W&F 1989/3

Konversion: Probleme und Perspektiven in der Sowjetunion

von Christa Vennegerts • Dietmar Pietsch

Vom 24.-31. Mai 1989 wurde erstmals eine deutsch-sowjetische Friedenswoche veranstaltet, die auf bundesdeutscher Seite vom Koordinierungsausschuß der Friedensbewegung organisiert wurde. Die inhaltliche Vorbereitung der einzelnen Veranstaltungen lag bei den einzelnen im Trägerkreis der Friedensbewegung vertretenen Organisationen.Die Fraktion der Grünen im Bundestag hat sich mit insgesamt drei Veranstaltungen beteiligt, darunter einer zu Fragen der Rüstungskonversion in der Bundesrepublik und in der Sowjetunion. Die sowjetische Seite war durch 3 Experten vertreten. Aus der Bundesrepublik haben u.a. Betriebsräte aus den Rüstungsbetrieben Krupp Mak, Kiel, Blohm & Voss, Hamburg und MBB, Bremen teilgenommen. Einige der dabei angeschnittenen Fragen und Probleme sollen im nachfolgenden Beitrag dargestellt werden.

Ursachen für Rüstungskonversion in der UdSSR

Die sowjetische Wirtschaft befindet sich in einem desolaten Zustand. Die Versorgung der Bevölkerung mit Gütern des täglichen Bedarfs verschlechtert sich zusehens. Selbst die an sich wenig glaubwürdigen Angaben des CIA über die Wachstumschancen der sowjetischen Wirtschaft zeichnen nach neuesten Berechnungen sowjetischer Wirtschaftswissenschaftler ein geradezu sonniges Bild der Verhältnisse. Trotz der eingeleiteten Reformen hat sich die Versorgungssituation breiter Volksschichten eher verschlechtert als verbessert. Der Wirtschaftswissenschaftler und stellvertretende Ministerpräsident Abalkin befürchtet bereits, daß die Gesellschaft sich ådestabilisierenï könnte, wenn es nicht innerhalb von zwei Jahren gelinge, die Versorgung zu verbessern. Boris Jelzin sieht gar eine årevolutionäre Situationï heraufdämmern.

Auch wenn im Detail noch unklar ist, welche Maßnahmen zur Bewältigung der ökonomischen Krise den meisten Erfolg versprechen – eines scheint bei sowjetischen Politikern, Wissenschaftlern und den Menschen völlig unstreitig zu sein: Militärausgaben in Höhe von 77 Mrd. Rubel (=ca. 210 Mrd. DM) wird die UdSSR nicht weiter aufwenden können, wenn sich die ökonomische und damit letztlich die soziale Lage verbessern soll. Auf dem Volksdeputiertenkongreß kündigte Ministerpräsident Ryschkow bereits an, daß die sowjetische Regierung beabsichtigte, die Militärausgaben bis 1995 praktisch zu halbieren. Parallel dazu sollen die durch Waffenproduktion ausgelasteten Betriebe auf die Fertigung von Zivilgütern umgestellt werden.

Es sind jedoch nicht allein wirtschaftliche Gründe, die dem Thema Rüstungskonversion in der UdSSR eine bislang nicht gekannte Aktualität verleihen. Seit dem Amtsantritt Gorbatschows ist in die sowjetische Abrüstungspolitik eine Dynamik gekommen, die die Nato-Staaten abrüstungspolitisch völlig in die Defensive gebracht hat. Innersowjetisch ist eine Demontage überholter Verteidigungsdoktrinen in Gang gesetzt worden, die auf eine Verringerung und Defensivierung der Militärapparate hinausläuft. Diese Neuausrichtung bedingt gleichfalls eine Beschneidung geplanter Beschaffungsprogramme.

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die geplante Umstellung von Rüstungsbetrieben in der UdSSR einerseits das Ergebnis einer wirtschaftlichen Notsituation, andererseits die Folge verstärkter Abrüstungsbemühungen ist.

Charakteristika der sowjetischen Rüstungsindustrie

Genaue Angaben über die Zahl der Rüstungsbetriebe und der dort Beschäftigten sind trotz Glasnost für ausländische und sowjetische Wissenschafler gleichermaßen unzugänglich. Der sowjetische Militär-Industrie-Komplex wird heute von 9 verschiedenen Ministerien organisiert. Die Kontrolle und Koordination der rüstungsrelevanten Industrien erfolgt durch die Militär-Industrielle Kommission bei dem Präsidium des Ministerrats der UdSSR. Nach Angaben des US-amerikanischen Verdeidigungsministeriums soll die Waffenproduktion in der UdSSR auf 150 Großbetriebe konzentriert sein. Weitere rd. 150 Großbetriebe sollen Ausrüstungsgegenstände, wie Radargeräte, Lastkraftwagen und Fernmeldegeräte herstellen. Die Kernbetriebe der Rüstungsindustrie werden durch tausende von Zulieferbetrieben ergänzt. Die Zahl der in der Rüstungsindustrie Beschäftigten wird auf einige Millionen Personen geschätzt. Gleichfalls US-amerikanische Quellen behaupten, daß etwa die Hälfte des für Forschung und Entwicklung zur Verfügung stehenden Personals für militärische Forschung eingesetzt wird.

