W&F 2000/1

Kosovo – Gewalt löst keine Probleme

Interview mit Horst Grabert

von Horst Grabert und Paul Schäfer

Menschen leben unter unwürdigen Bedingungen, Minderheiten werden verfolgt und vertrieben und eine Lösung des Konflikts ist auch 5 Monate nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien nicht in Sicht. Die Geschichte Europas lehrt, dass Gewaltlösungen früher oder später schief gehen, meint Horst Grabert, und das bestätige sich jetzt im Kosovo.
Im Interview mit Paul Schäfer zieht er eine bittere Bilanz der deutschen und »westlichen« Balkanpolitik und spricht sich für ein Zurück zu einer Politik des Gewaltverzichts und die Stärkung der internationalen zivilen Institutionen aus.

Schäfer: Herr Grabert, Sie waren von 1979 bis Ende 1984 als deutscher Botschafter in Belgrad. Kam für Sie die gesamte Entwicklung der 90er-Jahre völlig überraschend oder welche Erkenntnisse haben Sie damals in Ihrer Tätigkeit gewonnen?

Grabert: Ich habe die Entwicklung des Verfalls der alten Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien schon 84 sehen können und auch darüber berichtet. Die Bruchstelle war die Zeit, die unmittelbar dem Tode Titos folgte. Und 1981 begann der Aufstand des Kosovo, wo die albanische Bevölkerung – bei bestehender Autonomie – die Forderung erhob, eine eigene Republik zu werden – mit dem erklärten Ziel, danach aus der SFRJ auszuscheiden, um eine Vereinigung mit dem Land Albanien unter Führung der Kosovo-Albaner anzustreben.

Das war damals die Situation und der Konflikt heute ist eine späte, aber bei weitem nicht die letzte Stufe dieser Entwicklung. Es würde zu weit führen, jetzt die lange Vorgeschichte dieses Konflikts zu erörtern. Aber es ist notwendig darüber nachzudenken, was die Motive und der eigentliche Drive der albanischen Bevölkerung – jedenfalls von Teilen der albanischen Bevölkerung – war und ist: Diese Wurzeln findet man im Aufstand von 1981.

Gab es denn in der außenpolitisch verantwortlichen Elite der Bundesrepublik Diskussionen, wie man auf diese Zerfallsprozesse in einem politisch wichtigen Land Europas hätte reagieren müssen?

Man hielt das Problem nicht für dringlich. Das ist ja eine der Tragiken des Balkankonfliktes. Die eine ist, dass man wegen der wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit dieser Region kein gravierendes Problem sah. Globalstrategisch spielte Jugoslawien eine gewisse Rolle: Jugoslawien war ein führendes Mitglied der Blockfreien, sogar Mitbegründer. Das dort prägende Dreieck »Indien – Ägypten – Jugoslawien« schien festgefügt. Die Bundesrepublik hatte gute Beziehungen und Belgrad erfüllte alle Wünsche, die speziell die deutsche Politik an einen Staat »zwischen den Blöcken« richtete. Die Situation war stabil.

Die Vorgänge im Lande selbst waren Randfragen, darum musste sich die europäisch-westliche Politik nicht kümmern. Sie wurden erst relevant, als mit dem Eintreten eines Machtvakuums durch den Wegfall des Weltpols »Sozialistische Staaten« eine völlig neue Situation eintrat. Dieser Vorgang wurde auch dadurch wichtig, dass in dieses Vakuum in den auseinander brechenden sozialistischen Staaten neue Machtträger hinein stießen.

Da begann die Geschichte interessant zu werden, aber da war es schon fast zu spät. Man hätte sie vorher, in den Achtzigerjahren, natürlich leicht verbessern können. Aber selbst zu Beginn der 90er-Jahre waren die Möglichkeiten groß: Stellen Sie sich doch einmal vor was geworden wäre, wenn damals die Europäische Gemeinschaft Vorschläge eines Stabilitätspakts im Koffer gehabt hätte bevor der erste Krieg ausbrach.

