W&F 1993/4

Kontroverse: Die Wehrpflicht als kleineres Übel

von Ottfried Nassauer

Eine öffentliche politische Debatte über das »Ende der Wehrpflicht« ist auf mittlere Sicht unausweichlich. Mit dem Ende des Kalten Krieges, der Umstrukturierung und Verkleinerung der Bundeswehr und den veränderten Haushaltsrealitäten des wiedervereinigten Deutschland sind Rahmenbedingungen vorgegeben, unter denen nicht länger allein Pazifisten und Anarchisten, sondern nun gerade auch Konservative und Militärs, die aus den vorhersehbar geringeren verfügbaren Ressourcen das Beste machen, das Ende der Wehrpflicht fordern. Mit den unvermeidlichen weiteren Reduzierungen, die der Bundeswehr aus finanziellen Gründen ins Haus stehen, ist mit einer weiteren Stärkung der Gruppe der Wehrpflichtgegner auch in der Bundeswehr zu rechnen.

Massenarmeen mit der Aufgabenstellung »Heimatverteidigung« lassen sich nur noch schwer gegenüber wachsenden Teilen der Öffentlichkeit verkaufen. Deshalb wird nun das Militär verstärkt mittels der Argumentationsfiguren »Streitkräfte als integraler Bestandteil der Staatsräson«, als »legitimes Mittel staatlicher Außenpolitik« und als »militärische Rückversicherung gegen vielfältige, unvorhersehbare Risiken« sowie »als Mittel zur Wiederherstellung des Völkerrechts« legitimiert. Längst ist die Debatte über Wehrpflicht damit Bestandteil und Argumentationsmittel in der Diskussion über eine Neulegitimation von Streitkräften und deren künftige Aufgaben geworden.

Während die Enttabuisierung der Diskussion über die Wehrpflicht zu begrüßen ist, soll einer sofortigen Abschaffung derselben in diesem Beitrag widersprochen werden. Die verbleibende Zeit muß genutzt werden, um dafür zu sorgen, daß mit der Abschaffung der Wehrpflicht nicht zugleich alternative Modelle der Bundeswehrpersonalbeschaffung implementiert werden, deren Nachteile oder Auswirkungen politisch gravierender negativ ins Gewicht fallen als beim heutigen Wehrpflicht-Modell.

Anders gesagt: Wer heute aus pazifistischen oder antimilitaristischen Gründen die sofortige Abschaffung der Wehrpflicht fordert, vertritt zwar eine moralisch ehrenwerte Position, könnte aber unter realpolitischen Gesichtspunkten möglicherweise einen taktischen Fehler mit ungewollten friedenspolitisch negativen Konsequenzen begehen.

Legitimationsmuster

Viele der für die Wehrpflicht in den vergangenen Tagen zur Genüge ins »Feld« geführten Argumente klingen angesichts der Fakten eher lächerlich: Die Wehrpflicht-Bundeswehr war, ist und wird nicht ein »Spiegelbild unserer Gesellschaft« sein; die Wehrpflicht war, ist und wird auch nicht »Garant der demokratischen Haltung der Streitkräfte« sein können. »Wehrgerechtigkeit« war über große Teile auch in der bundesrepublikanischen Geschichte eher Anspruch denn Wirklichkeit. Das alles sind und bleiben Ammenmärchen mit vor allem legitimatorischem Charakter. Bewaffnete Formationen können vermutlich schon aufgrund der ihnen eigenen Organisationsform solche Funktionen nicht oder nur für kurze Übergangszeiten erfüllen. Auf Dauer aber wirken sie gegenüber emanizapatorischen und demokratischen Zielen u.a. aufgrund ihres hierarchischen, auf Befehl und Gehorsam basierenden Charakters sicher kontraproduktiv.

In diesem Beitrag geht es nicht darum, die Wehrpflicht neu positiv zu begründen, sondern darum, daß es zur Zeit noch klüger sein könnte, begrenzt an der Wehrpflicht festzuhalten, manche Vorteile der Wehrpflicht gegenüber dem Modell einer Berufarmee noch einmal zu betonen und dafür Sorge zu tragen, daß mit Berufsarmeestrukturen möglicherweise verbundene Nachteile nicht zum Tragen kommen. Anders formuliert: Es gilt, einige Standards zu sichern, die bei jeder künftigen Militärstruktur in der Bundesrepublik nicht unterschritten werden sollten.

