W&F 1998/3

Kontinuität – Diskontinuität
Bundeswehr – Wehrmacht

Gespräch zwischen Klaus Naumann und Tobias Pflüger

von Klaus Naumann und Tobias Pflüger

»Alte Kameraden« und die extreme Rechte protestierten – zum Teil gewalttätig – gegen die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung: Vernichtungskrieg, Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, die seit 1995 in verschiedenen deutschen und österreichischen Städten gezeigt wurde. Doch auch von links, aus dem pazifistischen Lager gab es Kritik. Klaus Naumann vom Hamburger Institut für Sozialforschung und Tobias Pflüger von der Informationsstelle Militarisierung e.V. diskutieren das Verhältnis Bundeswehr – Wehrmacht und die Ausstellungskonzeption.

Frage: Können Sie zugespitzt formulieren, ob es Ihrer Ansicht nach eine Kontinuität zwischen Bundeswehr und Wehrmacht gibt?

K. Naumann: Die Bundeswehr ist zu recht eine »Kompromißarmee« (Martin Kutz) genannt worden. Wie die Republikgründung im Westen vereint(e) sie widerstreitende Tendenzen, die denn auch dafür gesorgt haben, daß die Streitkräfte über die ersten Jahrzehnte hinweg eine Art »Skandalarmee« geblieben sind. Neben dem restaurativen Impuls, bekräftigt durch die hohe personelle Kontinuität und mentale Reserven im Offizierskorps, stand immer auch eine beachtliche reformerische Entschlossenheit – und nicht zuletzt der Hintergrundkonsens, daß es ein zurück zur Wehrmacht wohl oder übel nicht geben könne und dürfe. Wie Arnulf Baring von einer schubweisen Staatsgründung der Bundesrepublik gesprochen hat, könnte man vielleicht auch von einer etappenweisen Gründungsgeschichte der Bundeswehr sprechen; etwa wenn man die bescheidenen Anfänge der »Himmelroder Denkschrift« von 1950 mit der Wehrverfassung der mittfünfziger Jahre und diese dann mit den strukturellen Umbrüchen der Reformperiode am Ende der sechziger Jahre (Weißbuch, 1970) vergleicht. Die große Herausforderung, gleichsam die späte Probe auf die reformerische Gründungsidee, kommt erst in den letzten Jahren nach der deutschen Vereinigung, Auslandseinsätzen, Truppenintegration, NVA-Auflösung und dem veränderten Verteidigungskonzept auf die Bundeswehr zu.

T. Pflüger: Es gibt einen Unterschied zwischen dem praktizierten und dem proklamierten Traditionsverständnis der neuen Bundeswehr. Volker Rühe formulierte auf der Wehrkundetagung 1995 in München als Grundsatzposition: „Die Wehrmacht war als Organisation des Dritten Reiches, in ihrer Spitze, mit Truppenteilen und mit Soldaten in Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt. Als Institution kann sie deshalb keine Tradition begründen. Nicht die Wehrmacht, aber einzelne Soldaten können traditionsbildend sein – wie die Offiziere des 20. Juli, aber auch wie viele Soldaten im Einsatz an der Front.“ In der Praxis gewinnt der letzte Teilsatz – „wie viele Soldaten im Einsatz an der Front“ – immer mehr an Bedeutung. Trotz aller Diskussion sind Kasernen, Schiffe und Einheiten der Bundeswehr nach Wehrmachtsgrößen benannt. Es gibt bei der Bundeswehr eine intensive Traditionspflege mit »Alten Kameraden« der Wehrmacht. Dabei werden rechtskonservative und rechtsextreme Haltungen vermittelt und gepflegt. Selbst die Wehrbeauftragte, Claire Marienfeld, sagt im Jahresbericht 1997: „Um so mehr beobachte ich mit Sorge, daß innerhalb der Bundeswehr gleichwohl die gebotene Distanz zur deutschen Wehrmacht insgesamt, aber auch zu einzelnen Personen aus der deutschen Wehrmacht nicht immer und überall eingehalten wird.“ Meine These ist: Es fehlt nicht nur an einigen Stellen die Distanz zur Wehrmacht, die Distanz ist nicht (mehr) gewollt. Die alte Bundeswehr, offiziell zur Landesverteidigung da, hat geschichtlich gesehen nur den Charakter einer Übergangsarmee gehabt. Die neue Bundeswehr wird kriegsfähig gemacht, dazu knüpft sie bewußt auch an Traditionen der Wehrmacht an. Ein Beispiel: Die Elitetruppe der Bundeswehr, das Kommando Spezialkräfte (KSK) hat offiziell die Patenschaft für das Kamaradenhilfswerk der ehemaligen 78. Sturm- und Infanteriedivision der Wehrmacht übernommen, einer Eliteeinheit, die 1943 nachweislich Verbrechen auch an der sowjetischen Zivilbevölkerung begangen hat. Die Bundeswehr selbst stellt hier Verbindungen her, die skandalös sind!

