Kriegsmedien - Medien im Krieg
Ernst Friedrich und seine Wirkung
von Jörg Becker
Immer wieder entbrennt in der Öffentlichkeit Streit über die Frage, ob und wenn ja, unter welchen Bedingungen, Krieg in den Medien unvermittelt dargestellt werden soll und darf. Der Streit ist nicht neu, sondern reicht neunzig Jahre zurück. Damals veröffentlichte Ernst Friedrich seinen Bildband »Krieg dem Kriege«, der nur schwer erträgliche Fotos von Opfern des Ersten Weltkriegs zeigt. Der Streit um den Abdruck solcher Bilder und ihre Wirkung setzt sich bis heute fort.
Ernst Friedrich war ein begnadeter Polemiker, ein Zyniker, ein außerordentlich geschickter Redner, der in einfacher Sprache seine vielen Zuhörer begeistern konnte. Was er ursprünglich von Beruf war? Für Ernst Friedrich wäre das eine falsche Frage gewesen. Er war Buchdrucker, Schauspieler, Reformpädagoge, Anarchist, Pazifist, Rezitator, Agitator, Journalist, Aktionskünstler, Antifaschist, Aktivist und Politiker, Künstler und schließlich aktives Mitglied in der fanzösischen Résistance - als radikaler Pazifist aber nur auf der Schreibstube, nicht bei der kämpfenden Truppe.
In der ersten Ausgabe der von ihm herausgegebenen anarchistisch-pazifistischen Zeitung »Schwarze Fahne« schrieb Ernst Friedrich 1925: „Die im Massengrab aller Kontinente langsam verfaulenden, von Ratten und Würmern zerfressenen Millionen Opfer des Massenmörders Ludendorff und seiner internationalen Komplizen sind eine größere Anklage, als die 20 Opfer Haarmanns. Die vielen Blinden, Armlosen, Beinlosen, Gasvergifteten, vor Schmerz irrsinnig gewordenen, die nach Millionen zählenden Opfer des Massenmörders Ludendorff und seiner Konsorten werden dermaleinst wichtige Zeugen sein, wenn die großen Verbrecher an der Menschheit vor dem Antlitz des Lebens abgeurteilt werden.“ 1
Grausam entstellte Kriegstote und Kriegsverstümmelte - das ist Ernst Friedrichs anklagendes Thema, sowohl in seinem 1925 in Berlin gegründeten Anti-Kriegs-Museum als auch in seinem ein Jahr zuvor veröffentlichten zweiteiligen Bildband »Krieg dem Kriege«. Die französische Sprache kennt für die im Ersten Weltkrieg im Gesicht verletzten Soldaten mit halben Wangen, zerfetzten Nasen und Ohren oder durchschossenen Mündern den eigenen Begriff „gueules cassées“, kaputte Fressen.
Es drängen sich folgende Fragen an die Schockbilder von Ernst Friedrich auf:
1. In welches gesellschaftliche Umfeld müssen diese Fotos von 1924 eingeordnet werden?
2. Wie wirken solche Fotos?
3. Gibt es in den heutigen Medien auch noch solche Kriegsfotos?
Gesellschaftliches Umfeld
Die erste Frage nach dem gesellschaftlichen Umfeld dieser Fotos ist deswegen wichtig, weil sich die Bilder weniger mit dem Ersten Weltkrieg auseinandersetzen, sondern eher mit den zwanziger Jahren. Wichtig wurden die Bilderinnerungen an den Ersten Weltkrieg erst in den Jahren 1920 bis 1930, als es politisch darum ging, den Weltkrieg propagandistisch zu vereinnahmen. Die vielen Bildbände der Zwischenkriegszeit lieferten Fotos, die man für eine völkisch-nationale Dramatisierung des Krieges brauchte: anfängliche Kriegsbegeisterung, Einzelhelden und sakrale Landschaften wie Verdun, Ypern und Langemarck. Ausgeblendet wurde der Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung auf dem Balkan; es gab keine Flucht und Vertreibung, Niederbrennen von Dörfern, Massenhinrichtungen und Zwangsarbeit; und ausgeblendet blieben nacktes Elend und brutale Gewalt, vor allem natürlich der eigene Tod und die eigenen Kriegsverbrechen.
