W&F 2010/4

Krieg oder Frieden im Mittleren und Nahen Osten

Eine Kritik an Harald Müllers Studie zum Iran-Atomstreit

von Mohssen Massarrat

Harald Müller, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, hat in einem »Standpunkt« der HSFK unter dem Titel »Krieg in Sicht?« Position bezogen zum iranischen Nuklearprogramm und dem Sicherheitsdilemma Israels.1 Müller kritisiert, dass die Regierung Obama merkwürdig verhalten auf die Drohkulisse des Iran reagiere, und legt dar, warum in der gegenwärtigen Situation ein militärischer Schlag Israels gegen den Irak wahrscheinlicher und aus seiner Sicht auch verständlicher werde. Mohssen Massarrat verurteilt nicht nur diese »Kriegsrechtfertigung«, er befasst sich auch kritisch mit der Analyse des Konfliktherdes durch Harald Müller und schlägt eigene Alternativen zu dessen Lösung vor.

Im Mittleren und Nahen Osten stehen die Zeichen wieder auf Sturm, Fidel Castro warnte gar eindringlich vor einem Atomkrieg, der in dieser Region losgetreten werden könnte. Norman Birnbaum, linker Soziologie-Professor der Georgetown University und Kennedy-Berater, beklagt bitter das Desinteresse der amerikanischen Öffentlichkeit für die Krieggefahr in fernen Regionen und sieht die Israel-Lobby in Washington am Werk, um den Weg für einen israelischen Angriff auf den Iran zu ebnen.2 Deshalb und auch wegen fehlender Fantasie der US-Regierung, den Afghanistan-Krieg mit Hilfe der Nachbarstaaten Indien, Pakistan und Iran zu beenden, wendet sich Birnbaum beinahe verzweifelt an die „europäischen Freunde“, die „vielleicht helfen könnten, eine kriegskritische Haltung auch in der US-amerikanischen Öffentlichkeit zu verankern“, um dann allerdings nüchtern hinzuzufügen, dass „ für eine solche Herkulesaufgabe Freunde von Format nötig wären, die wir aber nicht haben. Denn Cameron, Merkel, Sarkozy haben sich längst in den Marsch der Lemminge eingereiht, der uns an den Rand des Abgrunds führen wird.“

Ich stimme dem Kriegsgegner aus Washington uneingeschränkt zu.3 Tatsächlich verharrt Europas politische Klasse geistig immer noch in den sicherheitspolitischen Denkkategorien der Kalten-Kriegs-Ära, und davon scheinen auch Friedens- und Konfliktforscher nicht ausgenommen. Manchen fällt beispielsweise im aktuellen Atomkonflikt des Westens mit Iran nichts weiter ein, als auf den sicherheitspolitischen Geist vergangener Epochen zu blicken, der die Welt den Zielen Frieden und Stabilität keinen Millimeter näher gebracht hat. Die Rede ist hier konkret von einer Studie des Direktors der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, Harald Müller, über »Das iranische Nuklearprogramm und das Sicherheitsdilemma Israels«.4 Schon der Titel der Studie verrät den einseitigen Blick auf das Problem, der – wie die Studie insgesamt – die Realität von Israels Atomwaffenarsenal als dem eigentlichen historischen Hintergrund und das Sicherheitsdilemma, das sich daraus für alle Nachbarstaaten ergibt, regelrecht auf den Kopf stellt.

Bedrohungsanalyse

Die Bedrohung komme, so Harald Müller gleich in der Einleitung seiner Studie, eindeutig aus dem Iran, während Israels Führung in einem Dilemma stecke, „das sich immer mehr zuspitzt, je weiter der Ausbau iranischer Anreicherungsanlagen voranschreitet“ und, so Müller weiter, „dieses Sicherheitsdilemma [macht] einen militärischen Schlag [Israels] wahrscheinlich und verständlich“ (S.1f.).5 In seinem Text findet man tatsächlich einen roten Faden, der, wenn man ihm folgt, einen Militärschlag Israels verständlich macht. Müller beginnt seine Analyse mit einem „Sachstandsbericht“ über Irans Nuklearprogramm, in dem er eine lange Liste der tatsächlichen oder vermeintlichen iranischen Vergehen (Lügen, Verheimlichungen und sonstige Verstöße) gegen den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV)) zusammenstellt (S.2f.).

