W&F 2009/1

Krisenkarussell: Russland und die NATO

von Matthias Dembinski und Hans-Joachim Spanger

Der Krieg im Kaukasus im August 2008 hat die Frage nach dem Verhältnis zwischen Russland und der Nordatlantischen Allianz mit neuer Dringlichkeit auf die Tagesordnung gesetzt. Er unterstrich, dass die Gestaltung der Beziehungen zu Russland die zentrale Aufgabe der NATO bleibt und dass deren Bewältigung auch über ihre eigene Gestalt entscheidet.

Bisher hat sich die NATO dieser Aufgabe weitgehend entzogen. Statt dem Verhältnis zu Russland die beanspruchte »strategische« Qualität zu verleihen, hat sie es lediglich verwaltet und – mehr noch – Russland im Sinne einer vagen »Risikovorsorge« präventiv eingedämmt. Für diese Haltung tragen die USA als Führungsmacht der Allianz die Hauptverantwortung. Russland, so die bis in die jüngste Zeit gehegte Einschätzung Washingtons, sei zu schwach und unbedeutend, Rücksichtnahme auf seine Interessen angesichts der amerikanischen Machtfülle daher nicht angezeigt. Zudem widersprach Russlands innenpolitische Entwicklung der amerikanischen Vision eines Siegeszugs der Demokratie, der mit den farbigen Revolutionen in Tiflis, Kiew und Bischkek zu einer neuen Welle anzusetzen schien. Und in dem Maße, in dem sich unter Putin restaurative Tendenzen durchsetzten, verstellte die in Washington gängige Interpretationsfolie des »demokratischen Friedens« mit ihrer Annahme eines engen Zusammenhangs zwischen autoritären Strukturen im Inneren und aggressivem Verhalten nach außen konzeptionell Möglichkeiten der Kooperation. In Russland wiederum galt diese Haltung vor dem Hintergrund westlicher Doppelstandards, die Russland prügelten, Kasachstan und Aserbaidschan aber hofierten, als neuerlicher Beweis, dass der Westen kein starkes, sondern allein ein schwaches Russland zu akzeptieren bereit sei.

NATO: Keine »privilegierte« Beziehung zu Russland

Die wechselseitige Entfremdung gipfelte im Kaukasus-Krieg. Er eröffnet gleichzeitig Chancen für einen Neuanfang. Ein konstruktives Verhältnis zwischen Russland und NATO kann allerdings nur im Rahmen einer gesamteuropäischen Architektur gelingen, und diese setzt eine Selbstbeschränkung der NATO voraus.

Mit der Entscheidung zur NATO-Erweiterung Mitte der 1990er Jahre gab die Allianz eine Antwort auf die Frage nach ihrer raison d’etre, setzte zugleich ihre Beziehung zu Russland auf eine abschüssige Bahn. Dieser Beschluss hatte viele Urheber. In Deutschland war es der damalige Verteidigungsminister Rühe, in den USA sind die Anhänger des »Europe first« um Außenministerin Madeleine Albright zu nennen. Sie argumentierten, die EU sei zu schwach, um allein den östlichen Teil des Kontinents zu stabilisieren. Die amerikanische Vormachtstellung und die herausgehobene Rolle der NATO zu bewahren, diene also nicht nur amerikanischen Interessen, sondern ebenso der europäischen Sicherheit. Sie setzte sich gegen die insbesondere vom ehemaligen Vize-Außenminister der USA, Strobe Talbott, vertretene Linie durch, der dem Ausbau der sicherheitspolitischen Kooperation mit Russland Vorrang einräumen wollte. Fand bis dahin die Vision eines geeinten Europa mit gesamteuropäischen Institutionen wie der KSZE und ihrer Nachfolge der OSZE im Westen noch prominente Unterstützung, reklamierte nun die NATO dieses Ziel für sich. Dies waren zunächst nicht nur leere Worte. Denn auch die Anhänger des »Europe first« akzeptierten, dass Russland durch die NATO-Erweiterung nicht an den Rand gedrängt und vom Westen isoliert, sondern eingebunden werden solle. Es wurde allerdings nie geklärt, wie dieser Anspruch jenseits der ziemlich amorphen Hoffnung auf graduelle Annäherung umgesetzt werden könnte. Dass die NATO, nachdem sie die Büchse der Pandora einmal geöffnet hatte, neuerliche Erweiterungen in Aussicht stellte, erwies sich hier als durchaus hinderlich. Und so entschloss sie sich nach der ersten Erweiterungsrunde 1999 um Polen, Tschechien und Ungarn auf amerikanisches Drängen 2001, weitere sieben Staaten einschließlich des Baltikums aufzunehmen.

