W&F 2014/3

Lebenslaute

Gewaltfreier Widerstand mit Konzertblockaden

von Gerd Büntzly und Ulrich Klan

Die gewaltfreie Bewegung hat auch in Deutschland seit Jahrzehnten in verschiedenen Regionen Kulturen des Zivilen Ungehorsams aufgebaut. Bekannt wurden vor allem der Widerstand im Wendland gegen das geplante atomare Endlager Gorleben oder der erfolgreiche Protest gegen das so genannte Bombodrom, einen geplanten Luftkriegsübungsplatz in Brandenburg. Gewaltlose, genau kalkulierte und inszenierte Gesetzesübertretungen möglichst vieler verschiedener Teile der Bevölkerung und öffentlichkeitswirksame symbolische Aktionen bringen die Spannung zwischen Recht und Gesetz, Legitimität und Legalität immer neu in Fluss, schaffen Aufmerksamkeit, nutzen und erweitern Spielräume des Widerstands und erinnern die Herrschenden daran, dass viele Gesetze und politische Maßnahmen nicht den Interessen der Menschen entsprechen, die sie zu vertreten vorgeben. Einer ungewöhnlichen Art des gewaltfreien Protests widmen sich die MusikerInnen der Lebenslaute.

Natürlich kommt es immer wieder zu gewalttätigen Protesten, der gewaltfreie Widerstand hat aber mehr positive und nachhaltige Veränderungen in der Gesellschaft bewirkt. Gewaltfreie Aktions- und Lebensformen verzichten auf (Be-) Drohung und gestalten eine Atmosphäre der Entspannung und des menschenfreundlichen Geistes, und zwar auf beiden Seiten, bei den AktivistInnen wie den »Anderen«. Die liebevolle und genaue Vorbereitung derartiger Aktionen sowie das intensive Training des gewaltfreien Dialogs wirken bis zu einem gewissen Grad »entwaffnend«, da sie Feindbilder der Polizei bzw. der Sicherheitsbeauftragten unterlaufen. Nicht zuletzt deshalb haben Gerichte schon mehrmals versucht, solche Trainings zu verbieten.

Der Verzicht auf atavistische Routinen des Auftrumpfens oder Drohgebärden erfordert von gewaltfreien Aktionen um so mehr Innovation und Phantasie. Daher spielen in gewaltfreien Bewegungen häufig KünstlerInnen und Formen der Kunst und Kultur eine große Rolle. In Deutschland macht sich die Initiative Lebenslaute seit mehr als einem Vierteljahrhundert ihre künstlerische Phantasie für gewaltfreien Widerstand zunutze.

Lebenslaute

Die Lebenslaute sind ein Zusammenschluss klassischer MusikerInnen – Professionelle wie Laien – sowie vieler UnterstützerInnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ihre Spezialität ist ziviler Ungehorsam durch gewaltlose »Konzertblockaden« gegen Krieg, Unrecht und Zerstörung. Mindestens einmal im Jahr kommen größere oder kleinere Ensembles der Lebenslaute, immer in Zusammenarbeit mit örtlichen Widerstandsgruppen und vor Ort betroffenen Menschen, zusammen – an Raketendepots, Waffenfabriken, Abschiebe-Behörden, genmanipulierten Äckern oder anderen Plätzen, von denen Gewalt bzw. Zerstörung der Natur ausgeht.

Die AktivistInnen übertreten dort Gesetze und übersteigen Bauzäune oder Absperrungen. In Konzertkleidung und oft raumgreifenden Orchester-/Chor-Formationen besetzen sie Plätze oder Zufahrten. Mit geübten Stimmen und Instrumenten funktionieren sie »trockene Stellen« und »verbotene Orte« zur Musikbühne um, locken viele ZuhörerInnen und auch zahlreiche ReporterInnen an, tauchen Nato-Draht, Absperrgitter und Polizeikordons überraschend in eine Atmosphäre von Wohlklang und Schönheit – und stellen damit besonders effektive Sitzblockaden her. Im Zusammenspiel mit den ZuhörerInnen sind solche »Konzertblockaden« eine ebenso lustvolle wie gewaltlose Form, den Ablauf der bespielten Betriebe wirksam zu stören bzw. zum Erliegen zu bringen. Zuweilen helfen Aktionen der Lebenslaute, das tödliche Geheimnis bestimmter Orte wirksam ans Licht zu bringen: Die attraktive Art ihrer Auftritte popularisiert den Widerstand auch an verschwiegenen oder abgelegenen Orten.