Damit will ich nur andeuten, dass die Behauptung, es habe keine Alternativen zu den verheerenden Entwicklungen der 90er-Jahre gegeben hätte, in die Irre führt.

Heute spricht man viel davon, neue diplomatische Frühwarnsysteme würden benötigt und denkt dabei an den Aufbau neuer Institutionen. Ist denn der bestehende diplomatische Dienst Ihrer Kenntnis nach nicht dazu in der Lage oder liegt das Problem eher auf der Seite der politischen Exekutive, die von »early warning« nichts wissen will?

Es hat im Fall Jugoslawien genügend Hinweise der bestehenden »Nachrichtenorganisationen« gegeben – wenn ich jetzt mal den Diplomatischen Dienst so nennen darf, der ja zum Teil diese Funktionen wahrzunehmen hat.

Es ist also nicht wahr, dass in den europäischen Hauptstädten keine genauen Kenntnisse vorlagen. Ich erinnere mich noch deutlich daran, dass die Botschafter der Europäischen Gemeinschaft 1983 in Belgrad ein gemeinsames Papier über den beginnenden Zerfall Jugoslawiens verfasst haben. Diese Berichte hat man offensichtlich nicht aus dem großen Stoss der Papiere, die im Auswärtigen Amt immer anfallen, heraus gezogen. Sie sind nicht beachtet worden. Kenntnisse können eben »hinderlich« sein, wenn man Politik betreibt. Mit bestimmten Problemen möchte man nicht behelligt werden. Hinterher stellt sich raus, dass man leider etwas übersehen hat.

Man sollte also nicht immer die Ausreden ins Feld führen, wir brauchten andere, natürlich bessere Organisationen – in Wahrheit wurden nur die bestehenden nicht richtig genutzt.

Sie erwähnten, dass ein Ausweg aus der Krise auch darin gelegen hätte wenn die Europäische Gemeinschaft Ende der Achtzigerjahre eine aktive Kooperation angeboten hätte. Das verweist auf den Punkt, dass bei der Eskalation dieses Nationalitätenkonflikts auch wirtschaftliche und soziale Verwerfungsprozesse eine große Rolle gespielt haben. Wie hoch schätzen Sie denn den Anteil dieser Faktoren ein?

In Jugoslawien handelt es sich nicht um einen ethnischen Konflikt. Auch nicht um einen religiösen Konflikt. Das Konfliktpotenzial ergab sich aus dem Zerfall der zentralen Steuerung in Belgrad, in erster Linie aus dem Prozess des Zerfalls des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens. Als erstes traten die Slowenen nämlich aus dem Bund der Kommunisten aus – der eine oder andere Experte wird sich erinnern. Das geschah auf der Basis bestehender wirtschaftlicher Schwierigkeiten. Die Slowenen beklagten, dass sie einen erheblichen Teil ihres erwirtschafteten Bruttosozialprodukts in andere Republiken, speziell in den Süden Jugoslawiens abliefern mussten. Diese Form eines »Länderfinanzausgleiches« schien ihnen ein Fass ohne Boden. Hier, aber auch anderswo, begann unter dem Vorzeichen wirtschaftlicher Krisenerscheinungen die Diskussion, warum man die Unfähigkeit »derer da im Süden« bezahlen müsse. Das war ein objektiver Grund. Er wurde verschärft dadurch, dass nach dem Tode Titos eine zentrale Machtposition geräumt war. Und jeder »Republikfürst«, der in aller Regeln auch ein Parteifürst war, sah die Chance, seine Macht zu erweitern. Wir haben hier einen typischen Vorgang, dass versucht wird, ein Machtvakuum durch regionalen Machtzuwachs auszufüllen.