Auf diese Frage entwickelte die NATO eine Reihe von Antworten, die zumindest konstruktive Absichten erkennen ließen. Zunächst schlossen die USA mit ihrer Erweiterungsformel, nach der alle europäischen Demokratien der NATO beitreten könnten, mehr oder weniger deutlich auch Russland ein.1 Aktuell billigte die NATO Russland insoweit einen privilegierten Status zu, als sie noch vor der ersten Erweiterungsrunde eine gemeinsame »Grundlagenakte« verabschiedete und Moskau über einen NATO-Russland-Rat an die Allianz anband. In diesem verfügte Russland zwar nicht über Stimmrechte, gewann aber eine Plattform wechselseitiger Konsultationen, die zumindest informellen Einfluss versprach. 2001 wurde im Vorfeld der zweiten Erweiterungsrunde dieser Rat noch einmal aufgewertet und operativer ausgestaltet. Darüber hinaus stellte die NATO in Aussicht, dass sie ihren Charakter als reine Militärallianz verändern und politischer werden wolle. Dies basierte zum einen auf der Erwartung, die innere Kohärenz der Allianz werde ab- und das europäische Gewicht zunehmen. Sie stützte sich aber ebenso auf konkretere Zusagen wie die Zusicherung, keine »substantiellen Kampfverbände« in die neuen Mitgliedstaaten zu verlegen, d.h. also dass die Erweiterung sich auf den politischen Artikel 4 des Nordatlantikvertrages, nicht auf die integrierte Militärorganisation des Artikel 5 beziehen würde. Schließlich betonte das offizielle Washington unermüdlich, die Erweiterung diene gerade auch russischen Sicherheitsinteressen, da die NATO die neuen Mitglieder und Beitrittskandidaten einbinde, sozialisiere und so deren Kooperationsbereitschaft gegenüber Russland erhöhe. Damit kündigten die USA implizit an, bei der Entscheidung über die Aufnahme neuer Mitglieder deren Kooperationsbereitschaft gegenüber Moskau zu berücksichtigen bzw. die Zuverlässigkeit der neuen Mitglieder und Kandidaten sicherzustellen.

In der Praxis jedoch setzte die NATO ihre Doppelstrategie der Erweiterung und parallelen Einbeziehung Russlands nur partiell um. Das lag zum einen an dem konzeptionellen Spagat, mit der Erweiterung nicht nur zur Stabilisierung Osteuropas beitragen, sondern ebenso Vorsorge für die Sicherheitsrisiken, die exklusiv mit Russland verbunden wurden, treffen zu wollen. Daraus resultierte das praktische Dilemma, Integration und Kooperation auf einen Nenner zu bringen. Vor allem aber löste die Bush-Regierung das implizite Versprechen, eine privilegierte Beziehung zu Russland aufzubauen, nie ein. Im Gegenteil bestand eine ihrer ersten Amtshandlungen darin, den Raketenabwehrvertrag, aus Sicht Moskaus ein Eckstein der bilateralen Beziehung, zu kündigen. Statt der von Russland angestrebten Fortsetzung einer vertraglich abgesicherten und von beiden Seiten überprüf- und einklagbaren Abrüstung der strategischen Nuklearwaffen ließ sich Bush 2002 nur auf das unverbindliche SORT-Abkommen ein, das lediglich die ohnehin geplanten Maßnahmen der USA notifizierte. Auch auf anderen Feldern berücksichtigten die USA russische Anliegen und Einwände kaum, am deutlichsten wurde dies bei der Anerkennung des Kosovo. Diese Attitüde eines ignoranten Unilateralismus der USA übertrug sich auch auf die Haltung der NATO zu Russland. Diskussionen im NATO-Russland-Rat blieben auf eher periphere Felder gemeinsamer Sicherheit beschränkt, wobei die Terrorismusabwehr zu den gravierendsten Herausforderungen zählte. Bei den Kernfragen der kollektiven Verteidigung sowie allen Diskussionen über künftige NATO-Erweiterungen blieb Moskau außen vor. Auch wurde die NATO keineswegs politischer. Vielmehr oszillierte sie zwischen Donald Rumsfelds NATO-Konzept eines Werkzeugkastens für ad-hoc-Koalitionen und der Vision einer NATO als militärischem Arm einer globalen Union von Demokratien. Ebenso wenig lösten die Regierung in Washington und das NATO-Hauptquartier in Brüssel ihre frühen Zusagen zur militärischen Integration der neuen Mitglieder ein. Die USA verschleppten eine Definition »substantieller Kampfgruppen« und bereiteten statt dessen die Stationierung von schnell verlegbaren »Stryker«-Verbänden in Rumänien und Bulgarien sowie den Aufbau von US-Raketenabwehrsystemen in Tschechien und Polen vor. Die in Polen stationierten Abwehrraketen sollen zudem von Patriot-Systemen mit amerikanischer Besatzung geschützt werden. Schließlich ist weder eine Zivilisierung der neuen noch gar der – wie der Kaukasus-Krieg demonstrierte – künftigen Mitglieder feststellbar. Tatsächlich unternehmen Washington und Brüssel nur begrenzte Versuche, die Aussicht auf NATO-Mitgliedschaft an ein kooperatives Verhalten der Kandidaten zu koppeln. Im Fall Georgiens erwies sich dies Versäumnis als fatal.

