LEX Yugoslavia
Die Weiterentwicklung des Völkerrechts hin zu Beliebigkeit
von Alexander Neu
Der Degenerierungsprozess des UNO-Völkerrechts lässt sich an keinem Beispiel so gut illustrieren wie dem Umgang des Westens mit dem Staat Jugoslawien bzw. Serbien. Im Folgenden soll die Problematik der Hierarchieverkehrung der beiden Völkerrechtsnormen, der staatlichen Souveränität und des externen Selbstbestimmungsrechts, anhand der jugoslawischen Tragödie – hier begrenzt auf das Kosovo-Problem1 – nachgezeichnet und deren Konsequenzen für das Völkerrecht skizziert werden.
Am 17. Februar 2008 proklamierte das Parlament der serbischen Provinz Kosovo unilateral die Unabhängigkeit von Serbien. Mit der illegalen Unabhängigkeitserklärung und der Unterstützung durch eine US-geführte Koalition der Anerkennungswilligen wurde auf dem Territorium des souveränen Staates Serbien gegen dessen dezidierten Willen schließlich ein nahezu ethnisch homogenisiertes weiteres Staatsgebilde auf der Grundlage terroristischer Gewaltanwendung (UCK) herbeigezwungen und in Folge dessen der Staat Serbien geteilt. Serbien sah und sieht sich außer Stande, diesem illegalen Schritt durch Ausübung seiner Hoheitsgewalt zwecks Verteidigung seiner territorialen Integrität und Souveränität entgegenzutreten, da die US-geführte NATO auf diesem Gebiet Serbiens seit 1999 militärisch präsent ist. Zwar verfügt die NATO über ein Mandat des UNO-Sicherheitsrates in Form der UNO-Sicherheitsratsresolution (1244) zur Stabilisierung der Sicherheitslage – jedoch nicht zur militärischen Absicherung einer illegalen Sezession2. Darüber hinaus sind nicht allein die Existenz einer UNO-Sicherheitsresolution, sondern auch die Hintergründe ihres Zustandekommens und ihre Rechtskonformität mit der UNO-Charta bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Resolution von Bedeutung.
Die Sicherheitsratsresolution 1244 dient(e) – neben der Beendigung des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs der NATO gegen die damalige BR Jugoslawien und der Beendigung der durch den NATO-Angriffskrieg erst beginnenden massenhaften Flucht und Vertreibung von Zivilisten – dazu, der NATO-Aggression nachträglich den Anschein von Legalität zu verleihen. Hierzu wurde die NATO zynischerweise nach Beendigung ihres Luftkrieges vom Aggressor zur offiziellen und »unparteiischen Friedenskraft« (K-FOR) in diesem Teil Serbiens durch den UNO-Sicherheitsrat geadelt, woraus die NATO wiederum eine Scheinlegalität für ihre vorangegangene Aggression ableitete. Die Alternative zu der UNO-Sicherheitsratsresolution, die ein UNO-NATO-Protektorat etablierte, wäre indes ein reines NATO-Protektorat gewesen. Genau diesen Entwicklungsweg aber wollten Russland, China und Serbien verhindern, in dem sie die UNO in der Rolle als internationalen Verantwortungsträger zur Lösung des Konflikts sehen wollten, um eine von der NATO forcierte Sezession zu verhindern.
Auch stellt sich die Frage, ob die UNO als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit und somit als intergouvernementale Organisation zwecks Regelung zwischenstaatlicher Aspekte überhaupt das Recht hat, sich in dieser besonderen Qualität in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Mitgliedsstaates einzumischen – hier ein UNO-NATO-Protektorat zu errichten? Die UNO-Charta (Art. 2 Abs. 7) jedenfalls räumt dieses Recht nicht ein und von einem gewohnheitsrechtlichen Prozess kann auch keine Rede sein. Dennoch befürworteten, wie bereits ausgeführt, Serbien, Russland und China diese Option, da sie das geringere Übel darstellte. So konnten Russland und China zumindest auf diese Weise in der UNO-Sicherheitsratsresolution 1244 unzweideutig die territoriale Integrität und Souveränität Serbiens verbindlich festschreiben, in dem das „Bekenntnis aller Mitgliedstaaten zur Souveränität und territorialen Unversehrtheit der Bundesrepublik Jugoslawien“ bekräftigt wurde. Das Kosovo selbst sollte „substantielle Autonomie innerhalb der Bundesrepublik Jugoslawien genießen, […]“.