Selbst wenn man das Sündenregister Irans für bare Münze nähme, das Müller auflistet, bliebe die Frage offen, warum Müller – wie übrigens auch westliche Regierungen und sämtliche etablierte Medien – nur ein einziges Land kennt, das gegen den NVV verstößt. Bekanntlich waren es Länder wie Israel, Indien und Pakistan, die mit ihrem Atomwaffenarsenal – sogar mit heimlicher Beteiligung bzw. Billigung der Atomwaffenmächte – die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen eingeleitet haben. Diese Länder legen auf das Völkerrecht und auf eine internationale Kooperation in Atomwaffenfragen offensichtlich keinen Wert und sind deshalb dem NVV auch nie beigetreten.6 Müller vergisst ebenfalls die Erwähnung, dass sämtliche fünf »offiziellen», d.h. vom NVV anerkannten, Atomwaffenstaaten den NVV in einem existentiellen Punkt verletzen, indem sie ihrer Verpflichtung nicht nachkommen, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und internationaler Kontrolle“ (Artikel 6 NVV). Mir ist nicht bekannt, dass die Atomstaaten wegen ihrer groben und auch folgenreichen Missachtung des Völkerrechts je so massiv die Gemüter berührt hätten, wie die vermeintlichen Verstöße des Iran gegen den NVV. Dabei ist m. E. diese Missachtung der Atomwaffenstaaten selbst eine wesentliche Ursache dafür, dass Staaten wie der Iran sich legitimiert fühlen, den NVV ebenfalls nicht ernst zu nehmen bzw. ihn für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

Doch ist es nicht allein die Missachtung des NVV, die Iran zur Last gelegt wird. Dieses Land habe nach Müller auch einen gefährlichen Präsidenten, dessen Ideologie des Mahdismus, „eine millenarisch-messianisch-apokalyptische Version des Schiismus“, u. a. das Ziel der „Zerstörung Israels als Fremdkörper im »Heiligen Land des Islam«“ verfolge (S.3f.). Viele Iraner, auch ich als iranischstämmiger Bürger der Bundesrepublik Deutschland, teilen durchaus Müllers Sorge, was Mahmud Ahmadinedschad tatsächlich im Schilde führt und was er der Mehrheit der Iraner, die er gar nicht repräsentiert, noch alles zumuten wird. Insofern trifft Müller hier tatsächlich einen wunden Punkt. Dennoch ist es höchst irreführend, die unterstellte iranische Bedrohung selektiv auf Ahmadinedschads Gesinnung abzustellen:

Erstens reichen die Planungen des iranischen Atomprogramms – übrigens mit amerikanischer und deutscher Hilfe – bis in die 1960er Jahre,7 also in einen Zeitraum zurück, in dem Ahmadinedschad noch ein Kind war und der Schah regierte. Zweitens ist Ahmadinedschads Spielraum in Fragen von Krieg und Frieden, zumal im Konflikt mit einer Atommacht wie Israel, gerade jetzt nach der Wahlfälschung und nachdem er beträchtlich an Ansehen und Macht innerhalb des Systems verloren hat, erheblich eingeschränkt. Das weiß Harald Müller auch; so hebt er an einer anderen Stelle seiner Studie hervor, wie vorsichtig die politische Führung der Islamischen Republik mit Israels Gaza-Krieg umgegangen ist. Er selbst weist darauf hin: Der iranische „Sicherheitsberater Jalili verlangte während eines kurzfristigen Besuches im Libanon von der Hisbollah, gegenüber Israel stillzuhalten, Revolutionsführer Khamenei untersagte es, iranische Freiwillige als Selbstmordattentäter Richtung Palästina ausreisen zu lassen“ (S.10).