Russland beklagt Arroganz der NATO

Das Verhalten Georgiens stellte denn auch für Russland den ultimativen Beweis dar, dass die amerikanischen Versprechungen über den Sicherheitsgewinn, der mit der NATO-Erweiterung für Russland einhergehe, nichts anderes darstellte als ein Rauchvorhang, hinter dem das westliche Bündnis und seine Vormacht ungeniert seine Einflusszone bis an die russischen Grenzen auszudehnen trachtete. Diese Vermutung prägte das russische Verhältnis zur NATO fast seit Gründung der Russischen Föderation. Es war eine nur sehr kurze – später als »romantisch« diskreditierte – Periode, in der sich so etwas wie ein entspanntes Verhältnis zwischen Russland und der westlichen Allianz anbahnte, den „natürlichen Freunden und künftigen Verbündeten“ des neuen Russland, wie sich dessen Außenminister, Andrej Kosyrew, 1993 vernehmen ließ. Sie währte kaum länger als ein Jahr und endete geraume Zeit, bevor sich die NATO im Januar 1994 erstmals offiziell zur Öffnung des Bündnisses bekannte.

In den darauf folgenden zwei Jahren, in der Auseinandersetzung um die russische Beteiligung am NATO-Programm eines »Partnership for Peace« (PfP) ebenso wie bis zum Abschluss der »Grundlagenakte«, bildeten sich alle Vorbehalte und Argumentationsmuster heraus, die das offizielle Moskau bis heute der NATO und ihren Erweiterungsabsichten entgegenhält. Das beginnt mit der Klage, dass der Westen sich anders als der Warschauer Pakt geweigert habe, am Ende des Kalten Krieges seine Militärallianz aufzulösen. Er würdige folglich nicht den entscheidenden russischen Beitrag zur Beendigung des Kalten Krieges, sondern zelebriere unverändert seinen vermeintlichen Sieg. Dieser arroganten Haltung entsprächen die gebrochenen Versprechen des Westens und sie finde ihre Fortsetzung in den kaum verhüllten Anstrengungen, Russland eindämmen zu wollen. Allein die mit der NATO-Ausweitung einhergehende Gefährdung der demokratischen Entwicklung Russlands durch Stärkung revanchistischer und isolationistischer Kräfte ist heute – aus nahe liegenden Gründen – nicht mehr Bestandteil der Argumentation. Es finden sich aber bereits damals selbst beim liberalen russischen Außenminister Kosyrew Hinweise auf die GUS als einer Zone »vitalster russischer Interessen«. Auch sollten die mitteleuropäischen Beitrittskandidaten einen vorzugsweise »semi-demilitarisierten« Gürtel von Staaten bilden, da sie nur so, ausgestattet mit einem russischen droit de regard, ihre Brückenfunktion nach Westen wahrnehmen könnten. Und dem Westen wurde angeraten, Russland trotz seiner temporären Schwäche als „große Weltmacht“ anzuerkennen, deren Außenpolitik sich durch „Selbständigkeit und Selbstvertrauen“ auszeichne – so erneut Kosyrew. Ganz in diesem Sinne erhob Russland bereits damals Klagen über die belehrende Tonlage aus dem Westen, die mit der gleichen Entschiedenheit zurückgewiesen wurden wie heute und daher weitgehend ungehört verhallten.

Ähnlich vertraut klingen die schon 1994/95 erhobenen Drohungen, mit denen Russland seinem Ansinnen Geltung zu verschaffen suchte. Sie reichen von der Kündigung der Abkommen über die Begrenzung der konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE) und das Verbot von Mittelstreckenwaffen (INF-Vertrag) sowie Ratifikationsvorbehalten beim nuklearen Abrüstungsvertrag START-II bis hin zur angedrohten Stationierung nuklearer Kurzstreckenraketen an der polnischen Grenze (oder zur offiziös lancierten Drohung, Militär einzusetzen, sollte auch das Baltikum den Weg in die NATO finden). Putins Suspendierung des KSE-Vertrags, die Ankündigung des amtierenden russischen Präsidenten Medwedjew, in der Region Kaliningrad »Iskander«-Raketen stationieren zu wollen, oder seine Verlautbarung, in den Nachbarstaaten (und bei Bedarf auch darüber hinaus) »besondere Interessen« zu haben, wirken vor diesem Hintergrund so ungewöhnlich nicht und können kaum als russische Neuauflage des Kalten Kriegs gewertet werden.