Das hat Geschichte – und es fing an mit einer Idee dreier Musiker. Im Kontext des wachsenden weltweiten Widerstands gegen die Bedrohung durch sowjetische und US-amerikanische Atomraketen – konkret gegen die Stationierung von SS20- und Pershing-Raketen in der DDR und der BRD – wurde Ende August 1986 im schwäbischen Mutlangen die Aktionsform Lebenslaute aus der Taufe gehoben: Zwei Musikensembles – ein Sinfonieorchester und ein Chor – sorgten für Verblüffung und für Schlagzeilen, als 120 MusikerInnen in feiner Konzertkleidung und Hunderte HelferInnen und ZuhörerInnen sechs Stunden lang alle Zufahrten des Pershing-Depots dicht machten. Sie spielten dabei Beethovens »Egmont«-Ouverture und Schuberts »Unvollendete«. Die US-Soldaten und die Polizei waren ratlos, und die Tatsache, dass bei dieser Aktion auch prominente Tonkünstler und mehrere TV-Sender dabei waren, machte es ihnen nicht leichter.

Später unterstützten die Lebenslaute mehrfach örtliche Anti-Atom-Initiativen mit Konzertblockaden auf »verbotenem Gelände«, etwa in Gorleben oder Wackersdorf. »Konzertblockiert« wurden unter anderem auch die Rhein-Main Air Base am Frankfurter Flughafen zu Beginn des Zweiten Golfkriegs 1991, das geplante Bombodrom in Brandenburg, das Bundesinnenministerium in Berlin wegen seiner unmenschlichen Abschiebepraxis und die Rüstungsfirma Heckler & Koch in Oberndorf als größter Kleinwaffenhersteller Europas und Profiteur von Waffenexporten in viele Teile der Welt.

Musikalischer und künstlerischer Widerstand im Flughafen-Terminal

Wie läuft eine Lebenslaute-Aktion ab? Als Beispiel eine Momentaufnahme vom August 2011 im Flughafen Halle/Leipzig: Vier intensive Tage mit Proben, Diskussionen und gewaltfreiem Aktionstraining liegen hinter den fast 100 MusikerInnen und HelferInnen, die sich jetzt in der Abflughalle unauffällig unter die Passagiere mischen. Um Punkt 11 Uhr 30 formieren sich plötzlich ein großes Sinfonieorchester und ein Chor, im Rekordtempo und zugleich in größter Ruhe. Sicherheitsdienst und Polizei haben keine Chance, das zu verhindern, oder nur um den Preis, dass der gesamte Passagierbetrieb zum Erliegen käme. Presse- und Polizei-SprecherInnen der Lebenslaute binden die Akteure der Gegenseite. Die Konzertblockade startet mit bestgelaunter Musik von Joseph Haydn.

Warum diese Aktion an diesem Ort? Wie aus dem Nichts werden Transparente entrollt. AktivistInnen lassen von einer Empore die riesige Reproduktion eines Scherenschnittes herunter, geschaffen von dem Leipziger Künstler Jan Caspers. Das große Bild zeigt die erschreckende Szene eines Kriegstransportes: Soldaten, die aus einem Flugzeugbauch stürmen und zu schießen anfangen. Das bei einem Kunstwettbewerb der Stadt Halle ausgezeichnete Kunstwerk sollte schon einmal in eben diesem Flughafen hängen. Das hatte die Flughafengesellschaft damals in einem Akt der Zensur unterbunden.

Die Lebenslaute helfen hier, den geheim gehaltenen Missbrauch des »zivilen« Flughafens Halle/Leipzig aufzudecken: Dieser Ort ist Umschlagplatz für Truppen und schweres Kriegsgerät nach Afghanistan oder in den Irak. Jeder vierte Fluggast ist hier in militärischem Auftrag unterwegs in diese Kriegsgebiete. Diese Flüge werden nicht im Flugplan aufgelistet und sind ein schmutziges und profitables Geschäft für den Flughafen-Betreiber, die Kommunen und den Freistaat Sachsen.

In Kooperation mit örtlichen Friedensinitiativen erheben die Musiker von Lebenslaute ihre geübten Stimmen gegen das »Tabu« dieses Ortes, mit Musik auf hohem Niveau. Zum Beispiel aus Benjamin Brittens erschütterndem »War Requiem« und dem Anti-Kriegs-Oratorium »Das Alexanderfest« von Georg Friedrich Händel: Der Weltbürger aus Halle vertonte darin u.a. die Arie »Waffenhandwerk schafft nur Unheil«. Ohne Zwischenfälle gelingt es »spielend«, eine dreistündige gewaltlose Protestaktion im Flughafen durchzuführen. Auf die Drohung der Polizei, man werde Chor und Orchester räumen lassen, wird lächelnd weiter musiziert. Schließlich verzichtet die Flughafenleitung auf eine Räumung.