Ernst Friedrichs »Krieg dem Kriege!« war die direkte Gegenfolie zu diesen vielen propagandistischen Weltkriegsfotobänden aus den zwanziger Jahren. Sein Buch enthielt genau die Bildmotive, die in den anderen Büchern nicht vorkamen. Bei der Auswahl der Motive und den dazu gehörigen Texten handelt es sich eher um expressionistische Dichtung und Grafik als um Journalismus und Dokumentarfotografie. Der bisherigen, als dekadent und bürgerlich empfundenen Ästhetik stellte die expressionistische Literatur oft eine Ästhetik des Hässlichen gegenüber; ihre Themen waren Krieg, Großstadt, Angst, Rausch, Zerfall und Weltuntergang. In der expressionistischen Grafik stehen sowohl die Antikriegsbilder von Frans Masereel2 von 1915 als auch die von Otto Dix von 1920 in enger Nachbarschaft zu den anklagenden Fotos von Ernst Friedrich.
Es gibt meines Wissens in den zwanziger Jahren neben Ernst Friedrich nur einen einzigen weiteren Fotobildband, in dem ebenfalls nackte Gewalt, Entsetzen, Vernichtung, Zerstörung und Tod des Ersten Weltkrieges dargestellt werden. Es handelt sich hierbei um Franz Schauweckers in vielen Auflagen gedrucktes Buch »So war der Krieg«. Schreibt Ernst Friedrich „Und nicht ein einziger Mensch in irgendeinem Lande kann aufstehn und gegen diese Photos zeugen, dass sie unwahr sind und nicht der Wirklichkeit entsprechen“,3 so steht ihm Schauwecker mit dem Anspruch darauf, nichts als Wahrheit und Wirklichkeit zu zeigen, in nichts nach. Bei ihm „zeigen diese Aufnahmen das wahre Gesicht des Krieges, unentstellt, nicht beschönigt, und enthüllen in der unumstößlichen harten und aufrichtigen Sachlichkeit des Lichtbildes die düstere Tragödie des modernen Krieges“.4 Beide eint ihr naives Vertrauen in einen Fotorealismus. „So war der Krieg“, hält Schauwecker apodiktisch fest. So und nicht anders.
Der politisch-pädagogische Anspruch von Ernst Friedrich und Franz Schauwecker ist derselbe. Doch Friedrich und Schauwecker trennen Welten. Brüllt Friedrich seine Parole „Krieg dem Kriege!“ jedermann entgegen, so beginnt Schauwecker sein Vorwort mit folgenden Sätzen: „In diesem Werk geht es um den Krieg als solchen. [...] In diesem durch das Blut geheiligten Erdreich ist unter Kämpfen von Stahl und Explosion und unter den rasenden Stürmen und Ausbrüchen donnernder Nationalismus geboren worden. [...] Hier entstand jener Nationalismus, der, als er die schreckliche Größe jenes Schicksals aus Grab, Opfer und Vernichtung erlebte und begriff, aus seiner Kraft jenes Wunder erzeugte, das ihn erst zum deutschen Nationalismus machte. [...] Dieses Werk zeigt fast in jedem seiner Bilder die Vernichtung, und zwar die Vernichtung einer vergangenen Welt. Aber auf solchermaßen umgepflügten Feldern allein kann das Neue wachsen.“ 5
