Kurdistan
Brennpunkt im Hinterhof
von Angelika Beer
Das Interesse der westlichen Regierungen an Kurdistan ist – zumindest vordergründig – erloschen. Die Darstellung der Gesamtsituation des in 5 Teile getrennten Kurdistans scheint den Politikern und öffentlichen Medien zu kompliziert oder zu unbequem. Hin und wieder schleicht sich die eine oder andere aus dem Zusammenhang gerissene Schlagzeile in die Tagespolitik. Der Brennpunkt Kurdistan ist von der Bildfläche verschwunden.
Die Bilder fliehender und ermordeter Kurden wurden mit denen des Grauens aus dem jugoslawischen Bürgerkrieg ausgetauscht. Es ist aber an der Zeit, dem Brennpunkt Kurdistan vermehrt Aufmerksamkeit zu widmen und nicht abzuwarten, bis alt bekannte Bilder erneut über die Fernsehschirme in die deutschen Wohnzimmer gebracht werden.
Rückblick zur Entwicklung in Südkurdistan (Nordirak)
Südkurdistan ist ein zerstörtes Land. Der erste Golfkrieg Iraks gegen Iran, der zweite Golfkrieg der »Anti-Saddam-Allianz« zur Befreiung Kuwaits sowie die Anfal-Offensive Saddams gegen die Kurden im eigenen Land haben jede Struktur vernichtet. Mit der Begründung, die Integrität Iraks zu bewahren, war dem irakischen Baath-Regime jedes Mittel Recht, um die kurdischen Autonomiebestrebungen zu zerschlagen.
Die Zahl der Opfer der Anfal-Offensive, die mit dem Giftgaseinsatz 1988 im kurdischen Halabjah ihren Höhepunkt fand, beziffert die Kurdistan-Front auf etwa 183.000 Menschen; ca. 4.500 kurdische Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, die Bevölkerung zwangsumgesiedelt.
Obwohl diese Tatsachen, wenn auch damals nicht in ihrem vollen tragischen Ausmaß, bekannt waren, wurde der Irak von den westlichen Staaten bis unter die Zähne aufgerüstet, um ihn als Stabilitätsmacht am Golf gegen Iran aufzubauen.
Erst die Intervention Iraks in Kuwait 1990 sorgte für den vorläufigen Wechsel der Sympathien vor allem der US-Administration. Als Kuwait durch die Aktion »Desert Storm« »befreit« und Saddams Truppen geschlagen waren, gewährten die Bodentruppen der »Anti-Saddam-Allianz« das Zusammenziehen und die Verlegung der Repbulikanischen Garden Saddams in den Nordirak. Bilder des versuchten Völkermordes an den Kurden schreckten die Öffentlichkeit auf. Massenflucht von 1,5 Mio. Menschen in Richtung der benachbarten Grenzen der Türkei und Irans. Die Alliierten errichteten die sogenannte Schutzzone nördlich des 36. Breitengrades. Die Aktion »Provide Comfort« lief an. Zuviel um zu sterben, zu wenig, um zu leben. 1,5 Millionen Kurden kehrten in ihre Heimat zurück.
Rückblick zur Entwicklung in Nord-West Kurdistan (Südost-Türkei)
Militärputsch 1980: die Bundesregierung Deutschland stoppt vorübergehend die militärische Ausrüstung der türkischen Armee.
Wenig später wird die Regierung Özals als Rückkehr zur Demokratie des NATO-Partners mit der Wiederaufnahme von Rüstungsschenkungen belohnt. Ebenfalls mit der Begründung, die Integrität der Türkei zu wahren, wurde das Wort Kurde aus dem türkischen Wortschatz verbannt. Der Verstoß gegen die Leugnung der Existenz des kurdischen Volkes wurde hart bestraft. Nicht nur die Repressionen und Unterdrückung des kurdischen Volkes nahm zu, sondern auch der Widerstand der »Bergtürken« dagegen. Während NATO und Türkei sich auf die Strategie der Anti-Terrorismus-Bekämpfung einigten und bundesdeutsche GSG 9 Spezialisten für das notwendige know how in der Türkei sorgten, rief die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) 1984 zum bewaffneten Widerstand gegen das Unterdrückerregime auf.
Özal ging zum offenen Staatsterror gegen die kurdische Bevölkerung über, unterstützt von den Alliierten. 1989 teilte die türkische Regierung dem Europarat mit, daß die Geltung der Menschenrechte der Vereinten Nationen für die kurdischen Provinzen aufgehoben sei. Diese Derogation der Menschenrechte gilt bis zum heutigen Tag.
