla starben mindestens 30 Menschen in Folge von Gewalt durch spanische und marokkanische Grenzwächter. Die Ausgangsfrage fordert mit dem Austausch also eine Friedens- und Konfliktforschung ein, die friedenspolitische Komplexitäten und die Realität der Aggression anerkennt, die die Gewalt Europas nicht verschweigt, eine Positionierung einfordert und postkoloniale und feministische Perspektiven ernstnimmt.
Den Auftakt der Veranstaltung machte Mariam Salehi, Nachwuchsgruppenleiterin am Zentrum für Interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung (INTERACT) der Humboldt Universität Berlin. In ihrem Vortrag unter dem Titel »Friedens- und Konfliktforschung & Policy – Modi der Auseinandersetzung« führte sie direkt auf die drängenden Fragen hin: Was passiert mit dem Wissen, das in der Friedens- und Konfliktforschung geschaffen wird? Welchen Interessen dient es unter welchen Umständen? Wie verhalte ich mich als Forscher*in, wenn meine Forschungsergebnisse in der Öffentlichkeit unterkomplex verhandelt werden und so ein falsches Bild der gemachten Untersuchungen reproduzieren? Können wissenschaftliche Erkenntnisse zu politischen Entscheidungen führen, die negative Folgen für Menschen haben? Im Anschluss an den Impulsvortrag und die gemeinsame Diskussion, in der das Spannungsfeld zwischen Aneignung und Ablehnung von Policystrukturen ausgehandelt wurde, richtete sich der Fokus auf die konkrete eigene Forschungspraxis der Teilnehmenden. In der Forschungswerkstatt unter dem Titel »Kritik mit Methode: Politische Überzeugungen und empirische Überraschungen« beschäftigten sie sich unter Anleitung von Felix Anderl (Professor für Konfliktforschung, Universität Marburg) mit ihren eigenen Forschungsideen. Im Zentrum stand dabei die Frage, wie kritische Forschung gelingen kann, die tatsächlich positive Veränderung anstrebt, statt allein in der Betonung von Differenz zu verweilen. Als besonders bereichernd erwies sich hier, dass Teilnehmer*innen ihre individuellen Forschungsideen und damit verbundenen Herausforderungen mit einbrachten, um sichtbar zu machen, wie vielfältig Kritik in Forschungsprojekten geübt werden kann.
Parallel dazu veranstaltete María Cárdenas, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Gießen, einen Workshop unter dem Titel »Forschen als Compromiso Vital – Möglichkeiten und Herausforderungen beim Verflechten von Forschung und Aktivismus«. Sie warf unter anderem die folgenden Fragen auf: Was bedeuten »Arbeit«, »Ressourcen«, »Kosten« und »Nutzen« in diesen Kontexten? Wie werden diese zwischen Forschenden und Kooperationspartner*innen verhandelt? Auf der Suche nach dem »compromiso vital« konnten die Teilnehmenden aktiv auf ihr akademisches und praktisches Vorwissen zurückgreifen und dieses in die kollektive Diskussion mit einbringen. Dabei wurde in Kleingruppenarbeit zunächst der Begriff des »aktivistischen« und »kollaborativen« Forschens ausdifferenziert, seine heterogenen Formen und Methoden benannt, um schließlich gemeinsam nach Möglichkeiten aktivistischer Praxis in eigenen Forschungsprozessen zu suchen.
Am Nachmittag wurde das Konferenzthema aus praxisnahen Perspektiven beleuchtet. Eine theaterpädagogische Annäherung an das Konzept des Storytellings gelang in einem Workshop von Otako Williams. Dabei wurde Storytelling als eine durch den kolonialen Blick oft übersehene Praktik des Wissenstransfers besprochen und erprobt. Unter dem Titel »Wissen schafft Macht« führten Lisa Hartke und Tim Bader einen Betzavta-Workshop durch. Betzavta ist ein Bildungs- und Methodenprogramm, welches intensiv Gruppendynamiken und -prozesse reflektiert und beschäftigt sich mit folgenden Fragen: Inwiefern stellt Wissen ein Privileg dar? Wann ist es sinnvoll, Wissen zu teilen? Wann nicht? Diese Fragen wurden durch erfahrungsbasierte Methoden im Rahmen von Betzavta verhandelt.