Frage: Im Zusammenhang mit der Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944«, die Sie, Klaus Naumann, mit konzipiert haben, gibt es in Deutschland eine Debatte um die Wehrmacht, die zum Teil auch eine Debatte um Militär als solches ist. Sollte die Debatte um die Wehrmacht ausgedehnt werden auf das derzeitige deutsche Militär, die Bundeswehr, oder sollte nur über die Rolle der Wehrmacht diskutiert werden?

T. Pflüger: Eine ausschließliche Debatte über die Wehrmacht ist meiner Ansicht nach gar nicht möglich. Wir haben es mit zwei ineinander verwobenen Debatten zu tun. Durch die Ausstellung »Vernichtungskrieg« wurde etwas erreicht, was zuvor nicht möglich war: Der Mythos der »sauberen Wehrmacht« wurde gebrochen. Die Wehrmacht wurde enttabuisiert. Das ist das Verdienst der Ausstellungsmacher und ein Ergebnis der gesellschaftlichen Debatte, die sich anhand der Ausstellung entwickelte. In vielen Familien wurde (endlich) über die damalige Zeit und die Wehrmacht gesprochen oder gestritten. Der nächste Schritt ist nun, aus der Geschichte der Wehrmacht Lehren zu ziehen, Lehren für heute. Und dann sind wir mitten drin in der Diskussion um Militär als solches und die Bundeswehr. Die Rolle der Wehrmacht für die Bundeswehr muß im Zusammenhang mit den rechtsextremen Vorfällen dringend diskutiert werden.

K. Naumann: Was die Intention der Ausstellung betrifft, möchte ich etwas anders argumentieren als Tobias Pflüger. Ich halte es für dringend geboten, sich diesen – historischen – Befunden überhaupt erst einmal auszusetzen, bevor der Ruf nach den »Lehren« laut wird. Die Ausstellung ist ja im Kern ganz und gar keine »Wehrmachts-Ausstellung«, obwohl sie oft so tituliert wird. Vielmehr will sie ein deutsches Bevölkerungssegment zeigen, das wohl am nachhaltigsten in die NS-Verbrechen involviert war – als Täter und Tatgehilfen, Zeugen, Zuschauer und Mitwisser. Die Enttabuisierung der »sauberen« Wehrmacht ist in diesem Sinne ein »Abfallprodukt« der Ausstellung. Noch einmal gesagt: dem Hamburger Institut geht es hier in erster Linie um ein – freilich umfangreiches! – Segment der deutschen »Volksgemeinschaft«. Insofern kann und sollte man unter diesem Aspekt durchaus »nur« über die Wehrmacht, über die Erfahrungen unserer Eltern- und Großelterngeneration und über die familiären Traditionen sprechen! Die Schlußfolgerungen für heute werden dann auch sehr vielfältig sein – und keineswegs nur militärischer oder militärpolitischer Natur! Das erübrigt nicht die Eigenproblematik des deutschen Militärs; ich möchte hier nur die Relationen anders ziehen…

Frage: Sie, Tobias Pflüger, haben „Kritik an der Grundthese der Ausstellung zur Wehrmacht“ geübt. Was meinen Sie genau damit?

