Lernen aus dem Scheitern
Ist der Bund bereit, »Lehren aus Afghanistan« zu ziehen?
von Conrad Schetter
In zwanzig Jahren deutscher Beteiligung an der Intervention in Afghanistan gab es aus dem politischen Raum nur äußerst spärlich Stellungnahmen zur Situation: Hin und wieder ein Fortschrittsbericht zu Afghanistan, beeindruckende Zahlen über den Bau von Straßen, die Alphabetisierung von Kindern oder die verbesserte Wasserversorgung. Selbstkritik gab es kaum.
30 Monate nach der Rückkehr der Taliban und dem Scheitern der Intervention jedoch überschlagen sich nun Bundesregierung und Bundestag mit zerknirschter Selbstkritik: Ende 2023 erschien die ressortgemeinsame Evaluation von Auswärtigem Amt, BMZ und BMI. Ende Februar 2024 veröffentlichte die Enquete-Kommission »Lehren aus Afghanistan für das zukünftige vernetzte Engagement Deutschlands« ihren Zwischenbericht. Auf insgesamt fast 900 Seiten zeichnen Evaluation und Enquete ein verheerendes Bild des Scheiterns in Afghanistan minutiös nach.
Positiv muss man hervorheben, dass sich mit Evaluation und Enquete der politische Raum seiner Verantwortung stellt, und in Afghanistan gemachte Fehler schonungslos offengelegt werden. Das ist bemerkenswert und Zeichen einer lebendigen demokratischen Kultur. Dass das Verteidigungsministerium sich an der Evaluation nicht beteiligte und damit die Antwort schuldig bleibt, inwiefern es bereit ist, aus Afghanistan lernen zu wollen, ist eine verpasste Chance.
Die Berichte verdeutlichen eindrücklich, was in 20 Jahren Afghanistanpolitik schief lief: Der politische Apparat zeigte kaum Interesse daran, Afghanistan zu verstehen; gesellschaftliche wie politische Kontexte wurden in Zielsetzungen des Einsatzes kaum berücksichtigt. Das Wünschenswerte bestimmte die Agenda, nicht das Machbare. Die Liste des Versagens ist lang. Interessant ist vor allem, dass gerade bei den Anhörungen in der Enquete-Kommission der Eindruck entstand, dass die politischen Entscheidungsträger*innen genau zu wissen schienen, was in Afghanistan schief lief und letztlich von der Bilanzierung des Scheiterns nicht überrascht waren. Alle schienen von den Missständen der Intervention zu wissen, aber vermittelten nach außen hin stets ein anderes Bild.
Worauf auch Zwischenbericht und Evaluationsberichte keine Antwort haben: Weshalb setzte sich dieses Versagen über ganze 20 Jahre hinweg fort – ohne dass kritische Stimmen erhoben wurden; ohne dass sich in den Ministerien eine Fehlerkultur etablierte; ohne dass Anpassungen vorgenommen wurden. Alle wussten, dass sich die Intervention in Afghanistan auf den Abgrund zu bewegte; alle sahen geradezu gelähmt zu, aber niemand ergriff Gegenmaßnahmen. Weder forderte der Bundestag – wie es etwa das niederländische Parlament tat – Zwischenevaluationen, von denen er seine Zustimmung zu einer Mandatsverlängerung hätte abhängig machen können; noch gab es Reporting- und Kommunikationsschleifen in den Ministerien, die die ungeschönte Weitergabe von kritischen Einschätzungen über die verschiedenen Hierarchien in den Ministerien bis hin zu Minister*in und Kanzler*in ermöglicht hätten. Dies ist der eigentliche, unausgesprochene Befund der nun vorliegenden Berichte, der einen vor Schreck erstarren lässt. Denn er wirft ein ganz grundsätzliches Schlaglicht auf das Versagen der deutschen Politik im Umgang mit Fehlentwicklungen.
Viele der Vorschläge in den jetzt vorliegenden Berichten zum »Lernen aus Afghanistan« sind gut, aber nicht neu – und sie gehen allesamt nicht die Frage an, wie eine andere Fehlerkultur in den politischen Apparaten etabliert werden kann und wie bei eklatanten Fehlentwicklungen gegengesteuert werden kann. So verwundert es nicht, dass sich schon die ersten Stimmen in den Ministerien erheben, die Afghanistan als einen einmaligen Vorgang bezeichnen, der sich nicht wiederholen wird. Afghanistan erscheint so als ein Unfall. Diese Bewertung ist praktisch. Denn man kann dann an den bestehenden Grundfesten der politischen Praxis festhalten. Doch genau hier liegt der Fehler. Wenn es eine Lehre gibt, so ist es diese: Eine nachgängige Analyse kann einen angerichteten Schaden nicht wieder gut machen.
Das Plädoyer ist daher ein Einfaches. Aufgrund der Begrenztheit des institutionellen Lernens von Ministerien und Parlament bedarf es einer kritisch-konstruktiven Beratung und Kontrolle von Außen. Konkret sollte jeder Auslandseinsatz von Beginn an von einer unabhängigen Expert*innenkommission begleitet werden, um Fehlentwicklungen im Einsatz frühzeitig zu erkennen und zu analysieren, um politische Entscheidungsträger*innen auf allen Ebenen zu beraten und um die Arbeit der Ministerien zu überwachen. Vielleicht ringt sich ja die Enquete-Kommission am Ende zu solch einer Empfehlung durch; vielleicht ist dies aber auch nicht nötig, da die Ministerien doch weit selbstkritischer sind, als ich hier angemerkt habe, und in ihren Häusern robuste Mechanismen einer Fehlerkultur einführen. Das wäre die wünschenswerteste Lehre aus Afghanistan.
Conrad Schetter ist Direktor des Bonner Zentrums für Konfliktforschung bicc und arbeitet seit vielen Jahren u.a. zu Räumen der Gewalt in Afghanistan.