Die sowjetische Industrie insgesamt ist durch eine pyramidenartige, vielstufige Struktur gekennzeichnet. Auf den oberen Ebenen der Pyramide befinden sich die Betriebe, die in der volkswirtschaftlichen Prioritätenskala der sowjetischen Planwirtschaft den höchsten Rang einnehmen. Diese Betriebe werden mit den qualitativ besten Ressourcen (Produktions- und Finanzmitteln, Arbeitskräften) ausgestattet. An der Spitze dieser Pyramide stehen die Rüstungsbetriebe.

Der hohe Rang, der der Rüstungsindustrie in der industriellen Prioritätenskala zukommt, hat zu einigen Besonderheiten geführt. Die Rüstungsindustrie erhält die besten Maschinen und Anlagen. In diesem Bereich werden höhere Löhne gezahlt und Sozialleistungen gewährt als in der zivilen Wirtschaft. Die Beschäftigten in Rüstungsbetrieben genießen Vorrang bei der Zuweisung von Wohnungen, die medizinische Versorgung ist besser.

Auch intern unterscheidet sich die Rüstungsindustrie erheblich von anderen Betrieben. Der Vorrang der Waffenbeschaffung ist so angelegt, daß das Verteidigungsministerium einen bestimmenden Einfluß auf die Entwicklung und Produktion neuer Waffensysteme hat. Für zivile Industrien verhält es sich genau umgekehrt. Eines der Hauptprobleme der sowjetischen Industrie ist die Vorherrschaft eines Verkäufermarktes und die Schwäche des Konsumenteneinflusses. Für die Betriebe besteht kein sonderlicher Anlaß, qualitativ den Konsumentenwünschen entsprechende Produkte zu fertigen und zu liefern. Hier unterscheiden sich Rüstungsbetriebe gravierend von der übrigen Wirtschaft.

In den Rüstungsbetrieben herrschen rigide Qualitätskontrollen. Das Militär entsendet Vertreter, die den gesamten Fertigungsvorgang kontrollieren, um sicherzustellen, daß das Rüstungsmaterial den militärischen Anforderungen entspricht. Diese Repräsentanten haben die Aufgabe, Engpässe durch rechtzeitige Bereitstellung von Ressourcen zu vermeiden, die Kostenentwicklung zu überwachen und auf die Einhaltung von Qualitätsstandards zu achten. Die Lieferung qualitativ minderwertiger Teile durch die Zulieferindustrie hat dazu geführt, daß die zuständigen Ministerien daran gingen entsprechende Produktionskapazitäten in den Rüstungsbetrieben aufzubauen und vorzuhalten. Dadurch soll mehr Unabhängigkeit von Zulieferanten und Sicherung der Produktqualität erreicht werden.

Auch der Maschinenpark in Rüstungsbetrieben besteht in der Regel aus modernen, technisch hochwertigeren Produktionsanlagen als in der übrigen Wirtschaft. So verfügen die Betriebe der Luftfahrtindustrie über große Bestände an numerisch gesteuerten Werkzeugmaschinen.

Zentrale Planung und Koordination bildet nur die eine Seite der qualitativ hochstehenden sowjetischen Rüstungsindustrie. Flankiert wird dieses System durch eine Vielzahl vor allem materieller Anreize für die Beschäftigten. Die Notwendigkeit, Anreizmechanismen zu entwickeln, die über die in der Volkswirtschaft bereits vorhandenen hinausgehen, ergibt sich aus den besonderen Arbeitsbedingungen in Rüstungsbetrieben. So schränken strenge Geheimhaltungsvorschriften die Privatsphäre der Beschäftigten über das ansonsten in der Wirtschaft verbreitete Maß weiter ein. Auch lassen sich hochqualifizierte Arbeiter und technisches Leitungspersonal nur bei überdurchschnittlicher Entlohnung gewinnen und motivieren. So liegt der Grundlohn für Arbeiter in der Flugzeugindustrie um ca. 7% über dem im Maschinenbau, wobei die in der Rüstungsfertigung gezahlten Prämien noch nicht eingerechnet sind.