T. Pflüger: In der Einleitung des Ausstellungskataloges heißt es: „Die Wehrmacht führte 1941 bis 1944 auf dem Balkan und in der Sowjetunion keinen »normalen Krieg«, sondern einen Vernichtungskrieg gegen Juden, Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung, dem Millionen zum Opfer fielen“ (Hannes Heer / Ausstellungskatalog, Seite 7). Besser wäre meiner Ansicht nach zu sagen: Die Wehrmacht führte 1941 bis 1944 auf dem Balkan und in der Sowjetunion einen Vernichtungskrieg gegen Juden, Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung, dem Millionen zum Opfer fielen; dieser Vernichtungskrieg unterschied sich von anderen Kriegen. Die Grundthese der Ausstellungsmacher könnte so verstanden werden: Dieser Vernichtungskrieg war absolut zu verurteilen, andere Kriege können notwendig sein. Aber: Ist nicht jeder Krieg ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, unabhängig von seiner Schärfe? Es wird – wenn auch in Anführungszeichen – von »normalen Kriegen« im Gegensatz zum Vernichtungskrieg gesprochen. Können Kriege normal sein? Ein Ziel der Ausstellung ist es wohl auch, daß der Vernichtungskrieg aufgearbeitet werden muß, verbunden mit dem Wunsch, daß für die Zukunft solche Vernichtungskriege verhindert werden müssen, ohne gleichzeitig die grundsätzliche Frage nach Sinnhaftigkeit von Krieg und Militär als solchem stellen zu müssen. Die offizielle Politik hätte das »Angebot« der Ausstellungsmacher eigentlich begierig aufgreifen müssen, es würde in die von dort (u.a. durch die Herzog-Rede zur Außenpolitik) miterzeugte Grundstimmung (»Wir sind wieder wer!«) hineinpassen. Doch es kam anders: Auch von den Ausstellungsmachern wurde die Schärfe und gesellschaftliche Relevanz der geschichtlichen Leugnung der Wehrmachtsverbrechen unterschätzt. Der zweite Teil der Grundthese der Ausstellung ist zwischen uns natürlich absoluter Konsens: „Die deutsche Militärgeschichtsschreibung hat zwar viel zur Aufklärung dieses Tatbestandes beigetragen, sie weigert sich aber einzugestehen, daß die Wehrmacht an allen diesen Verbrechen aktiv und als Gesamtorganisation beteiligt war“ (Hannes Heer / Ausstellungskatalog, Seite 7).

K. Naumann: Tatsächlich liegen unsere Differenzen nicht in der Bewertung der Historiographie, sondern in der Wahrnehmung der Ausstellung und ihrer »Aussagen«. Die Ausstellung fokussiert allein und ausschließlich den »Vernichtungskrieg«, und sie dringt damit implizit auf eine Differenzierung, die an den zivilisatorischen Normen der Moderne orientiert ist. Sie formuliert keine These über den Krieg »als solchen«, sondern macht diese Normüberschreitung zum Skandalon. Die »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« (bzw. „gegen die Menschheit“; wie in Nürnberg formuliert) würden m.E. zur billigen Münze verkommen, wenn man daraus eine moralphilosophische Allaussage machen würde! Wohl gemerkt, das kann man tun – aber man vergibt sich damit der Möglichkeit zu moralischer und politischer Differenzierung, also all jener Möglichkeiten, die wir in der Debatte um Bosnien, den Kosovo, UN-Einsätze u.a.m. so rasch im Munde führen. Im übrigen erinnert dieses Argument, es gebe keinen »normalen« Krieg, an das Kernargument der überzeugten Militärs, die mit dem US-General Sherman die »war is hell«-These vertreten. Krieg ist, wenn er einmal begonnen hat, die Hölle, denn es gibt nichts und kann nichts geben, was dann noch seinen Selbstlauf aufhält. Also, so die hard-core-Militärs, ist alles erlaubt – oder dezenter formuliert: leider unvermeidlich. Diese Art von Grundkonsens würde ich allerdings gerne aufkündigen…