Ich selber habe ein praktisches Beispiel erlebt, dass wegen dieser regionalen Rivalitäten ein Geschäft mit einem deutschen Unternehmen nicht zustande kam. Die von diesem Unternehmen zu liefernden Produkte sollten durch Warenlieferungen aus Jugoslawien abgegolten werden. Dieses »Gegengeschäft« scheiterte daran, dass man sich nicht über den Standort der in Jugoslawien zu errichtenden Fabrik einig werden konnte. Der Interessenausgleich zwischen den Republiken funktionierte nicht mehr. Schon damals haben die Republiken untereinander inoffiziell viel lieber in D-Mark als in Dinar gerechnet.

So begann die Geschichte. In dieser Phase eine europäische Orientierung zu geben, wäre natürlich das adäquate Rezept gewesen. Aber vielleicht war auch die europäische Entwicklung zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht so weit, um eine gemeinsame Politik formulieren zu können.

Es wäre interessant, diese Verlaufsgeschichte mit den ordnungspolitischen Vorstellungen zu konfrontieren, die heute unter neoliberalen Vorzeichen für die Zukunft des internationalen Systems gehandelt werden. Ihrer Schilderung konnte man entnehmen, welche negativen Folgen ein Standortwettbewerb, der als gnadenlose Konkurrenz gegeneinander geführt wird, gerade für die nicht wohlhabenden Regionen haben kann. Und doch wird im neoliberalen Diskurs geradezu als Wunschvorstellung formuliert, dass man die Nationalstaaten nicht mehr brauche, sondern nur noch die einzelnen Regionen untereinander konkurrieren sollten.

Deshalb redet selbst Henry Kissinger von der »Neuen Weltunordnung«, weil er der Meinung ist – und ich teile diese Meinung – dass es eine Illusion wäre zu meinen, die Märkte und Marktinteressen könnten Staaten und Staatsinteressen ersetzen. Das funktioniert nicht. Nicht nur, weil der Markt nicht demokratisch legitimiert ist.

Wir haben uns jetzt stark mit der Vorgeschichte des Konflikts beschäftigt. Es erscheint plausibel, wenn man sagt, dass in solchen Konfliktstadien eine Einmischung von außen mit zivilen, v.a. wirtschaftlichen Mitteln aussichtsreich ist. Doch man gerät immer wieder in Situationen, in denen der Verweis, man hätte früher eingreifen müssen, nicht weiterhilft.
Was ist aber mit Konflikten, die schon in hohem Maße gewaltträchtig eskaliert sind? Gab es in der Situation der Verhandlungen von Rambouillet noch Alternativen zum gewaltförmigen Eingreifen?

Rambouillet war eine PR-Aktion. Man kann beim besten Willen nicht behaupten, dass dies eine Verhandlung gewesen sei. Man hat vorher die Ergebnisse in einem Papier nahezu vollständig vorgegeben, das veröffentlicht und gesagt: »Friss Vogel oder stirb!« Im Grunde genommen hat natürlich Madame Albright auch nicht damit gerechnet, dass auch nur der Hauch einer Chance bestand, die Serben könnten da unterschreiben. Sie war irritiert, dass die Albaner nicht unterschrieben haben, deswegen musste »nachverhandelt« werden.

Rambouillet war eine, wie man im Fachjargon sagt, »face saving operation« um sagen zu können: »Wir haben ja alles versucht!«

Natürlich hatten wir Alternativen. Nehmen Sie nur die von der OSZE beschlossene Mission. Milosevic hat ihr zugestimmt und sie nicht behindert. Sie nahm unter der Stabführung des Amerikaners Walker sehr zögerlich ihre Arbeit auf. Es ist überzeugend in dem Bericht des deutschen Brigadegenerals a.D. Heinz Loquai dargelegt, dass die OSZE-Beobachtermission bestenfalls halbherzig verfolgt wurde – weil die Maßgeblichen wollten, dass es zu einem NATO-Einsatz kommt.

Alternativlose Situationen gibt es in der Politik übrigens wirklich ganz selten. Die Frage, ob es Alternativen bis zum Beginn der Bombardierung gab, ist falsch gestellt. Wollte man sie, muss die Frage lauten. Die OSZE-Mission, konsequent durchgeführt, war eine Möglichkeit. Weil man aber zu der militärischen Variante entschlossen war, hat man die OSZE-Beobachter abgezogen. Dies hat die Vertreibungsperiode, die ja schrecklich war, mit ausgelöst. Es gab vorher auch Vertreibungen, aber nicht in einem vergleichbaren Umfang.