Völkerrechtlicher Nihilismus
Deutschland und der größte Teil des Westens, jedoch lange nicht die viel zitierte »Internationale Gemeinschaft«, anerkannten die illegale Unabhängigkeitserklärung diplomatisch und verstoßen damit ihrerseits gegen verbindliche internationale Rechtsnormen (UNO-Charta – insbesondere Art. 2 Abs. 1, 2 & 4), UNO Beschlüsse (UNO-Sicherheitsratsresolution 1244 & UNO-Generalversammlungsresolution 2625/XXV) sowie internationale Prinzipien (Helsinki Schlussakte).
Das Nichteingreifen, dass heißt die nicht vollzogene Null-und-Nichtigkeitserklärung dieser illegalen Proklamation, seitens der UNO-Mission im Kosovo (UNMIK) sowie der K-FOR, lässt keinen anderen Schluss zu, als dass die im Rahmen der Resolution beauftragen Institutionen (UNMIK und K-FOR) ihren Auftrag nicht erfüllen wollen. Dieser Unwille darf nicht überraschen, denn faktisch hat die UNMIK seit Beginn ihrer Mission die strukturell-administrativen Voraussetzungen für die Unabhängigkeit des Kosovo geschaffen: Die Ablösung und das Verbot jugoslawischer bzw. serbischer hoheitlicher Staatssymbole sowie die Einführung kosovarischer hoheitlicher Symbole wie KFZ-Kennzeichen, die Ersetzung der Landeswährung durch die DM bzw. den Euro, eine Grenzabfertigung mit Zollerhebung und eigenen KFZ-Versicherungskarten zwischen der serbischen Provinz und Serbien sowie darüber hinaus sogar neue nichtjugoslawische bzw. nichtserbische Identitätsdokumente mit ausschließlicher Gültigkeit schaffen unterschiedliche Rechtsräume und Verwaltungsstrukturen. Dies jedoch widerspricht dem Verständnis einer einheitlichen Rechtsordnung als konstitutivem Element eines souveränen Territorialstaates. Die seit der Unabhängigkeitserklärung gemachten Aktivitäten und Entscheidungen der UNMIK und der K-FOR laufen in ihrer immanenten Logik auf die Übertragung der UNMIK-Kompetenzen an die Kosovo-Behörden und der militärischen Absicherung der Unabhängigkeit hinaus.3 Der hierdurch stattfindende massive Bruch des Völkerrechts seitens der Kosovo-Albaner als auch seitens der UNMIK und der K-FOR entziehen der UNO-Resolution 1244 in wesentlichen Teilen die Geschäftsgrundlage.
Interessant ist hierbei das völkerrechtsnegierende Gebahren der UNO selbst: Die UNMIK nimmt ihr eigenes Mandat, definiert in der UNO-Sicherheitsratsresolution 1244, nicht nur nicht ernst, sondern unterläuft dieses sogar aktiv. Das auf den ersten Blick seltsam anmutende Verhalten ist mit der personellen Zusammensetzung der UNMIK-Verwaltung zu erklären. Die entscheidenden Schlüsselpositionen sind in den Händen westlicher bzw. prowestlicher Vertreter, die zwar den UNO-Hut tragen, faktisch jedoch die Interessen ihrer Entsendestaaten verfolgen. So wurde der Posten des UNMIK-Chefs immer an einen zuverlässigen Westeuropäer und der Stellvertreterposten an einen US-Amerikaner herangetragen.