Frage: Jan Philipp Reemtsma formuliert in seinem Essay »Trauma und Moral«: „So bildeten auf einmal ein Teil der Veteranen dieses Krieges (ein Teil, der andere Teil schrieb Dankesbriefe und bot weiteres Archivmaterial an) und die Träger des pazifistischen Affekts eine Koalition der Verleugnung. Bestanden die einen darauf, in einem ganz normalen Krieg gekämpft zu haben, an dessen Rändern allenfalls von der Wehrmacht säuberlich getrennte Kommandos Unerfreuliches angerichtet hätten, so wollten die anderen gleichfalls nicht gelten lassen, daß in diesem Krieg anderes geschehen sei, als in Kriegen immer geschehe“ (zit. nach Kursbuch 126, Berlin 1996). Klaus Naumann, Sie haben sich einmal ähnlich geäußert: „Das Bezeichnende lag im Hintergrundkonsens, denn sowohl für die skizzierte Veteranenmeinung wie für jene Nachgeborenen, die einem"pazifistischen Affekt« folgten, in dem sich alle Kriege als Kriege ineinanderschoben, und auch für den kalten Analytiker war das Resultat das gleiche: Die differentia specifica des Vernichtungskrieges verschwand. Der Blick war getrübt“ (zit. nach Blätter für deutsche und internationale Politik 12/97).

K. Naumann: In der Debatte um die Ausstellung sind diese Argumente, angesiedelt bspw. im Umkreis der »Soldaten sind Mörder«-These, immer wieder aufgetreten. Das Interessante daran ist eine Art stillschweigendes Kommunikationsbündnis, wenn man diese paradoxe Formulierung einmal riskieren will. Schließlich ist die Tatsache erklärungsbedürftig, warum die Legende von der »sauberen« Wehrmacht gut fünfzig Jahre überdauern konnte – obwohl doch die Nürnberger Prozesse und später die historische Forschung (seit den 80er Jahren) längst den Gegenbeweis angetreten hatten. Dahinter verbirgt sich offenbar ein schwerwiegendes moralisches Problem, das wiederum von Fragen der Urteilskraft nicht zu trennen ist. Kriegsächtung fällt in diesem Horizont »leichter« als die explizite Konfrontation, das »Durcharbeiten« einer singulären Gewalterfahrung. Man kann darin sicher auch den Reflex einer fortdauernden Verstörung erkennen, der sich über die Teilnehmergeneration bis in die Folgegeneration ausdehnt (vgl. meinen Beitrag Die »saubere« Wehrmacht. Gesellschaftsgeschichte einer Legende, in: Mittelweg 36, 4/1998). Insofern geht der »pazifistische Affekt« viel weiter als der organisierte und unorganisierte Pazifismus. Auswirkungen auf die Friedensforschung – etwa der 80er Jahre bzw. ihrer konzeptionellen Lücken in den 90er Jahren – vermute ich darin, daß sie sich jenseits der Abrüstungsforderungen, Konversionsmodelle und »Raketenzählerei« auf eine immanente Auseinandersetzung mit Streitkräftekonzepten, Fragen der Wehrstruktur, Verteidigungsstrategien usw. selten wirklich eingelassen hat. Es reicht einfach nicht aus, wie Jürgen Grässlin (Lizenz zum Töten. Wie die Bundeswehr zur internationalen Eingreiftruppe gemacht wurde. Knaur: München, 1997) der Bundeswehr eine Forderung nach fünfprozentiger Abrüstung pro Jahr vor die Füße zu werfen, der Frage danach, was eigentlich als »Verteidigungsauftrag« zu gelten hätte, aber auszuweichen.

