W&F 2016/1

Krisen sind auch keine Lösung

von Klaus Harnack

Wohin man auch schaut, es herrscht die Krise: Finanzkrise, Immobilienkrise, Schuldenkrise, Griechenlandkrise, Krimkrise. Es ergeben sich dabei regelrechte Krisenketten, wie man am Beispiel der Syrienkrise, Flüchtlingskrise, Asylkrise und Integrationskrise sehen kann. Aber warum halten wir am Konzept der Krise so stark fest, und warum stellt die langfristige Friedensforschung die bessere Alternative dar? Eine Übersicht warum die Krise nicht die Lösung sein kann:

Die klassische altgriechische »Krisis« bezeichnet eine Entscheidungssituation, charakterisiert durch einen anstehenden Wendepunkt. Sie ist gekennzeichnet durch eine Art Gablung der Geschehnisse, die auf dem einen Pfad zur Wiederherstellung der Ordnung und auf dem anderen Pfad in die Katastrophe führt. Die klassische »Krisis« fordert folglich eine Entscheidung über den richtigen und den falschen Pfad. Diese dichotome Realitätsbeschreibung war für die Philosophie der Antike in ihrer Klarheit folgerichtig, entbehrt aber für die gegenwärtige Welt jeglicher Legitimation. Bleibt man bei der Analogie eines sich scheidenden Weges, kommen die gegenwärtigen Krisen wohl eher dem Frankfurter Kreuz als der Weggablung eines Wanderpfades gleich. Die augenblicklichen Krisen fordern eine lange Kette von Entscheidungen, ein interdependentes Abwägen, eine ständige Justierung. Anstatt einer Gablung finden wir in der Gegenwart eine Konvergenzzone der Entscheidungen. Die Krise in ihrer klassischen Gestalt ist verblichen, doch warum erfährt dieses Konstrukt trotz seines antiquierten Daseins eine solche Renaissance?

Auch wenn sich die Krise auf den ersten Blick nicht als leichte Kost präsentiert, ist sie ein Produkt unserer Sehnsucht nach einer einfachen und überschaubaren Welt, die nur vorübergehend – eben in der Krise – sich etwas zu verkomplizieren droht. Um dieses einfache Weltbild aufrecht erhalten zu können, wünschen wir uns die klassische Krise regelrecht herbei, um sie dann mit einer einzigen richtigen Entscheidung zu beenden und uns schließlich wieder in die einfache Welt zurückziehen zu können. Die Psychologie nennt dieses Phänomen seit Leon Festingers 1957 erschienenen Klassikers »A Theory of Cognitive Dissonance« Dissonanzreduktion. Unser kognitiver Apparat scheint für die Konstruktion von Krisen eine gewisse Leidenschaft zu pflegen. Wir denken uns negative Dinge (eine komplizierte Welt) lieber verschönert (eine einfache Welt), als uns den Widersprüchen zwischen unseren Wünschen und der Realität auszusetzen.

Die kognitionspsychologische These des »Ease of Computation« postuliert: Alles, was leicht zu verarbeiten ist, wird von unserem kognitiven System bevorzugt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Begleitumstände von »Krisensituationen« meistens mit verringerten Ressourcen einhergehen und oft angstbehaftet sind. Folgen wir der »Attentional Control Theory« von Michael Eysenck und Manuel Calvo (1992), konkretisiert sich die Vermutung, dass wir in Zeiten der Angst keine guten Entscheidungen treffen können. Die Theorie beschreibt das Phänomen, dass Angst die effiziente, zielorientierte Informationsaufnahme durch eine verengte Aufmerksamkeit einschränkt. Neben dieser Reduktion von zielrelevanter Aufmerksamkeit erhöht sich die reizgesteuerte Aufmerksamkeit sowie die Wahrnehmung von Reizen, die eine Bedrohung signalisieren. Wir können folglich der großen Vielfalt an möglichen Stellschrauben, die zum Überwinden der Krise beitragen könnten, keine Aufmerksamkeit widmen und sind erneut geneigt, der einen »richtigen« Entscheidung, die uns vermeintlich aus der Krise führt, Glauben zu schenken. Unterm Strich: Die Konstruktion von Krisen beschränkt unsere Wahrnehmung und führt zur Simplifizierung unserer Entscheidungen.

Mit dem Schwerpunkt »Friedensforschung« stellt diese Ausgabe ein Votum für die Akzeptanz von Komplexität und Unsicherheit dar sowie ein Plädoyer für die Anerkennung von systemischen Risiken und für die Einsicht einer nur bedingt steuerbaren Welt. Anstatt uns auf die Suche nach den »Wegen aus der Krise« und vermeintlich einfachen Patentrezepten zu begeben, die uns ständig angepriesen werden, kann solide Friedensforschung nur die Anerkennung einer komplexen Welt sein, die kontinuierlich nach Steuerung verlangt. Jede Forschung beginnt mit einer Frage und nicht mit einer Antwort; sie bildet Hypothesen, die durch systematisches Beobachten bearbeitet werden und durch formalisierte Auswertungen der Ergebnisse zu neuen Fragestellungen führen.

Die Alternative zur Anerkennung einer interdependenten Welt ist, dass wir die Krise als Alltag akzeptieren, doch damit würden wir uns jegliche Handlungsoption nehmen. Denn eine chronische Zuspitzung der Ereignisse ist ein Oxymoron. Akzeptieren wir lieber, dass wir auf dem Meer der Weltgeschichte zu einem Ozeandampfer geworden sind, dessen Steuerung durch eine große Verzögerung gekennzeichnet ist, als uns weiterhin dem Traumbild einer kleinen, wendigen Jolle hinzugeben und zu riskieren, das wir im nächsten Sturm untergehen.

Ihr Klaus Harnack

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2016/1 Forschen für den Frieden, Seite 2