W&F 1993/4

Kontroverse: Die Wehrpflicht ist überholt

von Ingrid Anker • Jürgen Kuhlmann

Seit der Ost-West-Konflikt zusammengebrochen ist, macht die allgemeine Wehrpflicht in Deutschland militärisch, ökonomisch und politisch kaum noch einen Sinn. Sie sollte abgeschafft, zumindest aber ausgesetzt werden.
Massenarmeen alten Zuschnitts – auf zwangsverpflichete junge Männer angewiesen, um ihre Mannschaftsstärke zu halten – sind heute militärisch sinnlos. Die in Zukunft anstehenden militärischen Aufgaben können sie nicht mehr leisten. Die verbleibende geringe militärische »Grundsicherung« des NATO Territoriums, zukünftige Verifikationsaufgaben in Abrüstungsprozessen ebenso wie friedensüberwachende UN Einsätze – wenn sie denn verfassungrechtlich endgültig zugelassen würden – fordern einen spezialisierten und professionell ausgebildeten Soldaten.

Angelernte Dilletanten

Der Wehrdienstleistende ist dies noch nie gewesen, wird es in Zukunft auch nicht sein können. Schon im Jahre 1973 (damals gab es noch den W-18) rechnete die Wehrstrukturkommission der Bundesregierung vor, daß zwölf Monate Wehrdienst 75% der für Wehrpflichtige bereitgehaltenen Dienstposten unzureichend, das heißt mit angelernten Dilletanten besetzen würden. Die seitdem eingetretene und auch heute immer noch zunehmende Technisierung des Militärs wird die Anforderungen an den einsatzfähigen Soldaten weiter steigern. Und eine Verlängerung des Wehrdienstes wird sich politisch nicht durchsetzen lassen – eher muß man mit noch kürzeren Zeiten rechnen, wie dies jetzt schon in Frankreich, Spanien, gar in Österreich der Fall ist.

Die Schere zwischen Anforderungen und verfügbarer Ausbildungszeit wird sich mithin weiter öffnen. Ohnehin gilt bereits heute, daß die dem öffentlichen Dienst vergleichbare Regelarbeitswoche der Soldaten die tatsächliche Präsenz der Soldaten verringert. Sogenannter Dienst zu ungünstigen Zeiten, im Manöver, auf See etc. wird mit 100% Freizeit ausgeglichen (ein Tag Dienst=ein Tag frei). Der ebenfalls zulässige finanzielle Ausgleich ist – zumindest für Wehrdienstleistende – unattraktiv und kann zudem wegen leerer Kassen kaum noch gezahlt werden.

Der Wehrpflichtige in der Bundeswehr ist zunehmend »marginalisiert«: als billige Arbeitskraft macht er die »monkey jobs«. Er geht die – weitgehend zum inhaltlosen Ritual erstarrte – militärische Wache; dient als Cheffahrer, weil der Chef sein Dienstfahrzeug nicht selbst fahren soll, obwohl er einen Bundeswehrführerschein besitzt; putzt und reinigt die Unterkünfte; wartet das Gerät; bedient in der Messe, im Unteroffiziers- und Offiziersheim, weil ohne seine wohlfeilen Dienste »standesgemäßes« Leben im Offiziers- und Unteroffizierskorps nicht erschwinglich wäre. Ein Großteil dieser Aufgaben würde entfallen, die verbleibenden effektiver organisiert, müßte man anstatt preiswerter Wehrdiensleistender voll bezahlte manpower einsetzen.

Das Problem der Wehrgerechtigkeit

In einer Bundeswehr, die von der Bonner Hardthöhe ab 1995 immer noch mit einer Personalstärke von stolzen 370.000 Soldaten geplant ist – wider besseren Wissens um die zukünftigen finanziellen Möglichkeiten im Bundeshaushalt –, sind nur noch höchstens 100.000 Dienstposten auszumachen, in denen Wehrpflichtige untergebracht werden können. Wehrdienstleistende werden sich in Einheiten der Infanterie, der Pioniere, der Transport- und Sanitätseinheiten wiederfinden, eben dort, wo es die typischen »monkey jobs« gibt. Jahr für Jahr sollen jedoch ab 1995 rund 150.000 junge Männer zum Wehrdienst heranstehen. Das Problem der Wehrgerechtigkeit – ohnehin nur auf den männlichen Teil unserer Gesellschaft definiert – wird sich weiter verschärfen.