T. Pflüger: Erschreckend ist, daß ihr den sogenannten »pazifistischen Affekt« für die lange Haltezeit des »Mythos der sauberen Wehrmacht« mitverantwortlich macht. Ihr stellt völlig verschiedene Personen (hier Verbrechen leugnende Wehrmachtssoldaten, dort PazifistInnen) auf eine Ebene. Notwendig wäre statt dessen, die offenbar noch vorhandene militärkritische Grundstimmung aufzugreifen und zu fundieren. Wir sind uns einig, daß eine (grundlegende, nicht nur immanente) Auseinandersetzung (auch Friedensforschung und -bewegung haben hier ein Aufgabenfeld) mit Strategie und Struktur der neuen Bundeswehr notwendig ist. Es geht nicht mehr nur um Verteidigung sondern auch um Krieg. Die Bundeswehr wurde und wird qualitativ aufgerüstet (neue Strategie, Struktur, Bewaffnung), sie ist kleiner, aber schlagkräftiger geworden. Forderungen nach quantitativer Abrüstung alleine gehen deshalb an den tatsächlichen Problemen vorbei. Notwendig sind erste Schritte qualitativer Abrüstung. Konkret: Rücknahme der »Verteidigungspolitischen Richtlinien«, Stopp des Exports neuer und alter Waffensysteme, Stopp derzeit laufender Beschaffungsprojekte, Auflösung der Krisenreaktionskräfte und des Kommandos Spezialkräfte.

Frage: Der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude hat in seiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« im Auditorium Maximum der Ludwig-Maximilians-Universität München u.a. gesagt: „Aber ich frage mich ernsthaft, was heutzutage in Köpfen vorgeht, die allen Ernstes behaupten, die Dokumentation von Kriegsverbrechen in Hitlers Vernichtungskrieg treffe auch die Bundeswehr. Wer so daherredet, hat weder die Fundamente des demokratischen Neubeginns 1945 begriffen, noch Wesen und Auftrag der Bundeswehr. Die auf das Grundgesetz vereidigte Armee eines demokratischen Rechtsstaats, die in die Völkerfamilie eingebettet ist und einen ausschließlichen Verteidigungsauftrag hat, hat doch wirklich nichts gemein mit einer Armee, die auf Adolf Hitler persönlich geschworen hat, sich selbst zur zweiten Säule des nationalsozialistischen Regimes erklärte und auf Befehl dieses totalitären Regimes einen Angriffs- und Vernichtungskrieg in viele Länder getragen hat. Gerade diese Dokumentation zeigt, wozu eine Gewaltherrschaft und ein Unrechtsregime fähig sind, und daß sie nur mit den Mitteln bewaffneter Gewalt gestoppt und zurückgeworfen werden können. Aus dieser Erfahrung schöpft die Bundeswehr als Armee eines demokratischen Rechtsstaates, die den Prinzipien des humanitären Völkerrechts verpflichtet ist, ihre Legitimation. Diese Bundeswehr ist zur Wehrmacht des »Dritten Reichs« geradezu ein Gegenentwurf.“  Was meinen Sie dazu?

K. Naumann: Ich möchte der emphathischen Seite von Christian Udes Formulierung zustimmen, zugleich aber auf Defizite im Ist-Zustand hinweisen. Die Crux liegt in dem eingangs erörterten Doppelcharakter der Bundeswehr als einer »Kompromißarmee«. Gerade dieser Kompromiß hat – neben allen seinen Verdiensten – auch verhindert, daß sich die Streitkräfte offensiv und schonungslos der sog. Traditionsfrage gestellt haben, mit der ja höflich umschrieben ist, daß jegliche deutsche Armeegründung auf einem historischen Hintergrund erfolgen mußte, der nur geringste »positive Werte« und bestandsfähige Traditionen anbieten konnte. Man denke an die jahrelange, zunächst dreiste und dann gequälte Debatte um den 20. Juli und den militärischen Widerstand, der sich dann übrigens wie eine Deck-Erinnerung vor die vielen Untiefen der Traditionsfrage geschoben und diese verdeckt hat. Eine Auseinandersetzung mit militärischem Ungehorsam jenseits des Elite-Widerstandes hat die Bundeswehr – Stichwort Deserteure – bis heute gescheut. Und genauso ist keine Auseinandersetzung geführt worden über die Konsequenzen des Vernichtungskrieges für die Truppenverfassung, Ausbildung, Innere Führung usw. Die Argumentationspraxis läuft vielmehr häufig so, daß agile Militärdozenten versichern, durch die Innere Führung sei eigentlich alles »abgedeckt«. Beunruhigend sind in diesem Zusammenhang alle jene Hoffnungen oder Erwartungen, mit Auslandseinsätzen und dergleichen werde sich zukünftig eine Art »Rückkehr« zum »Eigentlichen« (Ernstfall, Bewährung, Kampf, Soldatentum) vollziehen. Gerade solche Tendenzen gegenüber sollte die Formulierung von Christian Ude, die Bundeswehr sei ein »Gegenentwurf« zur Wehrmacht, ernst genommen werden.