Abgesehen von Widersprüchen in Müllers Expertise, die man zwischen den Schlussfolgerungen und den von ihm selbst angegebenen Fakten an mehreren Stellen feststellt, und ungeachtet seiner Behauptung einer akuten iranischen Bedrohung, fragt man sich, weshalb Müller den Bedrohungen, die für den gesamten Mittleren und Nahen Osten von einer gefährlichen Entwicklung in Israel ausgeht, keine einzige Silbe widmet. Israel wird inzwischen von Männern wie Netanyahu, einem notorischen Gegner des Nahostfriedens sowie der Zweistaatenlösung, und noch schlimmer von Avigdor Liebermann regiert, der offen für die Vertreibung israelischer Araber plädiert. Müller blendet in seiner Bedrohungsanalyse auch die unüberhörbaren Drohungen von Israels Regierungen mit Militärschlägen gegen den Iran aus und suggeriert mit der Bemerkung, „es kann keine Rede davon sein, dass die Mehrheit der Israelis und ihre Regierung auf einen militärischen Konflikt mit dem Iran aus sind“ (S.9), das Bild eines friedfertigen Israels. Dass aber „die Iraner – ausweislich der Umfrage – mit großer Mehrheit für eine politische Versöhnung mit den vermeintlichen Feinden“ sind, wie Müller selbst an einer anderen Stelle feststellt (S.8), hindert ihn nicht daran, Iran Kriegswilligkeit zu unterstellen.

Müller scheint auch in der historischen Entwicklung der feindseligen Beziehungen zwischen Israel und Iran die Reihenfolge zu verwechseln. Schon das Politikkonzept des israelischen Ministerpräsidenten Rabin seit 1992 beinhaltete eine Dämonisierung des Iran, wie »Le Monde diplomatique« in der nüchternen Geschichtsanalyse »Wie der Iran zum Feind wurde« herausarbeitete. „Jossi Alpher, einer der engsten Berater Rabins, erklärte vier Tage nach dem Wahlsieg Bill Clintons im November 1992 laut New York Times: ,Der Iran muss als Feind Nummer eins identifiziert werden’. Seither beschuldigen Israel und seine Verbündeten in Washington den Iran immer wieder, nach Nuklearwaffen zu streben. Schon im Oktober 1993 warnte Rabins Außenminister Schimon Peres die internationale Gemeinschaft, der Iran werde bis 1999 im Besitz einer Atombombe sein“ 8 Israels Haltung gegenüber dem Iran begann also lange vor dem Amtsantritt Ahmadinedschads und setzte sich auch während der moderaten iranischen Präsidentschaft Khatamis fort.

Bei einer halbwegs objektiven Betrachtung sind Ahmadinedschad und seine aggressive Haltung gegenüber Israel eher das Produkt von dessen feindseliger Politik und der Haltung der USA gegenüber Iran, vor allem nach der Machtübernahme durch die Neokonservativen im Weißen Haus. Dass Ahmadinedschads Wahl im Iran Israels Politik sogar gelegen kam, ist durchaus kein Geheimnis. Kein anderer wäre geeigneter als Ahmadineschad, ganz im Sinne von Israels Feindbildkonstruktion so leicht als »neuer Hitler« stigmatisiert zu werden. Müller ignoriert die innenpolitische Legitimationsfunktion von Feindbildproduktionen gerade auch in Israel (aber nicht nur dort) und knüpft an dem Bedürfnis israelischer Regierungen nach der Konstruktion von neuen Hitlern an, indem er die fundamentalistische Ideologie Ahmadinedschads aufbauscht und ihm zahlreiche antisemitische Äußerungen zuschreibt, um dann zu resümieren: „Vieles klingt wie ein Echo aus dem ‚Stürmer’ der NSDAP.“ (S.5).

„Das Ganze“, so Müller, stelle sich für Israel als „immenses Dilemma“ (S.9) dar, obwohl weder Iran noch ein anders arabisch-islamisches Land über Atomwaffen verfügt. Die unbestreitbare Bedrohung von 200-300 israelischen Atombomben und Trägersystemen einschließlich U-Booten, der sich alle Staaten der Region ausgesetzt fühlen, lässt Müller aber außen vor. Es sei denkbar, so Müller, dass Iran in Zukunft Israel provozieren könne, „in der vermeintlich sicheren Erwartung, dass Israel mit Rücksicht auf das iranische Atomwaffenpotential von Vergeltung absehen würde“, was jedoch ein „extrem risikoreiches Kalkül“ wäre (S.8). Was Müller hypothetisch Iran unterstellt, wenn dieser im Besitz von Atomwaffen wäre, praktiziert Israel schon längst. Ohne Vergeltungsschläge befürchten zu müssen erlaubt sich Israel nahezu alles, was es wahrscheinlich ohne Atomwaffen nicht wagen würde: Israel hält Palästina entgegen allen UN-Resolutionen weiterhin besetzt, veranstaltet gegen die Nachbarn – mal gegen Libanon, mal in Gaza – Angriffskriege, bombardiert auf Verdacht palästinensische Häuser, tötet Zivilbevölkerung, kapert ein Schiff in internationalen Gewässern, das mit humanitärer Absicht die Blockade von Gaza durchbrechen will, und erschießt dabei etliche Aktivisten. Indem Müller mögliche Absichten des Iran, was dieser alles mit seinen Atomwaffen machen wolle, in den Vordergrund stellt, argumentiert er nach der Methode »haltet den Dieb«. So gesehen, richtet sich Müllers Kritik nicht grundsätzlich gegen Atomwaffen im Mittleren und Nahen Osten, sondern lediglich gegen solche, die Israels Atomwaffenmonopol aushebeln würden.