Der UNO-Sicherheitsrat wiederum, der die Selbstverständlichkeit der uneingeschränkten Implementierung der eigenen Resolution ebenso selbstverständlich mit Nachdruck gegenüber der UNMIK einfordern müsste, wird hierbei durch die drei westlichen Sicherheitsratsmitglieder – Frankreich, Großbritannien und den USA – blockiert. Hierdurch wird die Sicherheitsratsresolution 1244 von einem Teil des Sicherheitsrates, obschon von ihm verabschiedet, nur noch im Bereich der NATO-dominierten Sicherheitspräsenz und der Rechte der Kosovo-Albaner, nicht mehr aber, was die souveränen Rechte Serbiens betrifft, unterstützt. Dies praktizierten die drei westlichen UNO-Sicherheitsratsmitglieder zwar auch schon vor der Unabhängigkeitserklärung, jedoch versuchten sie bis 2007 zumindest mit Lippenbekenntnissen ihre Resolutionstreue zu suggerieren, also die staatliche Souveränität Serbiens nicht offen in Frage zu stellen.
Auch der von allen Seiten unter erheblichen Druck geratene UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon und somit unmittelbarer Vorgesetzter des UNMIK-Chefs Joachim Rücker taucht buchstäblich ab und weigert sich, entsprechende Maßnahmen zur Respektierung der UNO-Sicherheitsratsresolution anzuweisen.
Obschon die UNMIK und ihre Zentrale in New York sich in völkerrechtlich höchst fragwürdiger Weise weitestgehend aus dem Fenster gelehnt haben, um den Wünschen der westlichen Unterstützung für die Kosovo-albanischen Sezessionisten entgegenzukommen, soll und will die UNMIK abgelöst werden und die UNO ihre Kompetenzen über Kosovo gegen den Willen Russlands einbüßen.
Denn die zuvor von Russland und China im UNO-Sicherheitsrat deutlich formulierte Ablehnung des so genannten Ahtisaari-Plans, der die Unabhängigkeit vermeintlich völkerrechtskonform und die Eigenstaatlichkeit des Kosovo in wesentlichen Details festlegen sollte, demonstriert, dass Russland und China der ordnungspolitischen Selbstgerechtigkeit des Westens immer noch qua Institution UNO Steine in den Weg legen können.
Gemäß der Devise, wenn möglich mit, wenn nötig ohne die UNO versucht der Westen, seine machtordnungspolitischen Vorstellungen auf dem Balkan nun jenseits der UNO und somit jenseits der russischen und chinesischen Veto-Möglichkeit zum wiederholten Male zu lösen: Das Kosovo wird auf völkerrechtswidrige Weise kurzerhand zu einer exklusiven euro-atlantischen Angelegenheit erklärt. Hierzu installiert man gegenwärtig die so genannte Europäische Rechtsstaatsmission »EULEX«, die die UNMIK sukzessive ablösen soll. Auch wurde eine so genannte Steuerungsgruppe eingerichtet, die die Umsetzung des gerade nicht vom UNO-Sicherheitsrates legitimierten Ahtisaari-Plans überwachen und befördern soll.
Ausnahmen und Präzedenzfälle
Diese vom Westen in Kooperation mit den Sezessionisten abgestimmte Zerschlagung des zunächst jugoslawischen, dann serbischen Staates wird als unausweichlicher und alternativloser Akt des Selbstbestimmungsrechts erklärt. Zugleich wird der Fall Kosovo als sui generis deklariert, woraus sich ein Ausnahmefall ableiten soll, was im Umkehrschluss bedeutet, dass er keine Präzedenzfallwirkung entfalten könne. Dieses sui-generis-Konstrukt ignoriert bewusst den Umstand, dass jeder Fall eines Versuchs der Erlangung des externen Selbstbestimmungsrechts einer Volksgruppe eine Einzigartigkeit hinsichtlich der historischen, kulturellen, politischen und ethnischen Motive darstellt. Gerade aus diesem Grunde existieren Rechtsnormen, die ungeachtet dieser individuellen Spezifika eine übergeordnete und allgemeingültige Regelung festlegen, um machtpolitische Willkür und Chaos zu verhindern. Die Entscheidung, ob es sich nun um einen Fall sui generis handelt oder ob sich vielmehr daraus ein Präzedenzfall entfalten könnte, ist folglich keine rechtliche, sondern eine machtpolitische, die zwischen dem Westen und die um die staatliche Unabhängigkeit kämpfenden Akteure, wie den Kurden, den Abchasen, den Südosseten, den Armeniern, den Serben in Bosnien-Hercegovina oder im Kosovo, den Basken, den Korsen oder den Palästinensern etc., ausgefochten werden wird.