T. Pflüger: Es gibt einen »Mythos der sauberen Bundeswehr« und die Äußerung von Christian Ude ist ein typischer Beleg dafür. So einfach ist es eben nicht. Man kann nicht außer acht lassen, daß in der Bundeswehr heute auch Angriffe geübt werden (Kommando Spezialkräfte und andere Krisenreaktionskräfte), einen „ausschließlichen Verteidigungsauftrag“ gibt es nicht (mehr).

Frage: Am 10. November 1997 gab es folgende dpa-Meldung: Freising (dpa) – Die jüngsten Fälle von Rechtsextremismus in den deutschen Streitkräften (Bundeswehr) sind nach Ansicht katholischer Militärseelsorger auch eine Folge der Auslandseinsätze der Truppe. Der Ernstfall ändere das Selbstverständnis der Soldaten, sagte der Chef des Grundsatzreferats im Katholischen Militärbischofsamt, Harald Oberhem, in einem dpa-Gespräch am Montag. Im Auslandseinsatz frage ein Soldat nicht, wie sein Vater in der Bundeswehr diente, sondern was sein Großvater in der Wehrmacht des Dritten Reichs gemacht habe. „Da geht es dann um deutsche Soldaten im Krieg bis zum Nachsingen von Wehrmachtsliedern, die in der Bundeswehr bisher keine Rolle spielten.“ Was meinen Sie dazu?

T. Pflüger: Diese Aussage geht in die gleiche Richtung wie meine These, daß nun, mit dem erweiterten Auftrag der neuen Bundeswehr, wieder verstärkt auf Traditionen der Wehrmacht gesetzt wird. Offensichtlich wird dieses Phänomen auch innerhalb der Bundeswehr diskutiert. In einer nichtöffentlichen Studie des Oberstleutnants Henning Hars von der Führungsakademie der Bundeswehr heißt es z.B.: „Die im engeren Sinne militärischen Leistungen der Soldaten der Wehrmacht gewinnen hier Vorbildcharakter, der auf Verbände, Großverbände und die Wehrmacht in ihrer Gesamtheit ausgedehnt wird. Deren militärhandwerkliche Qualitäten werden als Meßlatte an die eigene soldatische Professionalität angelegt. Die im gültigen Traditionserlaß gemachte Differenzierung, die durchaus zwischen tugendhafter Pflichterfüllung des einzelnen und der Rolle der Wehrmacht als militärischem Instrument des Dritten Reichs unterscheidet, wird durch die Betonung der Gemeinsamkeiten der Kriegsführungsmerkmale überlagert. … Die Generale und Admirale der Wehrmacht mögen noch so überzeugende Operationen geführt haben; ihre Demokratiefeindlichkeit hat überhaupt erst möglich gemacht, daß sich ein NS-Regime etablieren konnte. … Der Schritt von unreflektierter Bewunderung der Wehrmacht und ihrer Truppen bis hin zu rechtlich fragwürdigem und politisch extremem Verhalten ist deshalb klein.“