Vor einiger Zeit sprach ich mit einem Offizier, einem Berufssoldat, Kommandeur einer Einheit, die als Bestandteil der »Krisenreaktionskräfte« der Bundeswehr benannt wurde und zu jenen gehört, die auch bei Kampfeinsätzen der Bundeswehr mit eingesetzt werden könnten. Er wußte von vier Erfahrungen zu berichten: Erstens: Zum Dienst in seiner Einheit habe er weit mehr Freiwillige, als Planstellen. Zweitens gebe es eine deutlich wachsende Zahl von Freiwilligen, mit politisch rechter, wenn nicht rechtsextremer Grundeinstellung. Drittens wisse er immer weniger Mittel, um im Rahmen der »inneren Führung« solchen Tendenzen wirklich wirksam entgegenzutreten, und viertens beobachte er, wie immer mehr gerade liberale Offizierskollegen von den Möglichkeiten des frühzeitigen, finanziell vergoldeten Ausscheidens aus der Bundeswehr Gebrauch machen würden. Ein direkter Zusammenhäng zwischen den einzelnen Beobachtungen wurde bejaht.

Im folgenden möchte ich diese Beobachtungen als Folie benutzen, auf deren Hintergrund einige Argumente verdeutlicht werden können.

Das soziale untere Drittel wird in den Krieg geschickt

Erstens: Der Ruf nach professionellen Streitkräften wird von konservativer Seite oft damit begründet, daß nur Zeit- und Berufssoldaten für Einsätze im Rahmen der Krisenreaktionskräfte wirklich geeignet seien. Sicher ist unter militärischen Funktions- und Effektivitätsgesichtspunkten Wahres an dieser Argumentation. Die erforderliche öffentliche Diskussion über die künftigen Aufgaben der Bundeswehr – wäre die Bundeswehr eine reine Berufsarmee – würde vermutlich auf noch geringeres öffentliches Interesse stoßen.

Der Zeitpunkt der von den Konservativen eröffneten Debatte um die Abschaffung der Wehrpflicht ist nicht zufällig gewählt; denn zur gleichen Zeit schickt sich unsere Gesellschaft an, ihre Kinder zur »Verteidigung« ihrer Wohlstandsinteressen und ihres Lebenstandards (»Friedensunterstützenden Maßnahmen« genannt) in Krisen- und Kriegsgebiete auf der südlichen Hälfte und im nordöstlichen Viertel unseres Globus' zu schicken, wo sie u.U. ihr Leben lassen müssen. Hier würde es sich aber mit der Aufhebung der Wehrpflicht nicht mehr um jedermans Kinder handeln, sondern nur um jene, die finanzielle oder andere Gründe haben, sich »freiwillig« zu melden. Das Modell »Berufsarmee« impliziert, daß unsere reichen Gesellschaften einen Teil ihres »unteren« Drittels, daß sie nicht länger ernähren wollen oder können, aussenden, um die eigenen priviliegierten Lebensbedingungen »notfalls« gewaltsam perpetuieren zu können.

Alle Modelle, die den Personalbedarf der Bundeswehr ohne Wehrpflicht decken wollen, müssen explizit sicherstellen können, daß die Bundeswehr weder zur deutschen Version einer Fremdenlegion noch zu einem Auffangbecken für sozial schwächere Schichten unserer Gesellschaft wird. Nur dann kann gesellschaftliches Interesse an Aufgabe und Einsätzen der Bundeswehr erhalten werden, nur dann kann das Instrument Bundeswehr auch öffentlicher Diskussion und damit Kontrolle unterworfen bleiben. Diese Gefahren scheinen mir in der gegenwärtigen Diskussion nicht gebannt.

Zweitens: Sicher war und ist die Bundeswehr kein Ort »demokratischer« Weiterbildung. Die Bundeswehr ist nicht pluralistisch genug und zu sehr Spiegelbild der konservativen Hälfte bundesdeutscher Gesellschaft. Ganz sicher aber lohnt es, die Frage nach der Rolle der Bundeswehr für die Demokratie umgekehrt aufzuwerfen: Leistet man durch die Abschaffung der Wehrpflicht einer bereits vorhandenen Tendenz Vorschub, in deren Kontext die Bundeswehr Hort »antidemokratischer« Wertvorstellungen werden könnte? Es dürfte schwer sein, zu beweisen, daß eine Bundeswehr ohne Wehrpflicht nicht undemokratischer sein würde, als eine Bundeswehr mit derselben. Einer Entwicklung Vorschub zu leisten, in der diese Bundeswehr weiter entzivilisiert wird, in der ihr durch Entzug der Wehrpflichtigen die Begegnung mit der Realität der zivilen Gesellschaft Bundesrepublik weitgehend erspart wird, die vorrangig den rechten Rand des Gesellschaftssystems Bundesrepublik und dessen Wertvorstellungen spiegelt, ist kaum sinnvoll. Die heutige Bundeswehr gibt keinen Anlaß, sie als Hort von Rechtsradikalismus zu diffamieren; sie gibt aber auch keinen Anlaß zu unterschlagen, daß sie auf Rechtsradikale eine hohe Attraktivität ausübt. Schon Letzteres müßte als Warnung genügen, eine Freiwilligen- wie Berufsbundeswehr erst dann anzudenken, wenn gesichert dafür gesorgt worden ist, daß politischen Rechtstendenzen vorgebeugt und dem Ausbau politischen Pluralismus innerhalb der Streitkräfte erheblich mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird.