Den Abschluss des vollen Tages machte schließlich ein Austauschformat zwischen Studierenden, Professor*innen und weiteren friedenspolitischen Akteur*innen. Dabei wurde intensiv das Verhältnis von Bewegung und Forschung sowie die politische Dimension von Forschung diskutiert. Unterschiedliche Positionen wurden insbesondere dazu ausgetauscht, inwiefern das eigene (un-)politische Verständnis von Forschung die Entwicklung und den Wissenstransfer in den Disziplinen prägt. Zudem wurde die sich aus dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine speisende aktuelle Aufmerksamkeit auf die Friedens- und Konfliktforschung beleuchtet. Die komplexe und nicht abschließend zu beantwortende Frage »Welche Friedens- und Konfliktforschung brauchen wir heute?« führte so die unterschiedlichsten Perspektiven, die über den Tag hinweg erarbeitet wurden, wieder zusammen.
Am zweiten Tag zentrierte der Workshop »Feministisch Schreiben und Forschen« des feministischen Kollektivs »rage page« konkrete Herausforderungen im Rahmen feministischer Forschungs- und Schreibpraxis. Die Teilnehmenden wurden durch kreative Schreibaufgaben an die thematische Auseinandersetzung zu dem Thema herangeführt. So konnte feministisches Schreiben direkt erprobt werden, seine Handlungsspielräume erkannt und in Abgrenzung zu herkömmlichen Methoden des Schreibens betrachtet werden. Während sich immer wieder Frage stellte, welche Konsequenzen das um sich greifende Label »feministisch« hat, war in der Abgrenzung zum »normalen Schreiben« vor allem die Brücke zur Diskussion am Abend zuvor spannend. Im Spannungsfeld zwischen unpolitischer und politischer Selbstpositionierung in der eigenen Forschungspraxis versteht sich feministisches Schreiben, Forschen und Kuratieren als klar politisch und grenzt sich nicht nur durch Haltung und historische Einbettung, sondern auch durch Methode und Stil ab.
Die Konferenz war ein Versuch, die Konsequenzen der aktuellen Aufmerksamkeit für die Friedens- und Konfliktforschung innerhalb der Disziplin selbst zu diskutieren und Wege für einen gelingenden Umgang mit Herausforderungen, offenen Fragen, Diskrepanzen und Verantwortung der Forschenden im Feld zu finden. Diskutiert wurde – ganz wie es der Titel der Konferenz nahelegt – auf allen Ebenen: zwischen Studierenden, Praktiker*innen und Dozierenden.
UNEINS Redaktion
(Selbst-)Reflexion angesichts gesellschaftlicher Umbrüche
Tagung »Reflexive Ansätze gesellschaftspolitischer Konfliktbearbeitung«, Augsburg, 17.-19. September 2021
Eine Friedens- und Konfliktforschung, die sich auf gesellschaftliche Konflikte mit explizit politischer Dimension fokussiert, muss sich kontinuierlich mit Fragen der Normativität, Positionalität und Parteilichkeit sowie der gesellschaftlichen Prägung ihrer Grundbegriffe und Prämissen auseinandersetzen, die ihre Perspektivität und Methodik mitbegründen. Im September 2021 lud der Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung der Universität Augsburg zur Tagung »Reflexive Ansätze gesellschaftspolitischer Konfliktbearbeitung« in Augsburg ein, um diesen Anspruch und diese Herausforderung konkret anhand aktueller Forschungsprojekte zu diskutieren.
Aktuelle Herausforderungen gesellschaftspolitischer Entwicklungen
Die veränderte geopolitische Landschaft der Europäischen Union durch den »Brexit«, dessen gesellschafts- und geopolitische Auswirkungen Christian Kaunert (University of South Wales) in seiner Vorstellung des EU-Counterterrorism-Network behandelte, wirkt sich ebenso unmittelbar auf die Friedens- und Konfliktforschung aus, wie das Erstarken rechtspopulistischer bis antidemokratischer Positionen in liberalen Demokratien. Wenn etablierte und demokratische Institutionen der Konfliktbearbeitung in Frage gestellt werden und Konfliktparteien einander nicht als legitime Akteur*innen anerkennen, dann steht die Friedens- und Konfliktforschung vor großen Herausforderungen. Dies machte Charlotte Dany (Friedensakademie Rheinland-Pfalz) anhand ihres Forschungsprojekts über die Kontroversen um das »Neue Hambacher Fest« deutlich. Unter den konkurrierenden Erinnerungspolitiken an die Versammlungen für liberale Freiheiten im Jahr 1832 sei eine stark zunehmende revisionistische Aneignung des Hambacher Schlosses beobachtbar. So dienten aus Sicht der Forschenden konkurrierende Auslegungen geschichtlicher Ereignisse, wie sie im »Neuen Hambacher Fest« zum Ausdruck kommen, gänzlich konträren Maßnahmen politischer Mobilisierung. Vor dem Hintergrund reflexiver Forschung zeigte sich in der anschließenden Diskussion ein bekanntes konstruktivistisches Dilemma: Inwieweit konstruieren die Forschenden selbst einen Konflikt, wenn sie die Aneignung des Hambacher Festes problematisieren? Sowohl Demokratie- als auch Konfliktverständnisse der Forschenden selbst bedürften daher ebenso einer reflexiven Untersuchung und Berücksichtigung.
