Konventionelle Rüstungskontrolle
Denkhilfen gegen herkömmliche Rüstungsgarantie
von Wilhelm Nolte
Ein neues Akronym greift Platz: KRK. Konventionelle Rüstungskontrolle. Wer Sprache genau nimmt, übersetzt richtig: herkömmliche Rüstungskontrolle. Da steckt keine Ermutigung drin. Herkömmliches Merkmal von Rüstungskontrollpolitik ist: Mißerfolg. Allzuoft hat sie dazu gedient, Rüstung von Ost wie West zu bemänteln und zugleich abzusichern.
Dennoch, es gibt einen Erfolg. Er liegt ein Jahr zurück: das INF-Abkommen1. Die nuklearen Mittelstreckenwaffen in Europa werden abgerüstet. Reagan und Gorbatschow hatten sich hierauf verständigt. Für beide Weltmächte war die Gefährdung durch die eigene Rüstung zu groß geworden, zu eng hatten sie sich mit den kleineren Partnern verkoppelt. Erleichert lassen sie die viel geschmähten Raketen zerstören. Öffentlichkeitswirksam werden die Trägersysteme zersägt und zersprengt. Aber nicht die Sprengköpfe2. Die bleiben verwendbar.
Schon bahnt sich der nächste Mißerfolg an. Schon fragt die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung, ob „mit (den) »START« (-Verhandlungen) nur die Fortsetzung des Wettrüstens garantiert“ wird3. START hatte SALT abgelöst. Das »L« in SALT hieß Limitation-Begrenzung. Das »R« in START sollte Reduction-Abrüstung versprechen – im nuklearstrategischen Bereich. Auch im konventionellen Bereich wurde in der MBFR-Konferenz Reduction angestrebt. Im ost-west-englischen Akronym für KRK, in CAC, ist nun weder von Begrenzung noch gar von Abrüstung die Rede. Alle verbliebene Hoffnung beschränkt sich auf bare Kontrolle: Control.
Eine CAC-Konferenz soll die in 14 Jahren ergebnislosen MBFR-Verhandlungen ablösen. CAC nennt den Verhandlungsgegenstand sprachlich korrekt: Conventional Arms: Konventionelle Waffen. Sie sollen Kontrolle unterworfen werden. Die Hoffnungen, die Vorschläge, die Mutmaßungen über das Erreichbare aber gehen über Kontrolle weit hinaus4. Hoffnungen, Vorschläge und Mutmaßungen lassen sich noch leicht formulieren. Denn noch steht ein sogenanntes »Mandat« für die Konferenz aus. Einzelne Konzepte machen die Runde. Auf den Abrüster setzen die einen, auf den Stark-Rüster die andern, auf den Abwarter die nächsten. Euphoriker verbreiten Zukunftsvisionen5, als hätten die Realpolitiker abgedankt. Mitnichten. Unverdrossen nehmen diese den »Feind« ins Visier und rechnen ihm vor6, worauf er werde verzichten müssen: auf Offensivfähigkeit, auf Invasionsfähigkeit, kurz: auf Bedrohung.
Dabei sind diese Begriffe ungeeignet, konkret zu kennzeichnen, was sie vorgeblich7 beinhalten. Einerseits nämlich leugnen amtliche Strategen gern, daß es überhaupt Waffen gebe, die als »offensiv« oder »defensiv« zu charakterisieren wären. Kampfpanzer beispielsweise, beharren sie, seien in der Hand des Verteidigers »defensiv«, aber in der Hand des Angreifers »offensiv«. Auf den Willen zum offensiven oder defensiven Gebrauch komme es an, auf die politische Absicht. Vordergründig betrachtet haben sie Recht. Waffen sind als solche handlungsunfähig, zum Gebrauch durch den Menschen gebaut. Von selbst fährt kein Panzer nach Osten oder Westen.