Selbstbestimmungsrecht und Selbstbestimmungsrecht
Der Begriff bzw. die Rechtsnorm des Selbstbestimmungsrechts muss auf zwei Ebenen, der rechtlichen und der machtpolitischen, geklärt werden: Im Völkerrecht wird zwischen internem Selbstbestimmungsrecht (Autonomie innerhalb eines Gesamtstaates, sprich: föderale Staatsstrukturen) und externem Selbstbestimmungsrecht (vollständige Sezession hin zur Eigenstaatlichkeit) unterschieden. Das interne Selbstbestimmungsrecht stellt einen Kompromiss zwischen Eigenstaatlichkeit und der Notwendigkeit internationaler Stabilität in Form einer territorialen Besitzstandsgarantie für Staaten dar, in der nationale/kulturelle Eigenständigkeiten gepflegt werden können. Nur wenn das interne Selbstbestimmungsrecht vorenthalten und dies durch massive Menschenrechtsverletzungen und Unterdrückung flankiert wird, kann das interne Selbstbestimmungsrecht ausnahmsweise zu einer Art Notwehr- und Sezessionsrecht mutieren, d.h. die Gestalt des externen Selbstbestimmungsrechts annehmen. Hieraus ergibt sich automatisch die Frage, wer und unter welchen konkreten Bedingungen diese abstrakt rechtliche Formulierung in konkrete politische Handlungsentscheidungen umsetzen bzw. umgesetzt werden darf. Die Völkerrechtsliteratur liefert hierzu keine eindeutigen Hinweise. Dieses Rechtsvakuum führt somit auf die zweite, die machtpolitische Ebene der internationalen Politik, die wiederum am Fall Jugoslawien illustriert werden soll: Der jugoslawische Staat war in ausgesprochen hohem Maße föderalisiert – manche behaupten sogar überföderalisiert. Selbst die serbische Provinz Kosovo verfügte bis 1989/90 über ein hohes Maß an Autonomierechten innerhalb Serbiens und Jugoslawiens. Dies genügte jedoch den sich Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre im Aufwind befindlichen nationalistisch-sezessionistischen und prowestlichen Kräften nicht. Sie wollten nichts weniger als die Unabhängigkeit ihrer jeweiligen jugoslawischen Teilrepublik bzw. der serbischen Provinz Kosovo und deren Integration in die euro-atlantischen Strukturen. Die pro-jugoslawistischen Kräfte standen im ganzen Land und in Europa zunehmend auf verlorenem Posten. Unterstützung erhielten hingegen die nationalistisch-sezessionistischen Kräfte als so genannte Demokraten und Freiheitskämpfer durch den Westen, zuvörderst von Deutschland und später auch seitens der USA – bis hin zur militärischen Aggression 1999. Der US-dominierte Westen begleitete die Atomisierung Jugoslawiens aus ideologischen und geostrategischen Gründen: Jugoslawien war kein westlicher Staat oder Verbündeter. Es handelte sich um einen sozialistischen Staat mit dem Anspruch eines »Dritten Weges« zwischen Ost und West und nahm in der Gruppe der Blockfreien Staaten eine führende Rolle ein. Damit entzog sich Jugoslawien der östlichen wie der westlichen Macht- und Einflusssphäre und konnte auf diese Weise seine staatliche Souveränität auch faktisch praktizieren. Hinzu kam, dass Jugoslawien eine geographische Schlüsselposition in Südosteuropa besaß und trotz aller ökonomischen Schwierigkeiten im Vergleich zu den Anrainerstaaten eine wirtschaftliche und militärische Regionalmacht in Südosteuropa darstellte.