Diese Aufforderung zur Reflexivität als Konfliktkompetenz ist auch Ausgangspunkt des partizipativen Forschungsprojektes zur kommunalen Konfliktberatung, wie es von Christoph Weller vorgestellt wurde und das aktuell von seinem Lehrstuhl-Team gemeinsam mit dem forumZFD durchgeführt wird. Der Projektansatz versteht sich als reflexiv, weil er inhaltliche Auseinandersetzungen in der Forschung zugleich als Prozesse der Konfliktbearbeitung versteht und als solche konstruktiv angeht, um auf diesem Weg zu theoretisch wie praktisch relevanten Erkenntnissen zu kommen.
Wie wissenschaftliche und gesellschaftliche Erkenntnisse (re-)interpretiert werden, behandelt künftig der bayernweiten Forschungsverbund »Deutungskämpfe im Übergang«, der unter Federführung von Christoph Weller und Jana Hönke (Universität Bayreuth) beim Bundesministerium für Bildung und Forschung eingeworben und auf der Tagung präsentiert wurde. An der Schnittstelle von Sozial- und Geschichtswissenschaften soll es darum gehen, Konflikte um die Deutung zurückliegender Gewalt vergleichend zu analysieren und die historischen, politischen und sozialen Deutungsebenen unter den Forschenden, aber auch in der Gesellschaft, zu reflektieren.
Kritische Ansätze der Friedens- und Konfliktforschung
Die Konferenz zeigte deutlich, dass für kritische Theorieansätze Geschichtlichkeit eine reflexive Auseinandersetzung mit friedenswissenschaftlichen Erkenntnisinteressen eine zentrale Rolle spielt. So berichtete Stephan Stetter (Universität der Bundeswehr) von seinem Publikationsprojekt mit Klaus Schlichte (Universität Bremen), das Imperialismus und die Historizität der internationalen Politik thematisiert. Weltgeschichte wird von Subjekten verschiedener politischer Ordnungszusammenhänge mit ihren je eigenen Interpretationen der Vergangenheit geschrieben. Individuen und Gruppen, die in diesem Prozess marginalisiert werden, ringen wiederum in aktuellen gesellschaftspolitischen Konflikten um die Anerkennung ihrer Erzählungen.
Christina Pauls (Universität Augsburg) stellte in ihrem Beitrag künstlerische Interventionen an kolonialen Erinnerungsorten vor, die sie als Möglichkeiten dekolonialer Kritik am dominanten Friedensbegriff begreift. In diesen dekolonialen Interventionen würden dominante, lineare Verständnisse von Zeit hinterfragt und stattdessen zirkuläre, auf die Vergangenheit gerichtete Zeitverständnisse in den Vordergrund gerückt und so Neuaushandlungen über den Friedensbegriff angeregt. So wird die moderne lineare Zeitlichkeit als Herrschaftsinstrument verstanden, weil sie sich nach einem zukünftigen Frieden ausrichtet, der von einer bestimmten Deutungshoheit abhängig ist. Selbst das Verständnis von »Frieden als Prozess« sei aus dekolonialer Sicht in die moderne Zeitpolitiken verstrickt, da es die koloniale Vergangenheit verdränge.