Die Türkei nutzte ihre militärstrategisch wichtige Rolle für die West-Alliierten während des 2. Golfkrieges geschickt aus; die türkischen Angriffe auf die KurdInnen wurden – im Schatten des Golfkrieges – immer massiver.
Bei den Wahlen 1991 verlor Özal die Regierungsmehrheit, die nun von der SHP und ANAP gestellt wird (Inönü und Demirel). Özal ist nach wie vor Regierungspräsident.
Silopi dient den amerikanischen und französischen Militärs bis heute noch als militärischer Stützpunkt, von dem aus sie als sogenannte »Schutztruppe« die »Kontrollflüge« über irakisch Kurdistan durchführen, um das UNO- Flugverbot für irakische Militärmaschinen nördlich des 36. Breitengrades zu kontrollieren.
Zwei Jahre nach dem Golfkrieg: Krieg in türkisch Kurdistan
Es herrscht Krieg mitten in Europa, und keiner sieht hin. Die Demokartieversprechungen der neuen Regierung in Ankara sind längst in kurdischem Blut, in Folter und Mord ertrunken. Bei den von der Armee und Spezialeinheiten angerichteten Massakern an der Zivilbevölkerung anläßlich des kurdischen Neujahrstages Newroz am 21. März 1992 hat es mehr als 100 Todesopfer gegeben. Über 160 Menschen fielen Mordanschlägen durch Todesschwadronen zum Opfer, die dem Verantwortung der staatlichen Repressionsorgane zuzuordnen sind.
Darunter befinden sich dreizehn Journalisten, die es wagten, trotz Zensur und Morddrohungen über die Kontraguerilla zu berichten. Jüngstes Opfer ist der Journalist Namik Taranci von »Gerecek«, der nach seinem Bericht über die Todesschwadrone am 20.11.92 beim Verlassen seiner Wohnung ermordet wurde.
Die kurdische Geschichte wiederholt sich. „30.000 Kurdinnen und Kurden mußten fliehen.“ Diese Meldung vom August '92 erfolgt nach der militärischen Strafaktion des Nationalen Sicherheitsrates der Türkei gegen die kurdische Stadt Sirnak. Es mutet wie eine Ironie der Geschichte an, daß der Flüchtlingstreck diesmal in entgegengesetzter Richtung, nach Südkurdistan (Nordirak) zog. Dies Ergebnis der türkischen Politik der verbrannten Erde. Sie hat ihre Bereitschaft erwiesen jene Methoden anzuwenden, die denen des irakischen Regimes in nichts nachstehen und nach der UN-Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermords die Züge eines Genozids tragen.
Wie schon im März bei der Niederschlagung des kurdischen Volksaufstands in Cizre durch den Einsatz deutscher Waffen, beweisen auch heute die Bilder der Zerstörung: es sind Waffen, die von der Bundesregierung finanziert wurden, es sind Panzerfahrzeuge, die kostenlos aus Beständen der ehemligen NVA übergeben wurden, es ist Munition aus den Beständen der NATO.
Irakisch Kurdistan: Befreiungskampf in irakisch Kurdistan
Der Norden Iraks steht (über die Schutzzone nördlich des 36. Breitengrads hinaus) unter kurdischer Kontrolle. Der Aufstand der KurdInnen im Mai 1991 besiegte die Söldner Saddams auch in den größeren Städten Südkurdistans. Lediglich die Region Kirkuk, bekannt als ständiger Konfliktherd wegen seiner Ölvorkommen, steht unter Zentralverwaltung Bagdads. Mit der Massenflucht der KurdInnen zur iranischen und türkischen Grenze im Frühjar 1991 begannen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sowie internationale Hilfsorganisationen unter UN-Mandat, mit medizinischen Notprogrammen für die von der Massenflucht geschwächten Menschen. Ernährungs- und Trinkwasserprogramme, Winterprogramme und schließlich Wiederaufbauprogramme die unter kurdischer Aufsicht erfolgten, führten zu einer Stabilisierung, die weit davon entfernt ist, langfristige Sicherheit zu bieten. Im Mai 1992 wurde die erste freie Wahl zu einem eigenen Parlament durch die Kurdistan Front abgehalten.
