W&F 2025/1

Josef Mühlbauer, Maximilian Lakitsch (Hrsg.) (2024): Kritische Friedensforschung – Konzepte, Analysen & Diagnosen. Wien, Berlin: mandelbaum Verlag. ISBN 978-3-9913-6050-6, 528 S., 35 €.

Abb. von Buch

Der vorliegende mehr als fünfhundertseitige Band möchte einen Überblick über den aktuellen Zustand der kritischen Friedensforschung geben. Dabei legen die Herausgeber, Josef Mühlbauer, Mitarbeiter am »Institute for a Global Sustainable Information Society« in Wien, und Maximilian Lakitsch vom »Institute for the Foundation of Law« am Department »Global Governance« der Universität Graz, kein gemeinsames Verständnis »einer« kritischen Friedensforschung zugrunde, vielmehr wollen sie die Debatte darüber, wie kritische Friedensforschung zu verstehen sei und was sie zu leisten imstande sein könnte, wieder anstoßen. Die aktuell allumfassende »Zeitenwende«, die als Militarisierungsstrategie von der deutschen Regierung ausgerufen wurde, dient dabei zum Anlass für diese erneute Selbstverortung. Mehr als 50 Jahre sind seit dem wegweisenden Band »Kritische Friedensforschung«, damals herausgegeben von Dieter Senghaas, vergangen. Der Band versucht sich, als Fundgrube, an einer Aktualisierung.

Von den 22 Beiträgen im Sammelband sind nur zwei Beiträge von Autoren aus den USA und Großbritannien, beim Rest handelt es sich um Arbeiten aus dem deutschsprachigen Raum (allerdings ohne Schweiz). Die Beiträge reichen von kurzen Interventionen und politischen Positionierungen über Interviews bis hin zu längeren wissenschaftlichen Aufsätzen. Die Vielfalt der Zugänge, der Textformen und der unterschiedlichen zugrundeliegenden Definitionen gibt dem Band den Charakter einer reichen Schatzkiste, lässt manche Analysen aber auch sehr unverbunden nebeneinander stehen. Nicht immer ist ein roter Faden in Auswahl und Sortierung der Texte direkt erkennbar. Lesenswert sind die Beiträge jedoch allemal.

Denn besonders jetzt, da sich die globalen Probleme zu einem gordischen Knoten verwickelt haben, dessen Ent-Wicklung nötig ist, damit sich die Menschheit überhaupt aus der Polykrise heraus weiter entwickeln kann, scheint auch eine kritische Friedensforschung mehr als dringlich angezeigt. In diesem Sinne versteht der über die Grenzen Österreichs bekannte Friedensforscher Werner Wintersteiner in seinem Essay Friedensforschung als eingreifende Wissenschaft und kommt zum Schluss, dass angesichts der heutigen Bedingungen „Frieden zunehmend zu einer Voraussetzung für das Überleben der Spezies Mensch wird bzw. bereits geworden ist“ (S. 83f.). Das Untersuchen einer gesamtgesellschaftlichen und globalen Friedensvision sei daher die erste Grundaufgabe für eine kritische Friedensforschung. Die zweite liege in der Pragmatik, Kriege zuvörderst beenden zu können. Und die dritte im Suchen realistischer Alternativen, um weitere Schritte in die Richtung der Verwirklichung der Friedensvision setzen zu können.

Dieses Buch versucht, die herausfordernde Polykrise auf sehr vielen Ebenen friedenspolitisch und -wissenschaftlich zu sortieren. Einige der Versuche sollen hier erwähnt werden.

Mit Blick auf die Ursachen der heutigen Mehrfachkrise ergeben – hintereinander gelesen – die Beiträge des Osteuropaexperten Dieter Segert zum bipolaren Denken im Ukra­ine­krieg (ab S. 23), der Überblick von Roy Casagranda über die Geschichte des US-Imperialismus im Nahen Osten (ab S. 267) sowie das Interview von Mitherausgeber Josef Mühlbauer mit dem allseits bekannten Politiker und Professor im Ruhestand, Mohssen Massarrat, zur Geopolitik (ab S. 360) gute Einsichten in den Fortbestand transnationaler Gewaltstrukturen und deren tiefe Verankerung.

Wie bestimmte Mittel der Außen-, Sicherheits- und Menschenrechtspolitik dazu dienen, diese Gewaltstrukturen fortzusetzen oder zu bestätigen, thematisieren mehrere Beiträge im Band. So problematisiert Michael Berndt (†), Mitglied des AK Herrschaftskritische Friedensforschung der AFK, in seinem Beitrag die Militäreinsätze, die vordergründig nicht mit eigenen, imperialen Interessen begründet werden (ab S. 93), und fragt, ob Militärinterventionen – in seinem Fall in der Sahelzone – überhaupt Teil einer Problemlösung sein könnten oder nicht eher Teil der Probleme sind. Eine ähnliche Frage stellt Janina Dannenberg von der Universität Freiburg. Sie untersucht das Instrument der internationalen Menschenrechtsbeobachtung in den Philippinen auf die ihm eingebettete Herrschaftsaffirmation oder -kritik (ab S. 165).