Aber warum versäumen die Amts-Strategen, zu erklären, welche Waffen sich zu welchem Gebrauch besser als andere eignen8? Brächten sie dies ins Gespräch, dann wäre rasch bestimmt, wer für welcherart Gebrauch – für Offensive oder Defensive – die besseren und vielleicht auch mehr Waffen vorhält, wer für Offensive mehr als für Defensive rüstet. Wer es – im Selbstverständnis des Verteidigers – unterläßt, Waffen auf diese Weise zu qualifizieren und dem Gegner vorhält, dieser wolle mit seinen Waffen nichts als Offensive möglich machen, bringt sich gegenüber der nicht-kundigen Öffentlichkeit wie gegenüber dem Gegner in den Geruch, mit den gleichen, selbst vorgehaltenen Waffen auch nichts anderes als Offensive zu wollen.9 (Kontrolle politischer Absichten macht er erst recht unmöglich.)
Invasionsfähigkeit ist der mit Offensivfähigkeit wie selbstredend eng verwobene Begriff.10 Vermutlich wird er aus Kurzsichtigkeit verwendet, wo ein anderer Begriff geboten wäre. Dabei mag politische Absicht im Spiel sein: die Öffentlichkeit soll begreifen, soll im Begriff »fassen«, wieviel mehr sie eigentlich tun müßte, um einer sogenannten Bedrohung zu begegnen, – wenn man ihr schon auf Dauer ausgesetzt bleibt. Invasionsfähigkeit vermittelt den Eindruck vom Ende. Und wer wollte das?
Das »Ende« eines konventionellen Krieges ist Kapitulation. Vor Kapitulation steht oder mit ihr einher geht: Okkupation.11 Der Aggressor besetzt das Land. Von Invasionsfähigkeit des Warschauer Paktes reden, als bedeutete sie Okkupation, heißt unterstellen: der mutmaßliche Aggressor hat hinreichend viele Truppen, um das Land zu besetzen. Und besetzt zu halten! Was sollte er mit einer Invasion bezwecken, nach deren Gelingen er seine Truppen zurückziehen muß, weil er das Land nicht in seiner militärischen Gewalt halten kann?
Okkupiert hält die Sowjetunion bespielsweise die DDR. Hier hat sie die Gewaltherrschaft des Dritten Reiches abgelöst. Von unverbrüchlicher Freundschaft zwischen Sowjetsoldaten und DDR-Bürgern wissen letztere nie zu berichten. Sie halten die Soldaten in den eng geschnittenen Uniformen für Besatzer. Die Sowjetunion braucht 400.000 Soldaten, um die 108.100 qkm große DDR besetzt und ihre 16,5 Millionen Bürger in der unverbrüchlichen Waffenbrüderschaft ruhig zu halten.
Wieviel Soldaten bräuchte sie für die 248.630 qkm Bundesrepublik? 2,5-mal so viel! Wieviel bräuchte sie für die 61 Millionen Bundesbürger? Viermal so viel? Ob die nicht schwerer zu beruhigen wären? Haben die nicht schon 40 Jahre Demokratie erlebt? Letztlich: wo eigentlich sollte die Sowjetunion diese Zigtausende von Soldaten abziehen? Aus der DDR? Aus Polen? Von der – sehr viel schwächer besetzten – Grenze zur Volksrepublik China?
Bloß von Offensivfähigkeit und Invasionsfähigkeit reden ist bloß die halbe Wahrheit. Sie verwirrt die Öffentlichkeit, statt sie aufzuklären. Denn offensivfähig und invasionsfähig ist die NATO auch.12 Allerdings ist auch sie nicht zur Okkupation in der Lage. So, wie sie zum Besetzt-Halten etwa nur der DDR nicht genügend Soldaten hat, so wenig ist sie für den Warschauer Pakt eine Bedrohung. Man muß es auch für den Warschauer Pakt zu Papier bringen: so, wie der Warschauer Pakt zum Besetzt-Halten etwa nur der Bundesrepublik nicht genügend Soldaten hat, so wenig ist er für die NATO eine Bedrohung. Eine Gefährdung stellt er dar. Offensivfähigkeit und Invasionsfähigkeit machen beide Militärbündnisse zu gefährlichen Gegnern. Sie sind in ihrer jeweiligen militärischen Potenz Gefährdungen nicht einmal nur für diesen. Sie stellen zugleich Gefährdungen für die Nicht-Gegner dar, z.B. insoweit diese bei nuklearer Kriegführung von deren Auswirkungen erfaßt werden.