Nun halten sich Bundesregierung und NATO zugute, dass man mit dem Militäreinsatz, der heutigen KFOR-Administration im Kosovo und dem angeschobenen Stabilitätspakt die Region befriede, sie unter Kontrolle habe. Die Richtung stimme also. Teilen Sie diesen Optimismus?

Nein, ich sehe, dass ein wichtiges Instrument – der Stabilitätspakt ist ja im Prinzip richtig – falsch eingesetzt wird. Wenn er gleich mit der aufschiebenden Bedingung etabliert wird, dass Herr Milosevic erst verschwunden sein muss, dann kann man ihn nicht für ganz ernst gemeint halten. Jeder Mensch auf dem Balkan weiß, dass der zentrale Punkt Serbien ist. Und ohne eine Regelung unter Einschluss Serbiens wird es immer nur, wenn überhaupt, sehr marginale Erfolge geben.

Außerdem: Wir haben zunehmende Probleme in der Beherrschung der Situation – nicht nur in Bosnien, sondern auch gerade im Kosovo. Ich will jetzt gar nicht von den Aktionen der UCK, die ja weiter existiert, im Einzelnen reden. Es ist eine Selbsttäuschung zu meinen, dass sich die UCK auf das Konzept eines multiethnischen Kosovo im Rahmen Jugoslawiens einlassen würde. Davon kann keine Rede sein. Auch der neue, starke Mann Thaci hält an den 1981 eingenommenen Positionen fest. Wenn Frau Albright dann Thaci, wie kürzlich geschehen, als »Mister Prime Minister« bezeichnet hat, dann wird diese Entwicklung gestützt. Will man das vielleicht? Das wird sich noch rächen. Das »albanische Kosovo« ist nach wie vor das Ziel der UCK, aber überwiegend nicht aus ethnischen Gründen. Bei dieser politischen Richtung sind die Albaner, die nicht der Meinung von Herrn Thaci sind, genau solche Feinde wie die Serben oder die Roma oder wie jetzt die Kroaten. Die ersten Toten, die aufgrund der Aktivitäten der UCK festgestellt worden sind, waren Albaner, Anhänger von Herrn Rugova. Wie Europa mit diesen Machtansprüchen zu Rande kommt, bleibt abzuwarten.

Die Schlussfolgerung ist aber grundsätzlicher: Protektorate sind die ultima ratio einer falschen Politik. Sie können nicht zu einem befriedigenden Erfolg führen. Sie können nur in eine »Erstickungssituation« hineinführen. Dies blockiert auch in gewisser Weise den Stabilitätspakt. Natürlich werden einige Länder versuchen, auf diese Art und Weise Finanzierungsquellen zu erschließen – was ja legitim ist. Aber beim Stabilitätspakt müsste es um eine selbsttragende, nachhaltige Entwicklung für die gesamte Region gehen. Ein solcher Ansatz wird schon durch die Bedingung des Sturzes von Milosevic in Frage gestellt. Ich sage, man muss sich eine andere Serbienpolitik überlegen. Herr Milosevic ist kein Friedensengel, ganz im Gegenteil. Ich kenne ihn sehr gut und habe oft mit ihm gesprochen. Da war er noch Bankdirektor. Aber das regionale Befriedungsprojekt der EU an die Frage nach der Person Milosevic zu hängen, nur um die Legitimität des NATO-Krieges nicht in Zweifel geraten zu lassen, ist irrwitzig.

Man ist versucht zu sagen, dass es bei der ganzen Geschichte gar nicht um die Lösung der regionalen Probleme geht, sondern dass vielleicht auf der Bühne »Jugoslawien« bzw. »Balkan« ganz andere Stücke aufgeführt werden.