K. Naumann: Dem möchte ich grundsätzlich zustimmen. Das »operative Denken«, das im deutschen Militär seit langem im Vordergrund stand, ist wieder auf dem Vormarsch, und mit dem Rückblick auf die – sozusagen unschuldigen – operativen Highlights der deutschen Wehrmacht. Im Grunde genommen haben wir es hier mit einer argumentativen Kippfigur zu tun. Für die einen reduziert sich die Wehrmacht dann auf ihre Kampfkraft, für die anderen ist eben diese Reduzierung das Brückenargument, um auch den »ganzen Rest« (an Tugenden, Ehrvorstellungen, Soldatenbild usw.) für akzeptabel zu halten. Je mehr die soldatischen Phantasien sich einem hypostasierten »Ernstfall« zuwenden, desto deutlicher wird der schmale Grad, der bisweilen zwischen Kameradschaft und Komplizentum verläuft. Das konnte man übrigens bei Interviews mit Soldaten während der Ausstellung deutlich beobachten (vgl. meinen Beitrag: Kameraden oder Komplizen. Der Zweispalt ganz normaler Berufssoldaten, in: Hamburger Institut (Hg.), Besucher einer Ausstellung. Hamburger Edition: Hamburg, 1998 i.E.).

Frage: Welche Konsequenzen sollte die Bundeswehr grundsätzlich aus den Erfahrungen (mit) der Wehrmacht ziehen?

K. Naumann: Ich möchte noch einmal hervorheben, daß die Bundeswehr, besser gesagt, die Politik, mit der Wehrverfassung und der Inneren Führung, dem Leitbild des »Bürgers in Uniform« und der parlamentarischen Kontrolle der Bundeswehr (inkl. Wehrbeauftragten) grundsätzliche Konsequenzen aus der Wehrmachtserfahrung gezogen hat. Das ist das eine. Brisant wird die Bezugnahme auf die Wehrmacht in der gegenwärtigen Phase durch die vielfältigen Umbrüche, die zu einer Prüfung einer ganzen Reihe sicherheits- und militärpolitischer Grundentscheidungen herausfordern. In einer solchen Situation ist es nicht allein sinnvoll, sondern auch politisch dringend geboten, sich erneut über die Gründungsformeln und deren »Gegendaten« zu verständigen. Im Falle der Bundeswehr ist das der doppelte Rückblick auf Wehrmacht undBundeswehrgründung. Im Lichte neuer – zu erörternder – sicherheitspolitischer Anforderungen und (nicht immer ganz) neuer historischer Befunde sollten die Bestände überprüft, Bilanz gezogen und eine Reihe von Entscheidungen vordiskutiert werden – etwa die »Einsatztauglichkeit« der inneren Führung, die Frage des Übergangs zur veränderten Wehrstruktur mit einem Kern von Berufssoldaten, die Zukunft des »Bürgers in Uniform« (der Bürger, nicht Staatsbürger ist!) in einem solchen Fall, die Auseinandersetzung mit den Konsequenzen der neuen Konflikt- und Kriegsbilder (man lese nur die pessimistische Prognose von Martin von Crefeld, die Zukunft des Krieges. München, 1998.).

T. Pflüger: Die Frage nach einer aktiven Kriegsteilnahme stellte sich in Deutschland lange Zeit nicht. Jetzt steht das Thema wieder auf der Tagesordnung, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Die angesprochenen »Kämpfertypen« sind ein Teil der neuen Bundeswehr. Genau dort sehe ich derzeit die größte Gefahr (vgl. hierzu u.a. mein Buch: Die neue Bundeswehr, Neuer ISP-Verlag, Köln, 1997). Bei den Kampftruppen wird auch die Tradition der Wehrmacht aufgegriffen, Henning Hars schreibt dazu: „Die Kampfmotivation könnte sich rein theoretisch zu einem erheblichen Teil aus der gemeinsamen, erfolgreichen Bewältigung von fordernden Ausbildungs- und Übungsabschnitten entwickeln. Die auffällig gewordenen speziellen Einheiten und Verbände pflegen aber in bewußter Abgrenzung zu anderen Truppen ein Ethos des Kampfes, das sich nur partiell auf eigene Erfolge, sondern in starkem Maße auf die dokumentierten, im engsten Sinne militärischen Leistungen der »Waffengattung« in der Wehrmacht abstützt.“ Fallschirmjäger, Gebirgsjäger, Kampfschwimmer, Grenadiere oder das Kommando Spezialkräfte sind für Rechte Anziehungspunkte. Es ist deshalb das Gebot der Stunde, daß eine andere Bundesregierung als erstes diese Kampftruppen auflöst.