Eine zweite Gruppe an Beiträgen versucht sich an Vorschlägen von Alternativen, Frieden normativ einzupreisen. Ein Versuch in diese Richtung wird von Alexandre Christoyannopoulos von der Loughborough University unternommen. Er stellt den Anarcho-Pazifismus (ab S. 330) vor – übrigens im schönen Zusammenklang mit dem Beitrag von Gerhard Raft zum Anarchopazifismus Pierre Ramus’ (ab S. 230). Auch die Beiträge von Tom Weibel, über den zapatistischen Widerstand gegen den Nekrokapitalismus (ab S. 303), und von Mechthild Exo, über »demokratische Friedenskonzepte jenseits des liberalen Abgrunds« mit Beispielen aus Afghanistan, Nagaland und Kurdistan (ab S. 397), setzen sich mit konkreten Realisierungsversuchen auseinander.

Doch kritische Friedensforschung muss auch ihren kritischen Blick auf die eigene Wissensproduktion und deren Bedingungen lenken. Claudia Brunner – sie ist die Leiterin des Zentrums für Friedensforschung und Friedensbildung an der Universität Klagenfurt – problematisiert genau diese Bedingungen, die kritische Friedensforschung an der Universität vorfindet. Abgesehen von der Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen und einer Reihe anderer Entfremdungen, die den Akademiker*innen Unbehagen verursachen, stößt sie auf einen systemimmanenten Widerspruch, „revolutionäre Ideen innerhalb einer tendenziell reaktionären Institution hervorbringen und über diese hinaus auch noch vermitteln zu wollen“ (S. 389). Kritische Friedensforschung müsse sich daher an der Dekolonisierung der Universität beteiligen, da diese „nicht vorrangig einen Ort der Befreiung von Herrschaft und Gewalt darstellt.“ (S. 395).

Nicht zuletzt richten Ko-Herausgeber Maximilian Lakitsch, in seinem Aufsatz über den »affirmative turn in der praktischen und theoretischen Auseinandersetzung mit Frieden« (ab S. 425), und Juliana Krohn vom Institut für Philosophie der Universität Innsbruck, in ihrem Beitrag zum anthropozentrischen Friedensverständnis (ab S. 439), die Kritik dann auch auf die zugrundeliegenden Theorietraditionen der Friedensforschung – und gemahnen praktisch wie theoretisch ein Umdenken an. Lakitsch schreibt dazu: „Allzu oft richten gut gemeinte internationale Friedensbemühungen mehr Schaden als Nutzen an, da sie auf reduktionistischen, universalistischen und essentialistischen Grundannahmen beruhen“ (S. 434). Diese Annahmen zu überkommen müsste eine kritische Friedensforschung immer auch antreten.

Alles zusammengenommen ergibt das Buch einen schönen Einblick in die unterschiedlichsten Versuche, Friedensforschung herrschaftskritisch zu denken. Die Beiträge kreisen alle darum, die Engführung der im westlichen Denken geltenden epistemologischen, ontologischen und praxeologischen (sprich: auf Werten und Normen basierenden) Prämissen aufzubrechen. Sie versuchen die eigene Forschung dafür zu öffnen, dass die Zeichen der Zeit noch immer und jetzt verstärkt wieder auf eine andere Welt verweisen, die möglich ist, eine, die nicht mehr von den Vorstellungen der »Goldenen Milliarde« geprägt ist, sondern von den Absichten selbstbewusster werdender Völker des Globalen Südens. Immer mehr von ihnen verschreiben sich der großen Aufgabe, die noch nie dagewesene Weltordnung zu schaffen, die eben nicht mehr auf imperialer Hegemonie, Herrschaft, Ausbeutung, Unterdrückung und Zerstörung der Umwelt beruht. Nur in einem gleichberechtigten Zusammenleben aller Menschen gibt es eine Zukunft. Nur eine Rückbesinnung auf vierzig Jahre altes »Neues Denken«, das mit der Auflösung der Sowjetunion und der damaligen Zumutung des Westens, den Kalten Krieg gewonnen zu haben, vergessen und verdrängt wurde, kann die Weltkriegsgefahr eindämmen. Nur durch gemeinsame Sicherheit für alle Nationen kann der Verantwortung zum Schutz der gesamten Menschheit vor einer selbstverschuldeten Vernichtung Rechnung getragen werden.

Daher sei das vorliegende Buch als eine Fundgrube für alle Forscher*innen empfohlen, die am so verstandenen Projekt kritischer Friedensforschung teilhaben wollen.

Wolfgang Hofkirchner

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2025/1 Wider das Vergessen, Seite 64–66