Sehen Sie denn noch die Möglichkeit, die »Unabhängigkeit« des Kosovo, die ja wiederum ein Präludium für den Anschluss an Albanien wäre, zu verhindern? Schon heute ist aus dem State Department der USA zu hören: „Zunächst nicht.“ Da scheint das letzte Wort noch nicht gesprochen zu sein?

Es gibt natürlich kein letztes Wort. Die Amerikaner sind eine Weltmacht, die viele andere Dinge in Betracht zu ziehen haben. Die Dekolonisierung Afrikas gelang nur unter dem Regime der bestehenden Grenzen. Hätte man damals an einer Stelle in Afrika begonnen, Grenzen zu ändern um getrennte Stämme zu vereinigen, was ja viele humanitäre Organisationen – durchaus verständlich – gefordert haben, dann wäre die Dekolonisierung Afrikas nicht gelungen. Sie wäre viel früher in ein fürchterliches Gemetzel abgeglitten.

Sehen Sie sich heute die relativ ungeordnete Situation in dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion an. Wenn da versucht würde, mit Bezug auf den Kosovo, Grenzen gewaltsam zu ändern, was ja an einigen Stellen schon beginnt, dann weiß niemand mehr, wie eine solche Entwicklung weitergeht oder wo sie endet. An dem Prinzip der Nichtveränderbarkeit der Grenzen, mit der Ausnahme freiwilliger Übereinkünfte, darf nicht gerüttelt werden.

Willy Brandt hatte mit seiner Friedenspolitik genau dies verstanden als er sagte: „Wir wollen den Charakter der Grenzen ändern.“ Dies ist natürlich auch für den Balkan eine Möglichkeit. Das setzt allerdings ein anderes Herangehen der westlichen Staaten an das Problem voraus.

Man sollte zum Beispiel eng mit den Russen zusammenarbeiten. Für Russland ist der Balkan von großer Bedeutung. Weniger als Region und nicht wegen der »fiktiven« Jahrhunderte alten religiösen Verbindungen. Es ist ein Weg an den großen Tisch. Russland muss dabei sein, wenn es seine 1B-Position als Weltmacht wieder erringen will, oder wie ein Russe sagen würde, um sie aufrecht zu erhalten.

Für die NATO scheint der Kosovo-Krieg doch ein Präzedenzfall gewesen zu sein, welche Rolle die Allianz bei Krisen im euro-atlantischen Raum zu spielen gedenkt. Gleichzeitig mehren sich die Stimmen, die sagen: So nicht. War Kosovo ein »Muster ohne Wert«?

Es hat sich erwiesen, dass die NATO nicht geeignet ist, eine wirklich krisenbewältigende Politik zu machen. Wenn sich die Politik des Westens unter Führung der Vereinigten Staaten nicht erheblich ändert, wird es sogar immer schwerer werden, regionale Konflikte dieser Art zu lösen. Die eigentlichen Krisen haben wir noch vor uns. Wir sollten nicht der Illusion anhängen, mit dem Kosovo wäre das Schlimmste überstanden.

In spätestens zwanzig Jahren werden wir mit sehr viel schlimmeren Krisengefahren zu tun haben – v.a. was das Gebiet um das Kaspische Meer betrifft. Da geht es real um die letzten großen Erdölreserven der Welt. Insofern sollte niemand den gegenwärtigen Tschetschenien-Krieg falsch einordnen. Es handelt sich auch dort nicht um die Verfolgung von Terroristen, genauso wenig wie in Armenien, in Georgien oder der ganzen Kaukasusregion.

Wir befinden uns immer noch im Anfangsstadium. Das alles hängt auch mit dem Kosovo-Krieg zusammen. Wer auf die Schaffung von Protektoraten aus ist, wird zukünftig in große Schwierigkeiten kommen.

Sie haben Protektorate als „ultima ratio einer falschen Politik“ bezeichnet. Die Frage bleibt aber doch, soll man diese krisenhaften Entwicklung sich selbst überlassen. Wir sehen am Beispiel Somalia, dass dies auch keinen Ausweg bietet. Was also kann man von außen machen, was sollte man machen und wovon sollte man die Finger lassen?