Der Wiederaufbau Kurdistans wird nicht nur durch das Einfuhrverbot aufgrund des UNO Embargos gegen Irak erschwert. Seit der Wahl zum Nationalparlament, das laut Beschluß der Kurdistan-Front ausdrücklich die Integrität des Staates Irak nicht in Frage stellt, hat Saddam ein absolutes Embargo gegen die kurdisch autonome Region verhängt. So wird der Wiederaufbau Kurdistans durch ein doppeltes Embargo behindert.
Eine Lockerung des UN Embargos zumindest für den kurdischen Norden Iraks steht bis heute aus. Die Wirksamkeit dieses Embargos, um Saddam Hussein nun doch noch zu stürzen, ist höchst fragwürdig. Mehrere Berichte von Menschenrechtsinitiativen und Friedensgruppen weisen darauf hin, daß die Notleidenden nicht in den Reihen des Baath-Regimes zu suchen sind, sondern die Todesrate der an Seuchen und Hunger sterbenden unter der Zivilbevölkerung Iraks stark steigt. So wird die natürliche Opposition gegen Saddam, die Bevölkerung, geschwächt, nicht aber Saddam selbst.
Die Hoffnung der Kurden, mit der Wahl internationale Anerkennung und Unterstützung zu gewinnen, erwies sich als trügerisch. Die Idee einer Versorgungsluftbrücke, über die auch wirtschaftlicher Handel ermöglicht werden sollte, stieß auf Ablehnung bei den »Schutzmächten«.
Die US-Administration und die anderen westlichen Regierungen machen den kurdischen Führern klar, daß der von ihnen beschrittene eigenständige Weg Kurdistans nicht unterstützt wird und stellen handfeste Bedingungen. „Wie wir schon oft gesagt haben,“ hieß es in einer Erklärung des State-Departments anläßlich der Wahlen in Kurdistan, „wir sind nicht bereit, die Entstehung einer unabhängigen Entität im Nordirak zu unterstützen.“ Das entspricht der Sprache des NATO-Partners Türkei, der den einzigen Zugang ins irakische Kurdistan erpresserisch kontrolliert und die irakischen Kurden zwingen will, gegen die von ihrem Territorium aus operierende Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorzugehen.
Der Bruderkrieg unter den Kurden
Der sogenannte Bruderkrieg ist das Ergebnis entstandener, neuer Abhängigkeitsszenarien, zu denen sich der neugewählten Regierung Südkurdistans keine Alternativen bieten.
Südkurdistan ist dem »good will« der Türkei und der ehemaligen Kriegsallianz vollständig ausgeliefert. Nur mit der weiteren Erlaubnis, Transporte und Hilfslieferungen über den Grenzübergang Habur/Zakho einzuführen kann die Bevölkerung den kommenden Winter überleben.
Seit dem 1. Oktober führt die türkische Armee einen Feldzug gegen Kurdistan: Unter dem Vorwand, dem Terrorismus ein Ende zu bereiten und deshalb die bewaffneten Einheiten der PKK vernichten zu müssen, stehen türkische und deutsche Panzer auf irakischem Territorium. Sie vernichten, was nach dem 2. Golfkrieg mühsam wieder aufgebaut wurde, z.T. aus dem Topf Humanitärer Hilfe des Auswärtigen Amtes. Die Flugzeuge der USA und Frankreichs, die vom türkischen Silopi aus die kurdische Schutzzone vor Angriffen Saddams bewachen sollen, sehen dem Feldzug des NATO-Partners zu und unterstützen ihn darüber hinaus mit Informationen über die Standorte der vermutlichen Lager der PKK im Nordirak. Der Sprecher des US-Außenministeriums, Boucher, hat unverblümt Position bezogen: „Wir unterstützen die türkische Regierung bei ihrem Kampf gegen den Terror.“
Das Kesseltreiben gegen den kurdischen Widerstand ist der Türkei nur aufgrund ihrer regionalen Machtstellung im Mittleren Osten möglich. Durch den Bau des gigantischen Staudammprojektes GAP hat sie sich zur Hüterin über die Wasserversorgung im Nahen Ostens gemacht. Die Drohung gegen Syrien, den Wasserhahn zuzudrehen, falls Syrien nicht dem Wunsch der Türkei nachkäme, die Beka Ebene für das dortige Ausbildungslager der PKK zu schließen, zeigte Wirkung. Die Drohung gegenüber der irakischen Kuristan Front, die Grenze für Hilfstransporte zu schließen, wenn die irakischen Kurden nicht selbst dafür sorgen, daß die PKK die Grenzregion verlassen muß, ebenfalls.
Eine fast perfekte Inszenierung des »Bruderkrieges«; die Kurden sind wieder einmal Spielball der Mächtigen. Der Widerstand und berechtigte Befreiungskampf gegen die Unterdrückung der jeweiligen Herrschenden wird durch den »Bruderkrieg« nicht gebrochen werden, dennoch verliert er an Überzeugung und Perspektive, die alle 5 Teile Kurdistans nach wie vor vereint: ein befreites Kurdistan.
Die Interessen der USA und Deutschlands am Status Quo
Der Wahlkampf in den USA ist vorbei; Bush muß gehen – Saddam ist noch immer an der Macht; in Kuwait regieren die gleichen Ölscheichs wie zuvor.
Der Nachfolger Bush's, Clinton, hat bereits verkündet, die amerikanische Außenpoltik ohne gravierende Änderungen weiterführen zu wollen, womit der »Demokrat« unkritisiert verkündet, die Neue Weltordnung weiterhin mit militärischen Mitteln verteidigen zu wollen. Es wird auch unter dieser neuen Weltordnung, wo es so scheint, als sei nationale Unabhängigkeit leichter zu verwirklichen, für die Kurden und andere Emanzipationsbewegungen im Nahen Osten kein Platz sein.
Die US Administration und ihre Verbündeten werden für das Ziel der Aufrechterhaltung des regionalen Staus Qou weiter über Leichen gehen – auch über kurdische.
Der Kampf um kurdische Selbstbestimmung im Irak bedroht die Herrschaftsinteressen des Westens ebenso wie der Befreiungskampf der PKK gegen die Unterdrückung der Türkei oder der Kampf der iranischen Kurden. Die Ermordung iranischer Kurden – wie die von Dr. Ghassemlou in Östereich sowie seines Nachfolgers vor wenigen Wochen in Berlin – die sich für eine Selbstbestimmung Kurdistans einsetzten zeigt den Willen, ein Wiederauferstehen von Mahabat (dem einzigen Kurdischen Staat der 1946 im Iran für nur ein Jahr bstand) auch von iranischer Seite konsequent entgegenzumorden.
Deutschland spielt hierbei eine besonders perfide Rolle. Nur wenn sich die Öffentliche Meinung gegen die Praxis der Waffenbüderschaft mit der Türkei wendet, wird zur Beruhigung der Rüstungsexport kurzfristig ausgesetzt.
Obwohl vielen von uns die Bilder des Kurden, der in Sirnak mit einem aus Deutschen NVA Beständen stammenden Panzer zu Tode geschleift wurde, klar vor Augen stehen und amnesty international den Vorwurf der Beihilfe zum Mord am kurdischen Volk gegen die Bundesregierung erhebt, ist von einem Rüstungsexportstop keine Rede. Die deutsche Außenpolitik hat sich der Interessenslage angepaßt. Außenminister Kinkel besucht China, während 31 Oppositionelle hingerichtet werden; Verteidigungsminister Rühe besucht Ankara und regelt die bevorstehende Lieferung von 46 Phantom-Aufklärungsflugzeugen der deutschen Luftwaffe, die zur Zeit in Baden Würtemberg und im Schleswig-Holsteinischen Leck stationiert sind. Der Mord am kurdischen Volk wird fortgesetzt.
Perspektive
Schon morgen kann für Kurdistan Wirklichkeit werden, was in Somalia bereits Realität ist: die Landwirtschaft und Umwelt ist durch Kriege zerstört. Waffen werden leichter zu haben sein als Brot. In dieser ausweglosen Situation werden die zur Niederschlagung von Befreiungsbewegungen und in blutigen Stellvertreterkriegen gelieferten Waffen, die massenweise im Land geblieben sind und die früher vielleicht einmal die Perspektive boten, sich von der Unterdrückung zu befreien, gegeneinander eingesetzt. Ein Kampf um die zu knappen Resourcen. Die Abschaffung der Armut erfolgt dann in einem Krieg, in dem man sich die Armen gegenseitig umbringen läßt. Die sogenannten Schutztruppen der »Anti-Saddam-Allianz« und Konstrukteure der Neuen Weltordnung werden zu zufriedenen Zuschauern, ohne selbst Hand anzulegen.
Brennpunkt Kurdistan – er darf nicht weiter ignoriert werden.
Angelika Beer ist Mitarbeiterin bei Medico International und Bundesvorstandsmitglied der GRÜNEN.