Gab Schauwecker einem seiner grausamsten Fotos mit vielen Kriegstoten den Untertitel »Der Maschinentod: Russische Sturmkolonnen«, so vermeidet Friedrich bei seinen Fotos strikt jeglichen Hinweis auf eine Nationalität. Wichtiger noch: Seine Untertitel sind essentieller Bestandteil seiner pazifistischen Botschaft, oft sind sie entlarvend und ironisch. Mit Recht kann die Philosophin Susan Sontag in ihrem Essay »Das Leiden anderer betrachten« über Ernst Friedrich festhalten: „[Er] machte nicht den Fehler zu glauben, Bilder, bei denen sich dem Betrachter der Magen umdreht, würden für sich selbst sprechen. Jedes Foto ist mit einer leidenschaftlichen Bildunterschrift [...] versehen, und die Niedertracht der militaristischen Ideologie wird auf jeder Seite bloßgestellt und verhöhnt.“ 6
Wirkung der Fotos
Die zweite, die Frage nach der Wirkung solcher Fotos, hängt eigentlich mit den eben schon entwickelten Gedanken und Argumenten zusammen. Ja - eine abschreckende und pazifistische Rezeption und Wirkung solcher Fotos ist dann gegeben, wenn es ein dazu passendes politisches Umfeld gibt. Und genau dies ist auch der Lernprozess, den Susan Sontag zwischen ihrem Aufsatz »Über Fotografie« von 1977 und ihrem Essay »Das Leiden anderer betrachten« von 2003 durchlief. Verbunden mit einem gut dazu passenden Narrativ können Kriegsfotos den Rezipienten aufrütteln und ihn zum Handeln auffordern, dem furchtbaren Kriegstun ein Ende zu setzen.
Darstellung des Krieges in den heutigen Medien
Auf die dritte Frage, ob es solche Schockfotos auch noch in den heutigen Medien gebe, ist mit mehreren Teilantworten zu reagieren.
Bedenkt man, dass Särge gefallener US-Soldaten erst seit 2009, seit dem Amtsantritt von Präsident Barack Obama, in US-Medien gezeigt werden dürfen, dann wird die Ungeheuerlichkeit der Tabuverletzung von 1924 deutlich. Friedrichs Bilder waren also ein radikaler Tabubruch und bewirkten einen Skandal! Sie brechen mehrere Tabus, denn Leiden, Tod und eigene tote Soldaten sind Tabuthemen. Sie sind es vor allem auch deswegen, weil Friedrich die so genannten »gueules cassées« zeigt, zerschlagene Fressen, also Menschengesichter ohne Nase, Gesichter ohne Augen oder Menschen ohne Arme. Solche Bilder gab es vor Friedrich nicht, auch nicht in Francisco de Goyas Bilderzyklus »Desastres de la guerra« (1810/14). Friedrichs Bilder zeigen die Hölle schlimmer als in Dantes Inferno. Mit Recht kann der Historiker Gerd Krumeich diese Bilder wie folgt kommentieren: „Die gueules cassées sind das letztgültige Symbol des Ersten Weltkriegs, in dem die neuen Sprenggranaten mit ihren Splittern [...] zur Hauptquelle der Verwundungen wurden.“ 7
Solche Bilder sind auch heute noch ein Tabubruch, sie gehören trotz aller zunehmenden Brutalisierung der Massenmedien keineswegs zum Medienalltag. Das zeigen zwei Abbildungen von 1992 und 2006, denn beide Bilder kommen nicht aus den Mainstream-Medien. Die eine Abbildung wurde der Broschüre eines studentischen Kollektivs in Paris entnommen und protestiert gegen Tod und Terror im zweiten Golfkrieg.8 Die andere Abbildung des afghanischen Schriftstellers Mohammad Daud Miraki stammt aus seinem im Eigenverlag herausgegebenen Buch eines Verzweifelten angesichts des unmenschlichen Leidens in Afghanistan.
Gerade auf dieses Buch von 2006 soll hier kurz verwiesen werden, denn ein Vergleich mit Ernst Friedrichs 82 Jahre vorher erschienenem Buch drängt sich auf. Bereits Titel und Untertitel von Mirakis Buch verraten sein pädagogisch-politisches Anliegen: »Afghanistan. After 'Democracy'. The Untold Story Through Photographic Images«.9 Seine Fotos sollen also die von den westlichen Medien nicht erzählte Geschichte des afghanischen Krieges erzählen, sollen - wie es im Vorwort heißt, und so könnte es auch bei Friedrich stehen - „Wahrheit“ und ein „wahres Bild“ aufzeigen. Um diesem Anspruch Genüge zu tun, enthält Mirakis Bildband realistische Fotos aus der gegenwärtigen afghanischen Alltagsmisere, ergänzt durch ein spezielles Kapitel mit Fotos von verunstalteten Babys als Folge des Abwurfs uranangereicherter US-Bomben.
Auch gegenwärtig sollen Kriegs-Schock-Fotos zu Aktion und Parteinahme einladen. Der französische Journalist Jonathan Littell hielt sich Anfang 2012 einige Wochen bei syrischen Rebellen auf, und in seinem veröffentlichten Tagebuch finden wir die folgenden Einträge zu Videos, die die Rebellen ins Netz stellen: „Vor drei Tagen wurde ihnen eine Leiche übergeben, mit Folterspuren überall, von Elektroschocks etc. Vermutlich wurde er im Militärkrankenhaus getötet. Der Fall ist dokumentiert, die Leiche wurde auf Aljazeera gezeigt. [...] Bilal zeigt mir wieder etwas auf seinem Handy. Ein Mann, dessen ganzer Bauch offen ist, Lunge und Gedärme hängen heraus, die Ärzte versuchen sie wieder hineinzustopfen. All diese Handys sind Museen des Horrors. [...] Dieses Internetcafé ist der Unterschlupf aller Aktivisten von Khaldije, die hier auf YouTube und in den sozialen Netzwerken die Arbeit ihres Tages posten, Filme von Demonstranten oder Gräueltaten.“ 10
Diese Bildbotschaften syrischer Rebellen erfüllen zwei Funktionen: Zum einen zeigen sie den saudischen Stiftungen, von denen sie Geld und Waffen erhalten, wie erfolgreich sie kämpfen und dass es sinnvoll ist, ihnen weiter Geld und Waffen zu liefern. Zum anderen wenden sich diese Bilder an westliche Medien und Politiker, um westliche Kriegsmächte zu einer militärischen Intervention gegen die Regierung Assad aufzufordern. Es ist genau dieses Phänomen einer Mediendoppelung oder das einer dynamischen Medienspirale zwischen TV und Handys, wie es inzwischen bei der Kriegsberichterstattung im Nahen Osten angesichts von Internet, Handys und YouTube üblich geworden ist.
Und auch Bilder wie die von Abu Ghraib 2004 sind Teil dieser visuellen Kriegsführung, die dem Gesetz einer sich stetig vergrößernden und sich beschleunigenden Rüstungsspirale unterliegt: Haust Du meinem Journalisten vor laufender Kamera öffentlich den Kopf ab, dann wird sich die Zahl meiner Drohnenangriffe auf Deine Leute verdoppeln! Und wenn die Zahl Deiner Luftangriffe steigt, dann werden wir auf YouTube gerne die Bilder des toten US-amerikanischen Botschafters Stevens aus Libyen von 2012 zeigen oder noch »schöner«, dann zeigen wir den Leichnam eines US-amerikanischen Soldaten, wie er im Oktober 1993 mit einem Seil durch die Straßen von Somalias Hauptstadt Mogadischu gezogen wurde. Eine solche Spirale kennt kein Ende!