Die Entwicklung des Europas der Sechs, des Europas der Neun – von immer mehr Staaten – führte über gleichberechtigte Verhandlungen. Keiner, auch kein kleiner Staat wurde untergebuttert. Dies ist ein entscheidendes Prinzip. Gleichberechtigung statt ständiger Bevormundung durch die Großen.

Ein europäische zivilisierte Gemeinschaft wird es auch nur geben, wenn Europa an einem weiteren Prinzip festhält. Es wurde 1975 in Helsinki verankert: Die Androhung und die Anwendung von Gewalt müssen geächtet bleiben. Wir haben Helsinki und dieses Gewaltanwendungs- und Androhungsverbot im Westen als einen großen Sieg unserer moralischen Überlegenheit im Kampf der Systeme betrachtet. 24 Jahre danach wurde dieses Prinzip über Bord geworfen. Wir haben Gewalt angedroht, in Rambouillet. Danach wurde ein Land angegriffen, das nicht seinerseits einen Krieg begonnen hatte. Heute heißt es wieder bei vielen Gelegenheiten: »Wenn Ihr euch nicht wohl verhaltet, dann kommt der dicke Stock!« Und es gibt wieder verbreitet die Meinung bei aktiven Politikern: Diplomatie braucht immer eine starke Gewalt hinter sich. Was für ein Unsinn! Natürlich kann es Situationen geben, in denen man so argumentieren könnte. Aber grundsätzlich ist die Geschichte Europas der Gegenbeweis. Wenn wir Gewaltlösungen versucht haben, sind sie früher oder später schief gegangen. Da will ich erst gar nicht Herrn Hitler erwähnen. Dieser deutsche Versuch war nur der schrecklichste. Und aus diesen Erfahrungen heraus haben wir 1975 – das war eine sozialdemokratische Musterleistung unter den Kanzlern Brandt und Schmidt – diesen Gewaltverzicht etabliert. Alle Staaten von Vancouver bis Wladiwostok haben unterschrieben.

Der durch die Bombardierung Serbiens verletzte Status des strikten Gewaltverzichtes muss wieder hergestellt werden.

Wir müssen ein Zweites tun. Mit dem Krieg der NATO hat unter Führung der Vereinigten Staaten ein kleiner Teil der Welt entschieden und sich über die UNO in die globale Führungsposition gestellt. Die Bundesregierung hat damit eine Politik aufgegeben, die gerade Deutschland seit Jahrzehnten verfolgt hat. Wir haben uns damals sehr bemüht, dass die beiden deutschen Staaten gemeinsam beitreten. Wir haben in allen Programmen der Regierungs- und Oppositionsparteien eine hohe Wertschätzung der Vereinten Nationen.

Nun wurde mit deutscher Beteiligung ohne Not ein Krieg begonnen, der die UNO an den Rand drängte und der nicht durch die Vereinten Nationen legitimiert war. Es war ein glatter Völkerrechtsbruch, nur mit sehr fadenscheiniger Camouflage versehen. Wir müssen die Konsequenz daraus ziehen und das vereinbarte Völkerrecht wieder herstellen. Erst dann wird man es entwickeln und ändern können – im Konsens, aber nicht mit Androhung und Anwendung von Gewalt.

Wir müssen die Anwendung des Gewaltpotenzials in die Hände des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zurück geben. Die Akzeptierung des Gewaltmonopols der Vereinten Nationen ist eine Grundvoraussetzung für die friedliche Entwicklung in Europa.

Inzwischen hat sich bei der Kindererziehung herumgesprochen, dass das Verprügeln der Kinder keinen pädagogischen Erfolg hat. Wir sollten diese Erfahrung auch auf andere Lebensbereiche übertragen.