Die Wehrpflicht ist nicht mehr bezahlbar

Spätestens nach den Wahlen des Jahres 1994 wird Minister Rühe – wenn er dann noch in diesem Amt sein sollte – dann aber auch öffentlich zugeben müssen, was die Spatzen auf der Hardthöhe jetzt schon von den Dächern pfeifen: bezahlbar sind nur erheblich weniger als 370.000 Soldaten. Es spielt dann keine Rolle mehr, ob es letztendlich 250.000 oder 200.000 Mann (und Frauen ?) sein werden – die Wehrpflicht wird fallen. Die jetzt schon eingeschränkten Verwendungsmöglichkeiten der »Bundis« werden in derartigen Streitkräften dann vollends schwinden. Daß Minister Rühe im Somaliaverband der Bundeswehr auf mehr freiwillige Wehrpflichtige zurückgreifen könnte, als die Truppe dort wirklich einsetzen will – tatsächlich sind nur 24 (!) Wehrdienstleistende vor Ort – , bedeutet keinen Widerspruch. Das – steuerfreie – Salär für einen sechsmonatigen Einsatz beläuft sich auf rund 55.000 DM. Dies hat sich in der Truppe herumgesprochen und motiviert nicht nur Wehrdienstleistende.

Das immer wieder ins Feld geführte Argument, eine Wehrpflichtarmee sei billiger als eine Freiwilligenarmee, mag für Massenarmeen gegolten haben, trifft den ökonomischen Kern reduzierter und effektiv organisierter Streitkräfte der Zukunft aber nicht. Freiwillige Mannschaftsdienstgrade (und nur um diese geht es hier) sind besser motiviert, haben längere Stehzeiten in ihren Verwendungen und können deshalb besser ausgebildet werden. Für die Bundeswehr schafft ein Freiwilliger so gut wie zwei Wehrpflichtige. Ein Freiwilliger belastet die Staatskasse mit etwa 34.000 DM jährlich, zwei Wehrpflichtige bringen es zusammen immerhin auf 48.000 DM – jeweils alle Nebenkosten eingerechnet.

Zudem produziert die Wehrpflicht weitere Kosten: Wehrerfassung und -überwachung, ständig neu zu beginnende Ausbildungsprozesse, die Administration der Kriegsdienstverweigerer und der Zivildienstleistenden verschlingen Milliardensummen – im Verteidigungsbudget und in dem der Bundesministerin für Frauen, Jugend und Familie. Nicht in Mark und Pfennig erscheinen in den Budgets all jene volkswirtschaftlichen Opportunitätskosten, die der Wehrpflichtige und die Gesamtwirtschaft zusätzlich zu tragen haben: Einkommensverlust, Zeitverlust, ökonomische Fehlallokationen, weil der Wehrsold – nicht marktgerecht – staatlich festgelegt ist. Daß Wehrdienstleistende an der Erwirtschaftung des Sozialprodukts nur begrenzt teilnehmen können, mag nebensächlich erscheinen, ist angesichts leerer Staatskassen aber nicht zu vernachlässigen: Wer nicht verdient, zahlt auch keine Steuern.

Zivildienstleistende als Billiganbieter

Jene segensreichen Dienste, die Kriegsdienstverweigerer als Zivildienstleistende den hilfs- und pflegebedürftigen Menschen bringen, sind gewiß kein Argument gegen die Wehrpflicht. Immerhin 130.000 entscheiden sich gegenwärtig Jahr für Jahr für diese Alternative, „weil es besser ist Menschen zu helfen, als sie zu töten“ (O-Ton eines Zivi im Jahr 1993). Jedoch hindert das praktizierte Zivildienstsystem die Entwicklung einer leistungsfähigen staatlichen Pflege- und Betreuungswohlfahrt mehr, als es sie fördert. Weil Zivis billige Arbeitskräfte sind (sie werden bezahlt wie Wehrdienstleistende), kann die vorhandene Nachfrage nach Pflege- und Betreuungsleistungen auf dem Markt kaum akzeptable Preise, das heißt Einkommen für die Pflegekräfte bewirken: die Konkurrenz des Billiganbieters »Zivi« ist zu groß. Der ursprünglich positive Nebeneffekt der Wehrpflicht kehrt sich so ins Gegenteil.