Konversionsplanung in der UdSSR

In seiner vielbeachteten Rede vor der 43. UN-Generalvollversammlung hat Generalsekretär Gorbatschow alle Staaten, vor allem die großen Militärmächte aufgefordert, nationale Konversionspläne vorzulegen und von Wissenschaftlern einen zusammenfassenden Bericht für die UNO erarbeiten zu lassen. Darüberhinaus erklärte er: „Die Sowjetunion ihrerseits ist bereit,

  • im Rahmen der Wirtschaftsreform einen eigenen inneren Konversionsplan aufzustellen;
  • im Verlauf des Jahres 1989 als Experiment Konversionspläne für zwei bis drei Betriebe der Verteidigungsindustrie aufzustellen;
  • ihre Erfahrungen bei der Arbeitsvermittlung für Fachleute aus der Rüstungsindustrie sowie bei der Verwendung der entsprechenden Ausrüstungen, Gebäude und Anlagen für die zivile Produktion zu veröffentlichen.“

Auf dem Volksdeputiertenkongreß ist diese Aussage durch eine Grundsatzentschließung weiter konkretisiert worden: 60% der Waffenkombinate, Bomberproduktionsstätten und Panzerfabriken sollen åkonvertiertï werden. Der Ministerrat wurde aufgefordert, einen Sozialplan und einen Plan für die Umstellung der Rüstungsproduktion auf Konsumgüter vorzulegen.

Zur Behebung der akuten Versorgungsnöte soll die Rüstungsindustrie mitwirken beim Aufbau eines Maschinensystems für Ackerbau und Viehhaltung, damit die Vollmechanisierung der Landwirtschaft abgeschlossen und die Produktivität der ländlichen Bevölkerung gesteigert werden kann. Nach Aussage von Gorbatschow vor der 27. Konferenz der Moskauer Stadtparteiorganisation arbeiten die Rüstungsbetriebe z.Zt. intensiver an Aufträgen für die Leicht- und Lebensmittelindustrie, als an Aufträgen für Kampfflugzeuge.

Die Herstellung ziviler Güter ist für viele sowjetische Rüstungsbetriebe kein unbekanntes Terrain. Auf dem 24. Parteikongreß der KPdSU berichtete Breschnew, daß 42% der von Rüstungsbetrieben hergestellten Güter zivilen Zwecken diene.

Die dem Ministerium für Maschinenbau angegliederten Rüstungsbetriebe liefern seit Jahren ein buntes Sammelsurium verschiedener Zivilprodukte. Jährlich 1000 verschiedene zivile Güterarten werden hergestellt und abgesetzt: 1989 2 Millionen Kühlschränke, 2,6 Millionen Fahrräder, 3 Millionen Waschmaschinen, 700.000 Erzeugnisse der Unterhaltungselektronik, 730.000 transportable Benzinmotorsägen und 440.000 Elektroherde. Selbst so kurios anmutende Produkte wie abwaschbare Tapeten, Lampen und Hockeyschläger werden in Rüstungsbetrieben gefertigt. 1990 soll sich die Produktion ziviler Industriegüter um 50% erhöhen und zwar vorwiegend durch neue Erzeugnisse.

Ob dies gelingen wird, ist mit großen Fragezeichen versehen.

Unabhängig von den Erfolgsaussichten stimten die Teilnehmer des Seminars darin überein, daß

  1. nationale, regionale und betriebliche Umstellungsprogramme bereits hier und heute vorbereitet und ausgearbeitet werden müssen, unabhängig davon, ob international bereits weitergehende Abrüstungsmaßnahmen vereinbart wurden.
  2. Konversionspläne sowohl von staatlicher als auch betrieblicher Seite erstellt werden müssen. Ohne eine staatliche Rahmenplanung wird Konversion weder in der UdSSR noch in der Bundesrepublik realisiert werden können.
  3. Konversion eingebettet sein muß in eine regionale Entwicklungsplanung.
  4. die Voraussetzungen für Konversion in der UdSSR und der BRD sich unterscheiden: In der UdSSR besteht eine unbefriedigte Nachfrage; das Konsumgüterangebot ist unzureichend. In der Bundesrepublik sind die Grundbedürfnisse weitgehend befriedigt und Teile der Märkte gesättigt.

Zwischen den bundesdeutschen und den sowjetischen Teilnehmern ist vereinbart worden, in der näheren Zukunft gemeinsame Fallstudien zur Konversion auf betrieblicher und regionaler Ebene zu erarbeiten. Zur Weiterführung dieser Arbeit wird eine Gruppe von Betriebsräten und Grünen im Herbst in die Sowjetunion reisen.

Christa Vennegerts ist Bundestagsabgeordnete der Grünen; Dietmar Pietsch, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fraktion.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1989/3 1989-3, Seite