Müller blendet in seiner Bedrohungsanalyse auch die alltäglichen Demütigungen systematisch aus, die Israel als nuklear bewaffnete Besatzungsmacht den Arabern und Moslems zumutet. Dies ist aber ein Grund dafür, dass es arabisch-islamischen Populisten immer wieder mit antiisraelischen Ressentiments gelingt, Massen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren und die Auffassung im Bewusstsein vieler Menschen zu verankern, dass man nur mit einer nuklearen Gegenmacht Israels Aggression Grenzen setzen kann.

Gute Atombomben, böse Atombomben

Israels Atompotential schaffe, nach Müller, kein Sicherheitsdilemma für die anderen Staaten, auch nicht für Iran, sehr wohl aber würden iranische Atombomben, so sie kommen sollten, für Israel ein Sicherheitsdilemma hervorrufen. Im Übrigen benötige Israel sein Atomarsenal nur zu seiner Verteidigung, während die Führung der Islamischen Republik, deren Rationalität äußerst fraglich sei (S.8), Israel vernichten wolle. Es ist offensichtlich: Hier dominiert weiterhin der Geist des Kalten Krieges. Auch damals bedrohten in der Wahrnehmung vieler die sowjetischen Atomarsenale den Westen, aber nicht umgekehrt. Die Unterscheidung zwischen den guten und den bösen Atombomben brachte damals die Welt an den Rand eines Atomkrieges. Und sie wird auch im Mittleren und Nahen Osten keinem Land, weder Israel noch Iran noch anderen Staaten, mehr Sicherheit verschaffen, sondern ausschließlich dazu beitragen, die gesamte Region in den Abgrund zu führen.

Die Idee des Gleichgewichts des Schreckens produzierte schon immer und produziert auch heute wieder Sackgassen, die in Wettrüsten und Krieg einmünden. Israels Nuklearstrategie eine Rationalität und der iranischen eine Irrationalität zuzuweisen, blockiert die Sicht für friedenspolitische Alternativen, die es durchaus gibt. Beide Seiten handeln im Denkgebäude der »realistischen« Theorie der »balance of power« durchaus rational. Irrational ist aber die Theorie selbst, die sich alle Konfliktparteien im Atomstreit mit Iran – so wie auch Harald Müller in seinem »Standpunkt« – zu eigen gemacht und den Konflikt deshalb bisher nur weiter verschärft haben. Indem man Israels Atomarsenal nicht thematisiert, wohl aber die Gefahr einer Atommacht Iran an die Wand malt, verfolgt man offensichtlich das Ziel, den eigenen nuklear gestützten Machtvorsprung im Mittleren und Nahen Osten beizubehalten. Der Westen und Israel ignorieren so beharrlich auch das Sicherheitsdilemma, das Israels Atomarsenal in der Region schon längst hervorgerufen hat.

Will man nicht einen neuen »gerechten« Krieg rechtfertigen, sondern den Iran-Atomkonflikt wirklich friedlich lösen, dann muss man sich zunächst die Sicherheitslage aller Staaten in der Region nüchtern und vorurteilsfrei vor Augen führen:

Pakistan ist eine Atommacht und verfügt somit über ein eigenes Abschreckungspotential, vor allem als Antwort auf indische Atomwaffen. Die Türkei ist Mitglied der NATO und steht dadurch unter deren nuklearem Schutzschirm. Alle bedeutenden arabischen Staaten im Mittleren und Nahen Osten sind, mit Ausnahme Syriens, militärische Verbündete der USA; die US-Armee verfügt in manchen dieser Staaten über Militärbasen. Israel verfügt nicht nur über eigene Atomwaffen, sondern ist darüber hinaus wegen beträchtlicher gemeinsamer Interessen der einzige natürliche Verbündete der USA in der Region9 und dürfte daher im Konfliktfall mit Iran oder einem anderen Staat der Region auch mit dem vollen Schutz der NATO rechnen können.