Mit der Wehrpflicht würde auch der Zivildienst entfallen – und es bestünde eine reelle Chance, Pflege- und Betreuungsdienste von professionell arbeitenden und marktgerecht bezahlten Kräften erbringen lassen zu können. Was man beim Wehr- und Zivildienst einsparte, wäre sinnvoll hier zu verwenden – insgesamt etwa sechs Milliarden DM jährlich, einschließlich der etwa zwei Millarden DM, die die Wohlfahrtsverbände als Träger der Zivildienststellen immer noch jährlich aus den Zivis an Reingewinn herausholen.

Wehrpflicht und Demokratie

Bereits die Wehrstrukturkommission im Jahre 1973 hat ebenso wie die sogenannte Jacobsen-Kommission der derzeitigen Bundesregierung im Jahre 1991 wohlfeilen Argumenten eine Absage erteilt, wonach die Wehrpflicht das legitime Kind der Demokratie sei und eine Freiwilligenarmee dazu neige, sich ähnlich dem 100.000-Mann-Heer der Weimarer Reichswehr zu einem Staate im Staate zu entwickeln. Gleichwohl haben beide Argumente eine zähe Überlebensfähigkeit gezeigt – kaum ein Disput, welch politischer Coleur auch immer, in dem sie nicht fröhliche Urständ feierten.

Wer jedoch meint, nur die Wehrpflicht stünde einer Demokratie als Wehrform gut zu Gesicht, möge seinen Blick nach den USA, nach Kanada und Großbritannien und demnächt auf die Niederlande und auf Belgien richten: Sie haben Berufsarmeen bzw. werden sie demnächst einrichten. Wer meint, Wehrpflicht könne Demokratie fördern, erinnere sich an die Wehrpflicht unter Hitler und Honecker in Deutschland, unter Stalin in der UdSSR, unter Pinochet in Chile.

Die Offiziere der Reichswehr, im wilhelminischen Kastengeist erzogen, dienten der ihnen verhaßten Demokratie unwillig, gewiß! Zum Staat im Staate entwickelte sich die Reichswehr aber nicht, weil sie aus Freiwilligen bestand, sondern weil das Offiziershandwerk eben jenen Junkern besonders attraktiv erschien. Hier eine Analogie zu einer Freiwilligen-Bundeswehr ziehen zu wollen, hieße die Wirksamkeit der politischen Kontrolle über die Bundeswehr etwa im Verteidigungs- und Haushaltsausschuß, in der Person des Wehrbeauftragten und im Primat der Politik über das Militär verkennen. Die Zeit- und Berufssoldaten der Bundeswehr mögen politisch eher rechts orientiert sein (47% der Offiziere bekennen sich dazu). Ihre politischen Orientierungen spiegeln jedoch insofern pluralistische gesellschaftliche Realität wider, als sie in ihrer Person den Austausch von Werten, Meinungen und Anschauungen zwischen der Gesellschaft und der Bundeswehr leisten – intensiver und länger, als es Wehrdienstleistende können. Käme eine Freiwilligen-Bundeswehr als Staat im Staate zustande, hätte sich zuvörderst die Politik vorhalten zu lassen, ihre Kontrollaufgabe unzureichend wahrgenommen zu haben.

Offiziere der Bundeswehr halten – abschließend bemerkt – nicht an der Wehrpflicht fest, weil sie anderenfalls einen Staat im Staat fürchten. Sie befürchten vielmehr, die Gesellschaft könne sich noch mehr von den Soldaten entfernen, als dies jetzt schon der Fall ist. Die Wehrpflicht wird daher instrumentalisiert: Man will nicht zu »Türken« für die Verteidigung werden, „so wie man sich ja der Ausländer für andere ungeliebte Aufgaben, etwa der Müllbeseitigung, bedient“ (O-Ton eines Bataillonskommandeurs, 1990).

Dr. Ingrid Anker und Dr. Jürgen Kuhlmann, Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr, 80799 München, Winzererstraße 52.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1993/4 Friedenswissenschaften, Seite