Diese Übereinstimmung lässt die retrospektive Idealisierung der Jelzin-Periode als ein Aufbruch zu neuen demokratischen Ufern im breiten Strom westlich definierter universaler Werte nun doch in einem etwas anderen Licht erscheinen. Russlands Vorbehalte sind denn auch weniger Ausfluss des Putinismus und unheilvoller russischer Absichten, die sich unter Putin vermeintlich aggressiv geändert haben, vielmehr deuten sie auf die strukturellen Dilemmata der russischen Sicherheitspolitik. Es sind dies die Dilemmata einer Macht, die einerseits mitbestimmen, aber andererseits ihre Handlungsfreiheit bewahren will. Vor diesem Hintergrund klagt Moskau zwar beständig über das Vordringen der NATO sowie deren Konstituierung als paneuropäischer Sicherheitsorganisation und fühlt sich ausgeschlossen, will sich andererseits aber der NATO weder unterwerfen noch ihr beitreten. Stattdessen bemüht sich die russische Regierung darum, das Bündnis von außen zu steuern und in seiner Reichweite zu begrenzen. Zur Lösung dieses Dilemmas kursierten Mitte der 1990er Jahre in Moskau mancherlei Modelle, die etwa die Schaffung eines Europäischen Sicherheitsrats im Rahmen der KSZE und als Filiale der Vereinten Nationen vorsahen, dem die militärischen Fähigkeiten der NATO gleichrangig mit denen Russlands bei- und untergeordnet sein sollten. In diesen Rahmen fügt sich auch Medwedjews Forderung nach einem europäischen Sicherheitsvertrag, der im wesentlichen nichts anderes darstellt als ein neuer diplomatischer Anlauf, um dem seit 1992 verfochtenen Ziel einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung unter Einschluss Russlands näher zu kommen.

Die Erweiterungsdynamik, in der sich in vielerlei Facetten »push« und »pull« vorzüglich ergänzten, war so indes nicht zu stoppen. Moskau konnte folglich nie die Initiative gewinnen, blieb immer reaktiv und daher von 1994 bis heute mit der akuten Frage konfrontiert, wie es die jeweils unerwünschten Nebenwirkungen einer kooperativen und einer konfrontativen Haltung gegenüber der NATO neutralisieren kann. Das zeigte sich beim Umgang mit der »Partnerschaft für den Frieden« und deren schillernder Gestalt als ausgedehntem Warte- oder kurzem Durchgangsraum zur NATO-Mitgliedschaft ebenso wie später beim NATO-Russland-Rat, der russischen Kritikern kaum mehr als die Illusion der Mitbestimmung, der NATO hingegen zusätzliche Legitimität vermittelte.

Es kann nicht verwundern, dass sich vor diesem Hintergrund schon früh die Auseinandersetzung um die NATO und deren Erweiterung zu einem Symbolkonflikt verengte, an dem sich der internationale Status und das Gestaltungspotential Russlands zu erweisen hatten. Unter Jelzin ging es dabei um das Spannungsverhältnis zwischen den unbefriedigten Ambitionen und den unbefriedigenden Fähigkeiten einer romantisch verklärten einstigen Großmacht. Unter Putin und seinem Nachfolger ist die russische Großmachtrolle zumindest in der eigenen Wahrnehmung weit weniger virtuell. Folglich haben die Demonstrationen eigener Stärke mehr Substanz und bergen deutlich höhere Risiken. Erschöpfte sich Jelzins rote Linie, die er 1999 um das Baltikum gezogen hatte, noch in bloßer Deklaration, wurde die rote Linie Putins und Medwedjews um Georgien und die Ukraine im Kaukasus-Krieg von Panzern gezogen. Der Westen tut gut daran, diese Warnung nicht erneut mit seiner schon sprichwörtlichen Ignoranz zu strafen.

Anmerkungen

1) Vgl. etwa die Zusicherung der damaligen Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice, Russland könne, wenn es dies wolle und die Kriterien erfülle, der Allianz beitreten, in: FAZ, 4.8.2001, S.2.

Dr. Matthias Dembinski ist stellvertretender Vorsitzender des Forschungsrates und Projektleiter, Dr. Hans-Joachim Spanger Programmbereichsleiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2009/1 60 Jahre Nato, Seite