Claudia Brunner (Universität Klagenfurt) brachte dekoloniale Theorieperspektiven in den Dialog mit feministisch-intersektionalen Analysen der »kolonialen Moderne« und argumentierte dafür, letztere stärker als herrschaftskritische Ressource für die Friedens- und Konfliktforschung zu berücksichtigen. Eine konsequente Reflexion der eigenen Positioniertheit – auch und gerade als Forscher*in – bedürfe für eine gelingende Auseinandersetzung einer stärkeren Rezeption der Erkenntnisse feministisch-intersektionaler Autor*innen, beispielsweise zu Mehrfachdiskriminierungen, sowie eines schärferen Blicks für die Unterdrückungskategorie der Klasse.
Michaela Zöhrers (Universität Augsburg) und Christine Buchwalds (Hochschule Rhein-Waal) Einblicke in die Gründungsphase des »Netzwerks Friedensforscherinnen« der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) schlossen an die feministische Kritik an und legten historische, politische und wissenschaftstheoretische Zusammenhänge offen (veröffentlicht als Dossier 94 in W&F 1/2022). Die damaligen Aushandlungen um die »Rolle der Frau« spiegeln auch die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um Selbstreflexivität und Positionalität innerhalb der Disziplin wider, die das Verständnis von Wissenschaftlichkeit auf der Tagung prägten.
Reflexionen zur Konfliktforschung
Verschiedene Friedensbegriffe, wissenschaftstheoretische Ansätze sowie voneinander abweichende Erzählungen über Geschichte, Sinn und Zweck der Disziplin der Friedens- und Konfliktforschung beeinflussen die normativen und wissenssoziologischen Grundlagen des Fachs – dies wurde durch die folgenden Beiträge auf der Konferenz deutlich. So schlug Wolfgang Dietrich (Universität Innsbruck) in seinem friedensphilosophischen Beitrag einen alternativen Zugang zum universalen Friedensbegriff vor: Statt bestimmter Artikel – »der« Frieden – schlug er eine geschehensorientierte Grammatik vor, die in der sprachlichen Konstruktion »es friedet« Vorgang und Geschehen betone und so das dominante transzendente Friedensverständnis entgrenze. Die vorgestellte Arbeit knüpft an seine »Philosophie der vielen Frieden« an: auf Basis seiner Rekonstruktion verschiedener Friedensvorstellungen hatte Dietrich dort Kategorisierungen dieser Friedensvorstellungen vorgenommen und ihnen spezifische Themenschwerpunkte zugeordnet, um so die postmoderne Erkenntnisvielfalt zu bündeln.
Charlotte Rungius (Humboldt Universität zu Berlin) zeichnete anhand eines historischen Rückblicks auf disziplinäre Diskurse in der Wissenschaftsforschung insbesondere die Übergänge von modernen zu postmodernen Untersuchungsperspektiven als vermeintlichen Reflexionsfortschritt nach. Ihr Augenmerk galt dabei dem Problem der Rekursivität: Auch postmoderne Ansätze nähmen bestimmte Setzungen vor, die begründet und reflektiert werden müssten, um den Vorwurf der mangelnden erkenntnistheoretischen Reflexion, den sie modernen Ansätzen machen, nicht selbst zu reproduzieren. Mit derlei wissenschaftstheoretischen Problemstellungen müsse sich die Friedens- und Konfliktforschung, auch in der Auslegung der eigenen Geschichte, auseinandersetzen.
Stefan Böschen (RWTH Aachen University) erkundete in seinem abschließenden Tagungsbeitrag, in welcher Form die Geschichte der Friedens- und Konfliktforschung erzählt wird. Dazu differenzierte er zwischen verschiedenen Erzählarten (als Satire, Romanze, Tragödie sowie Komödie) und machte in seinen Ausführungen auf die Funktionalisierung der Geschichte und daran geknüpfter (Selbst-)Erwartungshorizonte für die jeweiligen Verständnisse des Faches und seiner Forschungsaufgaben aufmerksam.
Die Beiträge der Tagung machten die Herausforderungen für die Friedens- und Konfliktforschung deutlich und zugleich den Wert des intensiven, interdisziplinären Austauschs, der durch die Nähe von Irritation und Inspiration spannend bleibt. Prägend für die drei Tage war, neben dem inhaltlichen Fokus, auch die vorausgehende Verbundenheit der Teilnehmer*innen mit Christoph Weller, auf die am Rande der Tagung bei den Glückwünschen zu dessen 60. Geburtstag lebhaft Bezug genommen wurde.
Christina Pauls, Marius Thomay, Nicki K. Weber