Als die Lebenslaute den »Jazz-Walzer« von Dmitri Schostakowitsch anstimmen, springt der Funke über: Viele ZuhörerInnen beginnen, sich im Tanz zu drehen. Auch wartende Flugpassagiere. Das Bild ist so ungewöhnlich wie anrührend: Warteschlangen in fröhlich-subversiver Bewegung – ein Hochglanzterminal lustvoll umfunktioniert. Die österreichische Dirigentin dieser Aktion sagt im Interview mit einem Rundfunksender: „Diese Verbindung von politischer Aktion mit klassischer Musik – das macht Lebenslaute so unwiderstehlich.“ 1

Musik ist subversiv

Von Daniel Barenboim, der zusammen mit seinem palästinensischen Freund Edward Said das israelisch-arabische West-Eastern-Divan-Orchester ins Leben rief, stammt das Bonmot: „Music is subversive.“ Damit trifft er kurz und bündig verschiedene Eigenschaften der Musik: ihre Kraft zur Überraschung und zur Freude, ihre Kraft, Bewegung und »swing« in festgefahrene, verkrustete Verhältnisse zu bringen, ihre Kraft, Grenzen zu überschreiten, Menschen zu vereinen, und ihre Kraft zur Heilung. Wo Musik beruhigend und entspannend wirkt, ist sie selbst ein Element von Gewaltfreiheit. Die Lebenslaute wählen eine spezifische Form der Musik, nämlich eine hoch artifizielle, die eine gründliche Vorbereitung erfordert. Dabei wird auch ein entscheidendes Element gewaltfreien Handelns eingeübt: Disziplin.

Musik kann, wie alle Kunst, auch das Lachen freisetzen, welches Herrschaft untergräbt. So haben sich bei Lebenslaute-Aktionen immer wieder satirische und kritische Musikstücke bewährt, etwa Mauricio Kagels »10 Märsche um den Sieg zu verfehlen«. Musik kann auf angenehme Weise auch Distanz und Reflexion schaffen: „Wir wollen an Orten, an denen Argumente nichts mehr bewirken, Musik als abstrahierendes Element einsetzen, um so auf die Absurdität der Situation hinzuweisen“, so eine Teilnehmerin der Lebenslaute-Aktion 2012 vor der Waffenfabrik Heckler & Koch in Oberndorf am Neckar.

Musik, Kunst oder Performance, wie sie von den Lebenslauten gemacht werden, sind nicht exklusiv und niemals nur Mittel zum Zweck. Sie sind nicht weniger als attraktive, erstaunliche, unabgenutzte Formen des Liebens, des Lebens und des Widerstands. Unsere eigenen Formen, wenn wir sie uns aneignen oder selbst kultivieren. Wir sind am lebendigsten mit dem, was wir mit größter Lust und Liebe tun. Und was wir am besten können, das überzeugt am meisten. Uns selbst und andere. Hier könnten Lebenslaute ein Modell für jede andere Menschengruppe sein, die ihr Können und ihre Lust in den Widerstand einbringen will. Warum dem Ton und dem Trott folgen, den andere vorgeben, wenn mensch die eigene Stimme finden kann?

In Aktionen des zivilen Ungehorsams, zumal in künstlerischen oder musikalischen, gilt jedoch: Sie müssen gut gemacht sein. Es soll schön sein, sie zu erleben. Oder »schön hässlich«. Und insgesamt heiter. Wenn wir provozieren, dann mit Grazie und auch mit Selbstironie. Die Wirkung auf alle, die da sind, ist um so tiefer, je inniger, witziger, authentischer und virtuoser wir sind. „Schlechte Töne, Texte, Bilder oder Happenings sind gerade im Widerstand nicht erlaubt.“ 2

Anmerkungen

1) graswurzel.tv (2011): piano und forte statt Kriegstransporte – LL-Aktion 2011 im Flughafen Halle/Leipzig. Kurzfilm.

2) Ulrich Klan (2000): Ungehorsam, lachend, zivil. In: Wolfram Beyer (Hrsg.): Kriegsdienste verweigern – Pazifismus heute. Hommage an Ossip K. Flechtheim. Berlin: Humanistischer Verband Deutschlands, Landesverband Berlin-Brandenburg.

Gerd Büntzly ist Musiker und Übersetzer in Herford.
Ulrich Klan ist Musiker, Komponist, Autor und Pädagoge in Wuppertal. Er ist aktiv bei den gewaltfreien Ensembles Lebenslaute und »Fortschrott – Musksatire« sowie Vorsitzender der internationalen Armin T. Wegner-Gesellschaft.
Die Lebenslaute erhalten für ihr dauerhaftes, phantasievolles und effektives Friedensengagement zusammen mit der US-Gruppe CODEPINK 2014 den Aachener Friedenspreis.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2014/3 Die Kraft der Künste, Seite 16–18