Möglicherweise war es der große, geniale Bertolt Brecht, der mit seiner »Kriegsfibel« alle hier besprochenen Probleme schon in den fünfziger Jahren am besten reflektiert und gestaltet hat. 1955 veröffentlicht, enthält dies großformatige Buch auf seinen linken Seiten kurze Fotolegenden und auf seinen rechten die 85 dazugehörigen schwarzweißen Pressefotos, die Brecht jeweils mit einem Vierzeiler kommentierte. Fotoepigramme hatte er diese Vierzeiler genannt. Brechts Fotos stammten aus den Illustrierten seiner Zeit, und mit seinen dazugehörigen bissigen, ironischen und frechen Epigrammen dekodierte und verwandelte er deren affirmative Aussagen in ihr kritisches Gegenteil. Brechts Fotos zeigen Zivilisten, Soldaten, Opfer, Politiker, Landschaften und Städte, die mit verschiedenen Schauplätzen des Zweiten Weltkrieges einhergehen. Auch Brecht scheute keineswegs vor Schockfotos zurück. Da gibt es die Großaufnahme des verbrannten Schädels eines japanischen Soldaten, der von US-Truppen auf einen ausgebrannten japanischen Tank gespießt wurde, oder viele Fotografien von und mit erblindeten Soldaten.
So kontrastierte er z. B. das 56. Foto mit der Legende »Erblindeter deutscher Soldat im Moskauer Lazarett« mit folgendem Vierzeiler: „Vor Moskau, Mensch, gabst du dein Augenlicht / O blinder Mensch, jetzt wirst du es verstehn. Der Irreführer kriegte Moskau nicht. / Hätt er's gekriegt, hättst du es nicht gesehn.“ 11 Blind ist hier metaphorisch zu verstehen: blind für eine politische Analyse, blind in den Krieg gestolpert. Die Idee, Kriegsbrutalität auf Fotos zu zeigen, um sie, angereichert mit nur spärlichen Zeilen, pädagogisch gegen sich selbst zu wenden, verbindet Ernst Friedrich mit Bertolt Brecht. Was Brecht freilich von Friedrich unterscheidet, ist seine tiefe, man möchte sagen ideologiekritische, Skepsis gegenüber dem Wahrheitsgehalt von Illustriertenfotos.
Es waren die beiden in London lebenden Künstler Adam Broomberg und Oliver Chanarin, die sich 2011 in Brechts Kriegsfibel „hinein wohnten“, sie „kidnappten“, sie wie „Parasiten“ in Beschlag nahmen und seine „Bilder mit ihren Bildern“ ersetzten. Heraus kam eine eindrückliche Wort- und Bildmontage von Kriegsfotos nach 9/11, teils Brecht, teils aktualisiert.12 Auch hier 85 Bilder über menschliches Kriegsleiden, auch hier 85 dazu montierte Texte. Am eindrücklichsten ist hier möglicherweise die Wiederholung von Brechts 44. Bild, also das mit dem verbrannten Schädel eines japanischen Soldaten. Bei Broomberg/Chanarin taucht dieses Motiv als 53. Bild auf - diesmal zeigt es ein Foto der BILD-Zeitung von 2011 mit einem Bundeswehrsoldaten in Afghanistan, der dem Betrachter triumphierend einen Totenkopf entgegenhält.
Ein jüngster Versuch in der Nachfolge von Ernst Friedrichs »Krieg dem Kriege« von 1924 ist das Buch »War Porn« - also Kriegspornographie - des jungen, erst 1978 geborenen Fotografen Christoph Bangert, das 2014 erschien. Neunzig Jahre nach Friedrich teilen die zuvor nie veröffentlichten Fotos mit Krüppeln, Toten, Gefolterten, Ermordeten und Erschossenen aus den Kriegen der letzten Jahre das gleiche Anliegen wie Friedrich - vielleicht ein wenig intellektueller gewendet: „Ich habe das Gefühl, ich müsse solche Bilder veröffentlichen. [...] Im Gegensatz zu den ultrabrutalen Hollywoodfilmen, die wir uns so einfach reinziehen, und zu grauenhaften Videogames, sind diese Bilder nicht-fiktional. Sie sind Dokumente und interpretieren reale Ereignisse. Wie kann solch eine Arbeit bedeutungslos oder belanglos sein? Wie können wir die ausschließliche Abbildung - ein Bild - eines schrecklichen Ereignisses ablehnen, während andere Menschen gezwungen sind, dieses schreckliche Ereignis zu erleben?“ 13
Nach wie vor gültig
Der brutale Krieg der deutschen Wehrmacht in Osteuropa und Auschwitz, beide sind uns allen Teil einer gemeinsamen Staatsräson, die Deutschland Krieg als Mittel der Politik verbietet. Dementsprechend verbietet das Grundgesetz den Angriffskrieg und beschränkt den Einsatz der Bundeswehr auf den Verteidigungsfall. Die beiden Bundespräsidenten Gustav Heinemann und Richard von Weizsäcker wussten um diesen deutschen Schuld-Zusammenhang.