Wie steht es aber mit Iran? Dieses Land steht, im Unterschied zu allen Staaten der Region, nach der sicherheitspolitischen Logik der realistischen Schule de facto schutzlos da. Mehr noch: Der Iran ist von den Atomwaffenstaaten Russland, Indien, Pakistan und Israel umringt. Hinzu kommt die militärische Einkreisung durch die USA mit ihrer Präsens im Irak von der westlichen Seite, im Indischen Ozean von der südlichen, in Afghanistan von der östlichen und in den zentralasiatischen Staaten von der nördlichen Seite des Iran. Kann man vor dem Hintergrund dieser unbestreitbaren Bedrohungssituation mit einem Mindestmaß an Objektivität – selbst unter Berücksichtigung des Problems Ahmadineschad – allen Ernstes über die »iranische Bedrohung« und »Israels Sicherheitsdilemma« reden und die Realität so krass auf den Kopf stellen? Harald Müller zieht gegen jede Regel der Friedensforschung ausschließlich die Sicherheitsprobleme Israels in Betracht, lässt das Sicherheitsdilemma Irans aber außer Acht.

Müller liefert mit seinem »Standpunkt« nicht nur die Legitimierung der von den USA und der EU bisher vorgebrachten einseitigen Forderung an den Iran zum Verzicht auf eigene Urananreicherung, er geht sogar deutlich darüber hinaus und diskreditiert die im Westen leise vertretenen Überlegungen, „mit der Politik der begrenzten Sanktionen zu brechen und stattdessen eine umfassende Entspannungspolitik zu betreiben“ (S.2), als Appeasement und warnt genauso wie die israelische Regierung den Westen vor Hoffnungen, die sich, so Müller, „am Ende als so falsch herausstellen wie Chamberlains Hoffnung von 1938, mit Hitler könne man vernünftige Regelungen treffen“ (S 10f). Nein, Israelis können sich diesen historischen Fehler nach Müller nicht erlauben und müssen mit ihrer „existentiellen Bedrohung […] jetzt und hier fertig werden“ (S.10). Müller ist sich über die Folgen eines israelischen Militärschlages zwar im Klaren und verweist auch auf manche technische und logistische Schwierigkeiten einer militärischen Operation, „dennoch scheint die Mission israelischen Experten grundsätzlich für durchführbar“ (S.9).

„Ein israelischer Angriff auf die Infrastruktur des iranischen Nuklearprogramms ist riskant und wird schwerwiegende negative Folgen haben. Die politischen Führer Israels können“, so Müllers Resümee, „ – in voller Erwartung dieser negativen Folgen – zu dem Schluss kommen, dass er dennoch die einzige Option ist, die ihnen bleibt, um ihr Land und Volk vor einem nuklearen Holocaust zu schützen. Wenn es zu einer Militäroperation Israels kommt, werde ich diese Folgen fürchten und die Opfer auf beiden Seiten beklagen. Aber ich hoffe, dass der Westen und mein eigenes Land dann nicht Israel die Schuld zuschieben. Ahmadinejad und die Extremisten, die ihn umgeben, fordern die Tragödie heraus.“ (S.12)

Bisher hat nur Israels Propaganda dem Iran die Vorbereitung eines »nuklearen Holocaust« unterstellt. Demnach soll die Führung der Islamischen Republik, entgegen jedweder Logik und Rationalität, das Risiko auf sich nehmen, nicht nur Israels Nachbarstaaten, sondern auch Iran selbst und das eigene Volk vernichten zu wollen. Die nukleare Abschreckungsmaxime, dass derjenige, der als erster Atomwaffen gegen einen Atomstaat einsetzt, als zweiter vernichtet wird, ist jedoch eine Binsenwahrheit. Ungeachtet dessen, ob Müller an seine Schimäre glaubt oder nicht, steht nur soviel fest: Er liefert mit seiner Expertise einen Beitrag zur Kriegslegitimation und nicht zur Kriegsverhinderung. Damit beschädigt er seinen Ruf als Friedensforscher.