Die Amerikaner sind meines Erachtens auf dem Holzwege wenn sie meinen, durch die Fähigkeit jeden Ort der Welt mit Präzisionswaffen aus der Luft angreifen zu können würde sich ihre Weltmachtstellung verbessern. Ich behaupte es ist der Anfang des Niedergangs dieser Weltmacht. Es gibt kluge Leute in Amerika, die darüber diskutieren und zu ähnlichen Auffassungen kommen. Selbst ein Mann, der nun wirklich Realpolitik betrieben hat wie Henry Kissinger hat erkannt, dass diese Politik zu einer Weltunordnung führt.

Nun ziehen ja Leute gerade den Schluss daraus, dass Europa sich von den Vereinigten Staaten emanzipieren müsse. Gerade Kosovo hätte gezeigt, dass Europa als eigene Militärmacht auftreten sollte. Wie sehen Sie das?

Leider ist die Welt nicht so schön wie wir sie uns erträumen. Und ich bin nicht in dem Sinne Pazifist, dass ich echte Verteidigungskriege für unmoralisch hielte. Daher hielte ich es für fahrlässig, wenn Europa, oder Teilstaaten von Europa, sich nicht auf Situationen vorbereiteten, in denen man sich verteidigen muss. Ich rede davon, dass die Androhung und Anwendung von Gewalt als Element aktiver Politik verwerflich ist – nicht die Vorkehrung gegen eine verwerfliche Politik.

Eine europäische Verteidigungspolitik wäre für Sie ein Instrument das zur europäischen Einigung dazu gehört?

Ja. Auch ein gemeinsames Europa, was ja noch nicht existiert, wird ein Instrumentarium haben müssen, um sich, wie die Österreicher sagen, allfälligen Bedrohungen stellen zu können. Und kein Mensch kann sagen, wie sich die Welt weiterentwickelt. Sollte sich beispielsweise die Entwicklung in Russland weiter chaotisieren, wer ist dann sicher dass es nicht der abschirmenden Gewalt einer Verteidigungskraft bedarf? Das hat nichts damit zu tun, dass ich das Militär wieder als Komponente von Außenpolitik sehen würde. Auch in Deutschland wird dieser Unterschied zwischen Verteidigungspolitik und militärisch aktiver Außenpolitik zusehends verwischt. Ein außenpolitischer Gestaltungsanspruch, der unsere Interessen aktiv militärisch verteidigen bzw. durchsetzen will, ist äußerst gefährlich und führt in die Irre.

Von der Frage, ob wir auf der Welt weniger Militär, weniger Abschreckung, weniger militärische Gewalt bekommen, hängt nicht zuletzt das Wohl und Wehe der weiteren Entwicklung ab. Wir sind immer noch in der Situation, dass sich die Menschheit selber vernichten kann. Das ist durch die Auflösung der Blockkonfrontation auf der nördlichen Halbkugel nicht geändert. Diese Gefahr wird nicht geringer dadurch, dass die Atomwaffenbesitzer an ihrem Monopol festhalten wollen und ständig mit ihrer überlegenen militärischen Macht drohen. Die Gefahr, dass kleinere Länder sich bemühen werden, auch Massenvernichtungswaffen in die Hand zu bekommen, wächst ständig. Sicherheit bekommen die Nicht-Atom-Staaten aber erst dadurch, dass die Großen ihre Atomarsenale stark abbauen und darauf verzichten, mit ihrer Überlegenheit zu drohen bzw. sie anzuwenden.

Dieses Beispiel zeigt, dass ein Mehr an militärischer Macht die Welt nicht sicherer macht. Im Gegenteil. Außenpolitik die meint, sich v.a. auf militärische Macht stützen zu müssen, führt uns nur näher an den Abgrund.

Horst Grabert war von 1972 bis 1974 Chef des Bundeskanzleramtes, danach Botschafter der BRD, von 1974 bis 1979 in Wien, von 1979 bis 1984 in Belgrad und von 1984 bis 1987 in Dublin.
Paul Schäfer ist Diplom-Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag und Redakteur von W&F.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/1 Der schwierige Weg zum Frieden, Seite