Drittens: Viele – gerade liberal oder technokratisch orientierte Befürworter – machen die Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht zu einem Bestandteil einer wie auch immer bezeichneten großen Bundeswehr-Reform. Sie sehen hier eine Chance, auf der Personalseite endlich jenen Strukturkonservativismus aufzubrechen, der seit dem Ende des Kalten Krieges versucht, die Abrüstung von Personal, Material und Infrastruktur der Bundeswehr zu begrenzen. Intendiert wird von diesen Befürwortern eine Bundeswehr, die deutlich kleiner, der sicherheitspolitischen Lage angepaßter und »leaner but meaner« ist. Je nach Position werden Gesamtstärken zwischen 280.000 und knapp 200.000 Soldaten für die Zukunft für hinreichend gehalten. Nach einem tiefen Einschnitt – so die Auffassung – gebe es dann neue Planungsspielräume für die mittel- und längerfristige Zukunft.

Auch dieser Argumentation sind gewichtige Fragen entgegenzuhalten: Wer über eine kontinuierliche abrüstungs- und demokratieverträgliche Variante radikaler Bundeswehrreform nachdenkt, sollte m.E. nicht bei der Frage nach Wehrpflicht- oder Berufsarmee beginnen. Er sollte – genau umgekehrt – bei der Infragestellung der Stellung und Rolle des Berufsoffizierkorps anfangen. Hier liegt ein wesentliches Hindernis für flexible Umstrukturierungen der Bundeswehr. Dies hat sich in den vergangenen Jahren mehrfach gezeigt. Ob »Goldener Handschlag« oder »Personalstrukturgesetz«: Der politischen Lage angepaßte Reduzierungen der Bundeswehr wurden – auch wegen der damit verbundenen kurzfristigen Kosten – immer nur strukturkonservativ in der kleinstmöglichen Variante und überproportional zu Lasten der Wehrpflichtigen und Zeitsoldaten realisiert. Eine reine Berufsarmee ist im Blick auf künftige weitergehende Reduzierungen tendentiell abrüstungsunfreundlicher und inflexibler als eine gemischte Struktur aus Berufs-, Zeit- und Wehrpflichtsoldaten. Hier unterscheidet sich die Bundeswehr – was selten beachtet wird – von den oft zum Vergleich herangezogenen Streitkräften der USA oder Großbritanniens. Die Tatsache, daß in Deutschland alle mittleren und höheren Offiziersränge der Bundeswehr gleich zweifach – da auch unkündbare Beamte – in die Privilegienstruktur des Staatsapparates der Bundesrepublik eingebunden sind, hat sich für eine an den sicherheitspolitischen Wandlungen angepaßte Personal(abbau)politik der Bundeswehr als weit hinderlicher erwiesen, als die Frage, ob die Bundeswehr als Wehrpflicht- oder als Berufsarmee strukturiert ist.

Die Lösung dieses Problems bedarf gründlicher Vorbereitung: Bestünde die Bundeswehr künftig allein aus einer Mischung von zeitlich gestaffelt strukturierten Freiwilligengruppen mit einem deutlichen Schwerpunkt bei kurzzeitigen Verpflichtungen und einer Obergrenze bei der Verpflichtungsdauer von 15 Jahren (bedarfs- und qualifikationsorientiert für höhere Dienstränge verlängerbar) und würde es sich bei diesen Verträgen um Bundesangestelltenverträge handeln, so wäre die Bundeswehrpersonalplanung erheblich flexibler und abrüstungsverträglicher.

In diesem Sinne gilt zur Zeit: Die Wehrpflicht ist – noch – das vielleicht kleinere Übel, sichert sie doch die erwähnten Standards zumindest derzeit besser als die Alternativmodelle.

Ottfried Nassauer ist Leiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS)

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1993/4 Friedenswissenschaften, Seite