Die große Mehrheit der Iraner will, wie Müller richtig feststellt, mit den USA, aber auch mit Israel, Frieden schließen. Warum unterstützt sie aber die Nuklearpolitik der Regierung? Sicherlich nicht nur deshalb, weil die Bevölkerung durch die Regierungspropaganda manipuliert wird, wie Müller meint (S.6), sondern vor allem deshalb, weil sie dem Westen wegen seiner doppelbödigen und diskriminierenden Haltung misstraut und sich auch von ihm bedroht fühlt.

Gibt es Alternativen?

Die Antwort auf diese Frage, um es vorwegzunehmen, ist eindeutig Ja, und sie kann nicht darin bestehen, dass der Iran ein eigenes Atomarsenal als Gegengewicht zu Israels Atomwaffen aufbaut und damit die »balance of power« oder ein Gleichgewicht des Schreckens im Mittleren und Nahen Osten herstellt. So erhielte das nukleare Wettrüsten und die Vernichtung von menschlichen, finanziellen und ökologischen Potentialen beträchtlichen Ausmaßes neuen Auftrieb, ohne in der Region die Rahmenbedingungen für mehr Sicherheit im Geringsten zu verbessern. Die alles bestimmende Voraussetzung für die Perspektive eines dauerhaften Friedens ist der Wille und die Bereitschaft aller Staaten zur Kooperation. Diese Bereitschaft fällt freilich nicht vom Himmel und kann auch nicht über Nacht, sondern vielmehr nur in einem Lernprozess entstehen, der allerdings sofort beginnen müsste und auch könnte. Ich skizziere im Folgenden Schritte, die diesen Prozess einleiten könnten.

Erstens müsste die internationale Gemeinschaft Israel davon überzeugen, dem NVV beizutreten, wie Barack Obama dies nach seiner Wahl zunächst gefordert hatte und dann unter dem Druck der Israel-Lobby vorerst nicht weiter verfolgt hat. Zur Überzeugungsarbeit gehört eine offene Debatte in der westlichen Öffentlichkeit über die existenzielle Gefährdung Israels und darüber, dass bis auf weiteres die USA und die NATO Israels Sicherheit garantieren. Sicherheit durch eigene Atomwaffen – diese Strategie hat sich für Israel als Trugschluss erwiesen. Israels Bevölkerung lebt weiterhin in ständiger Angst vor der Feindschaft seiner Nachbarstaaten. Durch eigene Atomwaffen fühlen sich Israels Regierungen obendrein in der trügerischen Annahme bestärkt, Israel könne Palästina auf Dauer besetzt halten. Zur Überzeugungsarbeit gehört weiter die Aufklärung darüber, dass Israel seine geostrategische Funktion als Flugzeugträger der USA längst eingebüßt hat. Die USA selbst sind gegenwärtig dabei, sich mit ihrer neuen Rolle als einer Supermacht unter vielen Supermächten abzufinden und zu begreifen, dass nicht länger ihre Hegemonialmacht, sondern die Konkurrenz unter den großen Energieverbrauchern der Welt (China, USA, Indien, EU, Brasilien etc.) das Geschehen auf den internationalen Ölmärkten bestimmt.10

Zweitens müsste die internationale Gemeinschaft auch den Iran auffordern, bis zu einer regionalen Konferenz für eine massenvernichtungsfreie Zone im Mittleren und Nahen Osten, die nach einem Beschluss der Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages vom Mai 2010 im Jahr 2012 beginnen soll, freiwillig auf die Urananreicherung zu verzichten. Im Gegenzug sollten sich UN, USA und EU bereit erklären, alle gegen Iran verhängten Sanktionen unverzüglich aufzuheben. Keine iranische Regierung könnte sich dieser qualitativ neuen – weil nicht mehr einseitigen – Forderung verschließen. Die oppositionelle Reformbewegung würde sich diese neue Forderung der Weltgemeinschaft auf jeden Fall zu eigen machen.

Drittens müsste die bei der NVV-Überprüfungskonferenz beschlossene Konferenz für eine massenvernichtungsfreie Zone im Nahen Oste auf ein möglichst zeitnahes Datum vorverlegt werden. Diese Konferenz, an der alle Staaten der Region, insbesondere Iran und Israel, mitwirken sollten, könnte den geeigneten Rahmen bilden, um sowohl den endgültigen Verzicht Irans auf eine eigene Urananreicherung wie auch die Schritte zur Abrüstung israelischer Atomwaffen zu regeln.