Die Gefährdungen liegen bei Außerachtlassung der nuklearen Waffen im Bereich der konventionellen Rüstungen. Hierüber soll verhandelt werden, um die Gefahren unter Kontrolle zu bekommen, denen sich Ost wie West West wie Ost aussetzen.
Der erste Schritt zum Erfolg jeder Rüstungskontrollkonferenz scheint uns in einem kontrollierten Vokabular zu liegen. Der erste Schritt zu kontrolliertem Vokabular ist Kontrolle der selbst verwendeten Begriffe. Mißdeutbare Begriffe auf der eigenen Seite erschweren die untereinander gebotene Verständigung. Verständigung mit dem Gegner machen sie unmöglich. Hingegen kann es mit treffenderen Begriffen, mit den Mitteln präziser Sprache gelingen, deeskalierend Spannung aus einem Konfliktverhältnis herauszunehmen, die in den tatsächlichen Sachverhalten nicht begründet ist. Es wird sich – entspannt – leichter reden und erfolgsträchtiger verhandeln lassen.
Wir plädieren mithin für den Begriff Gefährdung – anstelle des zumeist vorgehaltenen Begriffs Bedrohung. Gefährdung charakterisiert nach unserer Einschätzung die Situation in Mitteleuropa treffender. Hardliner werden sich an die Feind-Bild-Debatte der 60-er Jahre erinnert sehen und unser Bemühen für müßig erklären, der allgemeinen Verteidigungsbereitschaft abträglich. Wir halten dagegen, daß der Ost-West-Konflikt ein ideologischer Konflikt ist, politischer Natur. Da ist es geboten, den politischen Gegner, der mit seiner Rüstung zu Offensive und Invasion fähig ist, zu Okkupation aber mangels Soldaten nicht willig sein kann, als zwar gefährlich aber durchaus nicht bedrohlich zu bezeichnen.13
Für den Gebrauch des Begriffs Gefährdung anstelle von Bedrohung spricht ein weiterer Umstand. Ein erheblicher Anteil von mit Rüstung verbundenen Risiken folgt im Falle ihrer Anwendung daraus, daß unsere zivile Infrastruktur unzählig viele Anlagen beherbergt, die im Falle ihrer Zerstörung etwa »nur« durch eigene, versehentlich »treffende« Waffen der Wirkung von konventionellen Waffen vergleichbare Zerstörungen hervorrufen.14 Sie können sogar weit schlimmer, nämlich wie nukleare Waffen oder wie andere Vernichtungswaffen wirken. Keiner der über konventionelle Rüstung Verhandelnden wird hierin eine Bedrohung ausmachen wollen. Eine Gefährdung, die selbstverursacht eskalatorisch wirken kann, wird er vor sich selbst nicht leugnen können. Freilich wird der sie auch nicht zu den Verhandlungsgegenständen der KRK-Konferenz zählen können. Aber im Auge, im Sinn muß er sie doch behalten – um der Sicherheit wenigstens der eigenen Bevölkerung willen.
Gefährdung ist der die tatsächliche Situation in Mitteleuropa präziser fassende Begriff. Denn er nimmt bei der Beschreibung des Gegners nicht nur weitersichtig die wirklichen Möglichkeiten des Gegners in den Blick. Sondern er fängt auch die Risiken mit ein und spiegelt sie wider, die der Verteidiger selbst hervorruft, ohne daß er sie dem Gegner zurechnen dürfte. Darum ist dem Begriff Gefährdung angesichts der Dringlichkeit von mehr Sicherheit in Mitteleuropa der Vorzug zu geben.
Wie immer das »Mandat«, der Auftrag an die KRK aussehen wird: nicht Erbsenzählen, nicht gegenseitige Reduzierungsforderungen, nicht blinde Vorleistungen werden den benötigten Sicherheitszuwachs auf dem Wege von Konventioneller Rüstungskontrolle erleichtern, sondern Begriffe, die Verständigung dadurch begünstigen, daß sie unmißverständlich Verständnis für den Gegner und seine Sicherheitsbedürfnisse zum Ausdruck bringen. Ein Beharren auf den herkömmlichen Begriffen aber wird nicht mehr bringen als herkömmliche Rüstungsgarantie.
