Leben mit der Pandemie:
Klappt nur in privilegierten Zonen
von Katja Maurer
Gerade haben mich Freunde aus Chile besucht. Sie berichteten aus ihrem Dorf, ca. 150 Kilometer von der Hauptstadt Santiago entfernt. In der ersten Welle von Covid-19 bewachten die Anwohner*innen alle Eingänge zum Dorf, um niemand Auswärtigen hineinzulassen. „Wir können hier nicht schwer krank werden. Das ist ein Todesurteil“, sagten sie mir. Das nächste Krankenhaus mit Sauerstoff und Lungenmaschine befindet sich nämlich erst in Santiago.
In Chile wurde ein großer Teil der Bevölkerung mit dem chinesischen Impfstoff »Sinovac« geimpft. Der schützt aber nur vor einem schweren Verlauf, also stiegen im chilenischen Winter die Ansteckungsraten wieder in schwindelerregende Höhen. Nun könnten noch andere Kriterien als die Inzidenzraten herangezogen und mehr getestet werden, um so hohe Inzidenzen verkraften zu können. In Chile geht das leider nicht. Denn es gibt keine frei verfügbaren Tests. Es lässt sich nur testen, wer sich krank fühlt – und das möglichst heimlich.
Die Regierung reagierte mit autoritären Maßnahmen. Seit fast anderthalb Jahren herrschen mit Unterbrechungen eine abendliche Ausgangssperre und Notzustand, kontrolliert von schwer bewaffneter Polizei und Sondereinheiten des Militärs. Dies ruft keine guten Erinnerungen bei vielen Chilen*innen wach. Alle Maßnahmen sind notgedrungen löchrig, weil die Leute arbeiten müssen, um zu überleben. Busse und Bahnen sind weiter gestopft voll. Eine vollständige Ausgangssperre gilt oft nur am Wochenende, was keinen gesundheitspolitischen Sinn ergibt. Die Schulen und Universitäten sind seit anderthalb Jahren geschlossen. Doch selbst bei vorsichtigen Versuchen sie zu öffnen, weigern sich die Eltern, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Die meisten können sich nicht gegen Covid-19 schützen. Krank zu werden birgt ein großes, wenn nicht tödliches Risiko.
Chile ist vergleichsweise wohlhabend. Was dieses Beispiel über andere ärmere Länder erzählt, in denen es nicht einmal Impfstoff gibt, lässt sich ausmalen. Die Welt wird künftig in voneinander unabhängige räumliche Blasen mit unterschiedlichen Gesundheitsmöglichkeiten aufgeteilt sein. Alle Hoffnungen, dass wir aus der Pandemie auch für zukünftige Krisen lernen könnten, haben sich zerschlagen.
Für diese gesundheitspolitische Spaltung der Welt gibt es verschiedene Gründe. Die Gesundheitssysteme wurden in den vergangenen Jahren in vielen Staaten dem Gesundheitsmarkt zugeführt. Die „öffentliche Gesundheitsinfrastruktur“, so der Gesundheitswissenschaftler Remco van der Pas, sei im Süden in den vergangenen Jahrzehnten „fast völlig verschwunden“. So leidet die Gesundheitsprävention, die nur funktionieren kann, wenn Aufklärung, Heilungsmöglichkeiten und demokratische Beteiligung an den Formen der Prävention Hand in Hand gehen. Die AIDS-Pandemie ist der historische Beweis dafür. Davon sind wir heute meilenweit entfernt. Die aktuelle Pandemiebewältigung ist eine Mischung aus medizinischen und autoritären Maßnahmen – zu wenig, wenn man mit dem Virus leben muss.
Die zweite Katastrophe in der globalen Krisenbewältigung ist die Weigerung, die Patente auf den Impfstoff wenigstens zeitweise freizugeben. Allen voran Deutschland und die EU setzen ihre Wirtschaftsinteressen vor die globalen Interessen der Gesundheit. Doch nur mit lokalen Produktionen des Impfstoffes wäre es möglich, diese Pandemie weltweit einzudämmen. Deutschland lädt sich mit seiner Weigerung eine hohe moralische Schuld auf. Eine Initiative deutscher Bürger*innen verlangt nun, wenigstens mit dem einstigen Kolonialstaat Namibia Impfstoff zu teilen. Hier habe man schließlich eine historische Verantwortung aus dem Kolonialismus. Ob das Bewegung in die festgefahrene Haltung bringt? Es wäre eine Überraschung.
Denn in der globalen Gesundheitspolitik hat längst eine weitgehende Versicherheitlichung eingesetzt. Statt über Formen der Demokratisierung von Weltgesundheit nachzudenken, in der ein öffentliches Gut eine wesentliche Rolle spielen würde, ist der Diskurs über »Gesundheitssicherheit« immer stärker geworden. Dabei geht es hauptsächlich um die Sicherheit der Privilegierten in den Ländern mit höherem Einkommen. Gesundheitssicherheit ist das Gegenmodell zur »Gesundheit für alle«, dem einstigen Leitmotto der WHO. Gesundheitssicherheit dämmt ein und schottet ab. Darin bildet sich eine künftige Weltpolitik ab, die kein Problem mehr lösen kann. Schlechte Aussichten also für eine solidarische Gesundheitspolitik.
Katja Maurer ist Chefredakteurin der Zeitschrift „rundschreiben“, die von der sozialmedinischen Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international herausgegeben wird.