In seiner zu Recht berühmten Rede vom 8. Mai 1985 führte Richard von Weizsäcker aus: „[Wir nutzen] das eigene historische Gedächtnis als Leitlinie für unser Verhalten in der Gegenwart und für die ungelösten Aufgaben, die auf uns warten. [...] Wenn wir daran denken, was unsere östlichen Nachbarn im Kriege erleiden mussten, werden wir besser verstehen, dass der Ausgleich, die Entspannung und die friedliche Nachbarschaft mit diesen Ländern zentrale Aufgaben der deutschen Außenpolitik bleiben.“ Und weiter sagte er: „Von deutschem Boden in beiden Staaten sollen Frieden und gute Nachbarschaft mit allen Ländern ausgehen. Auch andere sollen ihn nicht zur Gefahr für den Frieden werden lassen.“ 14
Gemessen an diesem Selbstverständnis markiert die Rede von Präsident Joachim Gauck vom Januar 2014 einen präsidialen Tabubruch.15 Führte die Rede des früheren Bundespräsidenten Horst Köhler mit ihrem Hinweis darauf, dass angesichts von Deutschlands Außenhandelsabhängigkeit „im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist“,16 noch zu einem öffentlichen Skandal und 2010 schließlich zu dessen Rücktritt, so läuft die sonst aufgeregte Medienmaschinerie heute bei demselben Gedanken bereits in eine gähnende Leere. Gauck formulierte auf der Münchener Sicherheitskonferenz eine völlig neue Staatsräson, wenn er „Deutschlands historische Schuld“ dahin gehend definiert, dass es kein „fragwürdiges Recht auf Wegsehen“ geben und dass man „Schuld“ nicht mit „Zurückhaltung“ und mit „Selbstprivilegierung“ gleichsetzen könne. Nur kurze Zeit darauf legte Gauck in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur nach, nun noch viel deutlicher im Ton: „Und in diesem Kampf für Menschenrechte oder für das Überleben unschuldiger Menschen ist es manchmal erforderlich, auch zu den Waffen zu greifen.“ 17
„Krieg, Handel und Piraterie, / Dreieinig sind sie, nicht zu trennen.“ Der, der das sagt, ist nicht irgendwer, sondern Mephistopheles in seiner Rolle als Unternehmensberater des Kolonialisten Faust in Goethes »Faust II« (5. Akt, Palastszene). Und dieser Teufel meint seinen Zweizeiler nicht nüchtern beschreibend, sondern zustimmend auffordernd, sagt er doch kurz zuvor: „Man hat Gewalt, so hat man Recht / Man fragt ums Was, und nicht ums Wie.“
Ernst Friedrichs Auftrag und Aufforderung „Krieg dem Kriege!“ gelten immer noch.
Anmerkungen
1) Ernst Friedrich: Haarmann und Ludendorff. Die Schwarze Fahne Nr. 1/1925, S.2.
2) Siehe Bebilderung in W&F 1-2011.
3) Ernst Friedrich (1924): Krieg dem Kriege! Band I,. 8.-10. Aufl. 1926. Berlin: Freie Jugend - Internationales Anti-Kriegsmuseum, S.6.