Anmerkungen
1
2 eine nüchterne Bewertung legt Walter Stützle vor im SIPRI-Jahrbuch 1988: Die jüngsten Entwicklungen in Rüstung und Abrüstung – 1987 der Wendepunkt?, deutsch in: Beiträge zur Konfliktforschung, 3/1988, S. 139-163; hier S. 142 ff. Zurück
3 Jan Reifenberg: Wird mit »Start« nur die Fortsetzung des Wettrüstens garantiert?, in: FAZ vom 01.11.1988 Zurück
4 eine auf 7 Druckseiten komprimierte Stichwortbeschreibung der Positionen beider Seiten findet sich in: Heinrich Quaden: KRK I, in: SISTRA – Sicherheitspolitische Strategien, 10/87, S. 4 ff., Redaktionsstand 18.03.1988; zur Haltung der Bundesrepublik siehe: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg): Bericht zur Rüstungskontrolle und Abrüstung 1987, Bonn, 28.04.1988, S. 55 ff. Zurück
5 als herausragendes Beispiel: Jonathan Dean: dieser u.a. in: The New NATO-WTO Force Reduction Talks: An optimal outcome. in: Defense & Disarmament ALTERNATIVES, No 5/1988, S. 1 ff.: Dean hält beiderseits 50-%-ige Abrüstung für möglich. Zurück
6 Forderungen des Westens lauten hier auf „stark asymmetrische Reduzierungen von Warschauer-Pakt-Streitkräften“; vergl. H. Quaden, a.a.O. S. 4; so auch in: Erklärung zur Konventionellen Rüstungskontrolle des Nordatlantikrates am 2.03.1988, veröffentlicht in: NATO-Brief, 2/1988, S. 23 ff., hier S. 35 Zurück
7 plakativ herausgestellt in: Bundeswehr aktuell, Nr. 21/1988, Seiten 2 und 3; die Darstellung nimmt für sich Seriosität in Anspruch Zurück
8 hilfreiche Hinweise gibt die Friedensforschung, so etwa: Johan Galtung: Es gibt Alternativen – Vier Wege zu Frieden und Sicherheit, Opladen 1984, S. 213 ff. Zurück
9 Differenzierter betrachtet: Lothar Rühl: Wie offensiv ist die NATO? Wie defensiv ist der Warschauer Pakt?, in: Die Welt – Sonderdruck für die Bundeswehr, Sept. 1988, S. 2 ff. Zurück
10 hier handelt es sich nicht um eine Artikulationsgewohnheit der konservativen »Alten«; auch die »neue Generation der CDU/CSU« sieht in der „Invasionsfähigkeit des Warschauer Pakts ... die eigentliche Bedrohung“, so Volker Rühe in: Herausforderungen an die deutsche Außenpolitik, in: ders (Hrsg): Herausforderung Außenpolitik, Herford 1988, S. 24 u. 33 Zurück
11 zur Begriffstrennung vergl. Wilhelm Nolte: Zum Thema Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit, in: Egon Bahr, Dieter S. Lutz (Hrsg): Gemeinsame Sicherheit – Konventionelle Stabilität, Band III, Baden-Baden 1988, S. 333 ff., bes. S. 337 f.; Dieter S. Lutz: Zur Theorie Struktureller Angriffsunfähigkeit – Genesis, Definitionen und Kriterien ..., in: Hamburger Beiträge zur Friedens- und Sicherheitspolitik, Heft 22, Hamburg 1987, S. 48 f. Zurück
12 vergl: Werner Ebeling: Schlachtfeld Deutschland? Vernichtung oder Überleben, Friedberg 1986, S. 16, 71, 222. Zurück
13 vergl. auch Argumentationen in: Hans-H. Nolte, Wilhelm Nolte: Ziviler Widerstand und Autonome Abwehr, Baden-Baden 1984, S. 161 f. Zurück
14 hierzu u.a. Gerhard Knies: Friedfertigkeit durch zivile Verwundbarkeit oder: Über die strukturelle Kriegsunfähigkeit moderner Industriegesellschaften, in: S+F Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, 2/1988, S. 79 ff. Zurück
Wilhelm Nolte ist Oberstleutnant und leitet das Fachzentrum Dokumentation an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg.