W&F 1995/2

Krieg ist kein Mittel der Politik

von Hans Eichel

Sehr geehrter Herr Professor Teller, meine Damen und Herren,

der Direktor der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Herr Professor Czempiel, hat am vergangenen Samstag in einem längeren Zeitungsbeitrag dankenswerterweise auf die ungebrochene Aktualität von Immanuel Kants Aufsatz „Zum ewigen Frieden“ hingewiesen, der vor 200 Jahren entstanden ist. Ich freue mich darüber, daß mit dem Zeitungsbeitrag Kants Aufsatz wieder einmal einem größeren Publikum bekannt gemacht wurde.

Obwohl sich „Zum ewigen Frieden“ bruchlos und konsequent in Kants philosophisches Werk einfügt, bleibt der Aufsatz neben den großen kritischen Schriften allzuoft unbeachtet. Dabei lohnt es sich gerade heute, Kants friedenspolitische Gedanken nachzuvollziehen. Denn mit dem Ende der Blockkonfrontation haben wir noch keinen Zustand erreicht, den wir als gesicherten, dauerhaften, vielleicht sogar »ewigen« Frieden bezeichnen könnten. Selbst in Europa – wir erleben es ja täglich am Fernsehschirm – gibt es an vielen Orten ein bedrohliches Konfliktpotential. Diese Potentiale zu erkennen, ihre Ursachen zu beschreiben und Wege zu ihrer friedlichen Bewältigung zu suchen, bleibt auch heute eine unserer vordringlichsten Aufgaben.

Deshalb bleibt auch die wissenschaftliche Begleitung der Friedenspolitik notwendig und wichtig. Die Friedensforschung hat ihre Funktion nicht verloren. Ihre Aufgabenstellung hat sich geändert: weg von der Untersuchung der globalen Auseinandersetzung zweier Militärblöcke, hin zur Untersuchung der jetzt aufbrechenden regionalen Konflikte.

Wenn wir von regionalen Konflikten sprechen, dann dürfen wir nicht dem Irrtum verfallen, daß diese Auseinandersetzungen weniger gefährlich, weniger unmenschlich seien und weniger wichtig. Diese Konflikte sind genauso gefährlich, unmenschlich und wichtig, wie die alte Blockkonfrontation. Das gilt nicht etwa nur für die unmittelbar Betroffenen; denn aus einer regionalen Auseinandersetzung kann immer auch ein Flächenbrand entstehen. Allein der Blick auf die Atomwaffenarsenale überall in der Welt macht uns eindringlich deutlich, wie wichtig eine konsequente Friedenspolitik ist. Der Vorschlag von UNO-Generalsekretär Bhutros Ghali, auf die vollständige Abschaffung der Atomwaffen hinzuarbeiten, ist dazu ein wesentlicher Baustein.

Ich begrüße es, daß die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung den Abwurf der beiden ersten Atombomben vor 50 Jahren zum Anlaß nimmt, in einer umfangreichen Veranstaltungsreihe das historische Geschehen aufzuarbeiten, um aktuelle Lehren daraus zu ziehen.

Hiroshima und Nagasaki machen jedem, der sehen kann, augenfällig, daß der Krieg im Atomzeitalter definitiv kein Mittel der Politik mehr sein kann. Selbstverständlich war er es eigentlich zu keiner Zeit. Immanuel Kant hat schon vor 200 Jahren in bis heute nachvollziehbarer Weise dargestellt, wie eine erfolgreiche Friedensordnung aussehen könnte. Aber während alle Kriege, so schrecklich sie auch waren, vor der Explosion der ersten Atombombe die Existenz der menschlichen Gattung nicht grundsätzlich gefährden konnten, wird durch die Nukleartechnik das irdische Leben insgesamt in Frage gestellt. Seit die Wissenschaftler die Urkräfte des Atoms entfesselt haben, darf es nicht mehr zu Kriegen kommen, in denen diese Waffen eingesetzt werden könnten. Wir müssen heute politische Bedingungen schaffen, die bestehende Konflikte auf friedlichem Wege abbauen und neue Konflikte nicht gewalttätig ausbrechen lassen.

Ich bin sicher, daß diese Veranstaltungsreihe der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung einen wichtigen Beitrag dazu leistet, Wege zur friedlichen Konfliktbewältigung aufzuzeigen. Sie wird auch einen Beitrag dazu leisten, das historische Geschehen angemessen einzuordnen.

In Deutschland erleben wir in diesen Tagen eine beschämende Diskussion darüber, wie das Ende des Zweiten Weltkriegs zu bewerten sei. Das Ende dieses Krieges bedeutete die Befreiung vom Nationalsozialismus. Daran kann es keinen vernünftigen Zweifel geben. Die militärische Niederlage Deutschlands, die leider – muß man als Deutscher sagen, da wir nicht fähig waren, dies verbrecherische Regime abzuschütteln – die notwendige Bedingung für das Ende des Nationalsozialismus war – die militärische Niederlage Deutschlands war ein Glücksfall für die Menschen in ganz Europa, auch für uns Deutsche. Es ist unredlich, die Opfer, die Deutschland zu beklagen hatte – und das waren gewiß auch viele, aber noch viel mehr bei anderen Völkern, und ich denke an den Holocaust, den man ohnehin nicht aufrechnen kann –, die Opfer, die Deutschland zu beklagen hatte, den Alliierten anzulasten. Der Zweite Weltkrieg ist von Deutschland ausgegangen, und hierher ist er wieder zurückgekehrt. Wer, wie wir alle, um die deutschen Toten trauert, der trauert um den Verfall der Demokratie, des Friedens und der Menschlichkeit in Deutschland seit 1933. Sie, Herr Professor Teller, haben es ja am eigenen Leibe gespürt: Sie haben zweimal fliehen müssen, einmal auch aus diesem Deutschland. Hier liegt die Ursache für alle Opfer, und deshalb hat niemand in Deutschland Grund, das Ende des Zweiten Weltkrieges anders zu bewerten denn als eine Befreiung, so wie es vor 10 Jahren in jener wünschenswerten Deutlichkeit unser damaliger Bundespräsident Richard von Weizsäcker gesagt hat. Und deswegen ist mir die Debatte heute, 10 Jahre später, 50 Jahre nach Endes des Krieges, umso unverständlicher.

Wir können das Geschehene nicht ungeschehen machen. Lassen Sie uns deshalb heute alles tun, um eine Wiederholung zu vermeiden, damit wir gemeinsam in Sicherheit und Frieden leben können. Das ist unsere Aufgabe heute.

Hans Eichel ist Ministerpräsident des Landes Hessen. Er eröffnete den Vortragszyklus „Hiroshima und Nagasaki“ mit dieser Rede.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1995/2 Hiroschima und Nagasaki, Seite