4) Franz Schauwecker (1927): So war der Krieg. 200 Kampfaufnahmen aus der Front. 2. Aufl. Berlin: Frundsberg, S.3.
5) Ibid., S.3, 5 und 8.
6) Susan Sontag (2003): Das Leiden anderer betrachten. München: Hanser, S.22.
7) Gerd Krumeich (2004): Vorwort zur Wiederveröffentlichung. In: Ernst Friedrich: Krieg dem Kriege. München: dva, S. XIII.
8) Olivier André (ed.) (2003): Numéro spécial. Des photos contre la guerre. Paris: Publia.
9) Mohammed Daud Miraki (2006): Afghanistan - After »Democracy«. The Untold Story Through Photographic Images. Chicago: Selbstverlag.
10) Jonathan Littell (2012): Notizen aus Homs. 16. Januar-2. Februar 2012. Berlin: Hanser, S.74, 128 und 132.
11) Bertholt Brecht (1994): Kriegsfibel. Berlin: Eulenspiegel, 5. Aufl.. Eine sehr gute Einführung in Brechts »Kriegsfibel« bringt Hjördis Hornung: Die Kriegsfibel von Bertolt Brecht - Quelle und Medium historischen Lernens. Ludwigsburger Beiträge zur Medienpädagogik Nr. 14/2011, S.1-8.
12) Adam Broomberg and Oliver Chanarin (2011): War Primer 2. London: MACK Editions. Dieses Buch wurde in einem Seidensiebdruckverfahren in nur 100 Exemplaren auf der Grundlage einer Edition der Brechtschen Kriegsfibel von 1998 im Libris-Verlag in London hergestellt. Die digitale Version von »War Primer 2« enthält zusätzlich zu den 85 Bildcollagen Essays über die Kriegsfibel und das Kunstwerk dieser beiden Künstler; mappeditions.com/publications/war-primer-2.
13) Christoph Bangert (2014): War Porn. Heidelberg und Berlin: Kehrer Verlag, 2. Aufl., unpag. S.5 [Originalzitat in Englisch, Übersetzung von Jörg Becker]. Zu diesem Buch siehe auch Felix Koltermanns Artikel »Bilderkrieger im ›War Porn‹?« in dieser Ausgabe von W&F.
14) Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa. 8.5.1985; bundespraesident.de.
15) Bundespräsident Joachim Gauck: Deutschlands Rolle in der Welt - Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnissen. Rede zur Eröffnung der 50. Münchner Sicherheitskonferenz am 31.1.2014; bundespaesident.de.
16) „Sie leisten wirklich Großartiges unter schwierigsten Bedingungen“. Bundespräsident Köhler nach seinem Besuch in Afghanistan - Horst Köhler im Gespräch mit Christopher Ricke. 22.5.2010, deutschlandfunk.de.
17) Gauck: „Auch zu Waffen greifen“. Joachim Gauck im Gespräch mit Hans-Joachim Wiese. 16.4.2014, deutschlandfunk.de.
Prof. Jörg Becker ist Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der Universität Marburg; sein Arbeitsschwerpunkt ist die internationale Medienpolitik. Bei dem hier abgedruckten Text handelt es sich um die gekürzte Version eines Vortrags, den der Autor anlässlich der Eröffnung einer Ernst-Friederich-Ausstellung im Kunstmuseum Solingen am 27. März 2014 hielt. Die ungekürzte Langfassung erscheint Anfang 2015 im 25. Else-Lasker-Schüler-Almanach unter dem Titel »Der blaue Reiter ist gefallen« im Peter Hammer Verlag, Wuppertal. Wir danken der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft für die Erlaubnis, den gekürzten Essay hier vorab abdrucken zu dürfen. Die Forschungsarbeiten für diesen Essay über Ernst Friedrich wurden vom Solidaritätsfonds der Hans Böckler-Stiftung und der Bertha von Suttner-Stiftung, beide Düsseldorf, unterstützt.