Der euro-atlantische Block konnte den Atomisierungsprozess Jugoslawiens und schließlich Serbiens ohne große internationale Widerstände mitforcieren, da es keine potenten Gegenkräfte gab und gibt, die ihn daran hindern konnten/können, internationale Rechtsnormen nach Gutdünken zu missbrauchen. Weder verfügte Jugoslawien bzw. verfügt Serbien über ausreichende Widerstandskräfte, noch existiert derweil eine bipolare, geschweige denn einer multipolare Weltordnung, die den euro-atlantischen Club »überzeugen« könnte, getroffene Vereinbarungen, Prinzipien und Rechtsnormen verbindlich zu respektieren. Und erst recht existiert keine effektiv übergeordnete globale Autoritäts- und Durchsetzungsinstanz, die alle Staaten zwingen könnte, sich einer Art internationaler Rechtsstaatlichkeit zu unterwerfen. Die UNO soll zwar dieses Gremium als Träger des globalen Gewaltmonopols darstellen, wird aber durch die Mitgliedsstaaten lediglich zu einem nominalen Träger des Gewaltmonopols reduziert. Die derzeitige Funktion der UNO erschöpft sich unter den seit Ende des Kalten Krieges gegebenen globalen Machtverhältnissen darin, als Instrument des Westens dessen ordnungspolitischen und geostrategischen Vorstellungen ein völkerrechtlich konformes Deckmäntelchen zu geben. Dies zeigt sich nicht allein im Falle Jugoslawiens bzw. Serbiens – ein Blick nach Afghanistan und in den Irak indiziert ihre weitere Indienststellung. Die UNO nimmt hierdurch substanziellen, vielleicht sogar irreparablen Schaden, da der stattfindende Substanzverlust des Multilateralismus bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung formaler multilateraler Mechanismen die Rückkehr zum anarchischen Staatensystem auf besonders perfide Weise bedeutet.
Diese Selbstermächtigung des US-geführten euro-atlantischen Clubs wird über die Jugoslawien bzw. Kosovo-Frage hinaus das Völkerrecht nachhaltig verändern.
Die westlichen Hegemonialmächte entscheiden auf absehbare Zeit darüber, wer als Sezessionist/Terrorist dämonisiert oder als Freiheitskämpfer heroisiert und gegebenenfalls unterstützt wird. Das bedeutet für die Zukunft, dass die völkerrechtlichen Normen von staatlicher Souveränität und externem Selbstbestimmungsrecht mit der Schaffung des LEX Yugoslavia als Präzedenzfall von eben jenen Hegemonialmächten flexibel praktiziert werden: Den Kurden der Türkei wird das externe Selbstbestimmungsrecht auch künftig verweigert, während den Kurden des Irak dieses faktisch zugestanden wird. Denn die Türkei ist ein treuer Verbündeter des Westens und sie ist militärisch eine Mittelmacht. Daher wird sie nicht daran gehindert, ihre Hoheitsgewalt, d.h. die Niederschlagung gewaltsamen und politischen Widerstandes auf ihrem Staatsgebiet auszuüben – bisweilen sogar jenseits ihres Staatsgebietes. Die Türkei kann sich das leisten, solange sie prowestlich orientiert bleibt. Was die Kurden der Türkei, die bosnischen Serben oder die Serben des Kosovo von den Kosovo-Albanern und den irakischen Kurden unterscheidet, ist schlichtweg, dass sie politisch auf der falschen Seite stehen. Das Völkerrecht wird ihnen nicht helfen können, da es angesichts der internationalen Machtkonfiguration evidenterweise Weise impotent ist. Helfen kann ihnen nur ihr selbstbestimmungsrechtliches Durchhaltevermögen in Verbindung mit sich international wandelnden Kräfteverhältnissen. Umgekehrt kann der Westen mit LEX Yugoslavia allen multinationalen Staaten, die sich dem Westen gegenüber nicht wohl verhalten, die Instrumente zeigen: Latent oder manifest ethnische Spannungen in diesen Staaten bei Bedarf zu befördern.
Anmerkungen
1) Die Aufarbeitung der völker- und verfassungsrechtlichen Problematik des gesamtjugoslawischen Sezessionsprozesses ist zu finden in: Alexander S. Neu (2005): Die Zukunft des Kosovo, in: Osteuropa 9/2005.
2) Gegen diese neue, mandatsfremde Funktion klagt die Bundestagsfraktion DIE LINKE vor dem Bundesverfassungsgericht.
3) „KFOR-Mandat bleibt mit Abzug der UN-Mission aus Kosovo unverändert – Appathurai“, http://de.rian.ru/safety/20080514/107368003.html
Dr. Alexander Neu ist Politologe, Referent für Sicherheitspolitik der Bundestagsfraktion »Die Linke« und freier Journalist. Seit 2006 in der W&F Redaktion.