Frage: Welche Konsequenzen müßten Ihrer Ansicht nach für die Bereiche Militär und Außenpolitik aus der Verquickung der Wehrmacht in die Verbrechen der Deutschen im »Dritten Reich« gezogen werden?

K. Naumann: In der Bosnien-Debatte von 1995 hatte sich m.E. wieder einmal schlagend gezeigt, daß der Umgang mit den »Lehren« der Geschichte nicht eindeutig ist. Soll die Bundeswehr sich – nach Srebrenica – wegen oder trotz des Angriffskrieges und des Okkupationsregimes der vierziger Jahre an einer internationalen Friedenstruppe beteiligen? Gebietet »die Geschichte« besondere Zurückhaltung oder entschiedenes Engagement? Nach 1990 stellt sich diese Frage wiederum modifiziert: Was kann und soll die »neue« Bundesrepublik aus dem Erbe der »alten« mitnehmen – und wo kann und muß sie anders agieren? Wie kann sie ihre unübersehbare Stärke am besten und sinnvollsten einbringen? (Andrei Markovits und Simon Reich diskutieren diese Fragen gerade in ihrem neuen Buch: Das deutsche Dilemma. Die Berliner Republik zwischen Macht und Machtverzicht. Fest, Berlin, 1998). Kurzum, die Konsequenzen für Militär und Außenpolitik sind zwar normativ eindeutig (und erfordern die zuvor diskutierten Strukturen), entscheidungspraktisch aber vieldeutig. Entscheidend ist die normative Rückbindung an Verfassung und Menschenrechte – aber auf dieser Grundlage geht die Debatte erst richtig los!

Pflüger: Ich stimme dem zu, daß die Debatte jetzt erst richtig losgeht. Eine Frage könnte sein: Wollen wir eine Bundeswehr, die in ihren Kernteilen eigentlich für Kampfeinsätze ausgebildet wird, aber ihre Akzeptanz durch Einsätze an der »Oder-Front« bekommt? Ich für meinen Teil sage dazu nein, diese neue Bundeswehr will ich nicht. Die deutsche Regierung sollte auf dem Hintergrund des Dritten Reiches, von Auschwitz und dem Vernichtungskrieg eine sehr sensible Haltung zu weltweiten Militäreinsätzen einnehmen. In Japan ist es bis heute weitgehend gesellschaftlicher Konsens, daß aufgrund von Hiroshima und Nagasaki eine sehr zurückhaltende Militärpolitik betrieben wird. Warum gibt es in Deutschland nicht diesen gesellschaftlichen Konsens? Oder ist er doch latent vorhanden? Eine Lehre aus der Geschichte könnte eine allgemein militärkritische Haltung sein. Für mich stehen Ideen wie »Deutschland als internationaler Zivildienstleistender« (mit dem Problem, daß ZDL immer auch in Kriegsplanungen eingebunden sind) oder »Bundesrepublik ohne Armee« nach wie vor auf der Tagesordnung. Im Sinne des diesjährigen Mottos der Friedensdekade könnte man/frau sagen: „Eine/r muß anfangen – aufzuhören“.

Dr. Klaus Naumann ist Historiker und Journalist; seit 1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung; Mitherausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ (Bonn).
Tobias Pflüger ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V., Mitglied der W&F-Redaktion.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1998/3 Friedenskonzepte, Seite