Es muss allerdings damit gerechnet werden, dass zunächst extremistische Kräfte in allen Konfliktparteien der Region alle möglichen Vorwände einbringen, um den Beginn eines solchen Prozesses zu vereiteln. Denn gerade ein Prozess, der Kooperation, Abrüstung und vielleicht auch gemeinsame Sicherheit im Mittleren und Nahen Osten zum Gegenstand hätte, würde diesen extremistischen Kräften den Boden entziehen, der ihnen den Nährstoff liefert, weitere Feindbilder zu konstruieren und fundamentalistischen Ideologien, Aufrüstung und Kriegsdrohungen zu legitimieren. Umso größer würde umgekehrt der Handlungsspielraum moderater gesellschaftlicher Gruppen werden, gelänge es, diesen Prozess tatsächlich in Gang zu setzen. Damit hätten reformorientierte politische Strömungen in allen Staaten des Mittleren und Nahen Ostens und nicht zuletzt in Israel und im Iran eine ernsthafte Chance, gesellschaftliche Mehrheiten für eine Perspektive der Abrüstung, der ökonomischen Kooperation und des friedlichen Zusammenlebens aller Staaten in der Region zu gewinnen. Auch die Besatzungspolitik und der Nahost-Konflikt könnten dabei – wenn man so will –, als Nebenprodukt einer neuen Perspektive für die gesamte Region ein Ende finden. Eine ökonomische Kooperation und eine Politik der gemeinsamen Sicherheit mit allen islamischen Nachbarstaaten wäre die beste Garantie für die Sicherheit und Existenz des Staates Israel. Die EU liefert uns ein lebendiges Beispiel für ökonomische und sicherheitspolitische Vorteile von regionaler Kooperation. Tief verwurzelte Feindschaften und zwei Weltkriege gerieten inzwischen in Vergessenheit. Staaten, die noch nicht Mitglied der EU sind, drängen unablässig darauf, den Anschluss an dieses Erfolgsmodell nicht zu verpassen.

Anmerkungen

1) Müller, Harald (2010): Krieg in Sicht? Das iranische Nuklearprogramm und das Sicherheitsdilemma Israels. In: HSFK Standpunkte, Nr.2/2010; http://hsfk.de.

2) Birnbaum, Norman (2010): The war must go on, in: tageszeitung, 31. Juli/1. August 2010.

3) Siehe dazu auch meine europakritischen Stellungnahmen, darunter: Massarrat, Mohssen (2006): Der Iran und Europas Versagen. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 5/2006.

4) Müller, Harald (2010), op.cit.

5) Die im Text angeführten Seitenangaben beziehen sich alle auf Harald Müllers »Standpunkt«, ebenda.

6) Israel torpediert sogar demonstrativ die von der NVV-Überprüfungskonferenz im Mai 2010 beschlossene nukleare Abrüstung im Mittleren und Nahen Osten, die ab 2012 im Rahmen einer Konferenz vorbereitet werden soll. IAEO-Chef Yukiya Amano, der deshalb nach Israel gereist war, „traf auf verschlossene Türen“; Frankfurter Rundschau vom 27. August 2010.

7) Rudolf, Peter/Lohmann, Sascha (2010): Amerikanische Iran-Politik unter Barack Obama. SWP-Studie. August 2010, S.14.

8) Crooke, Alastair (2009): Wie der Iran zum Feind wurde. Koordinaten der israelischen Außenpolitik von Ben Gurion bis Peres. In: Le Monde diplomatique, Februar 2009.

9) Ausführlicher dazu siehe Massarrat, Mohssen (2006): Kapitalismus. Machtungleichheit. Nachhaltigkeit. Hamburg, S.124 f.

10) Ausführlicher dazu: Massarrat, Mohssen (2009): Rätsel Ölpreis. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2008.

Prof. Dr. Mohssen Massarrat ist Prof. i.R. für Wirtschaft und Politik an der Universität Osnabrück mit Arbeitsschwerpunkten im Bereich Politische Ökonomie, Internationale Beziehungen, Friedens- und Konfliktforschung, Mittlerer und Naher Osten.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2010/4 Konflikte zivil bearbeiten, Seite 61–67