W&F 1984/2

Logik der Abschreckung – eine Kritik

von Peter Furth

Die atomare Drohung ist spätestens seit 1945, seit Hiroshima und Nagasaki, in der Welt, Strategie und Mechanismus der Abschreckung seit 1949, seitdem auch die Sowjetunion über Atombomben verfügt. Das usprüngliche Konzept der Abschreckung war verteidigungsorientiert, Drohung wurde als Vergeltung verstanden. Die Abschreckung sollte darauf beruhen, daß Drohung und Gegendrohung, Angriffs- und Vergeltungsschlag ebenbürtig waren, daß die den ersten Schlag auslösende Seite über den Erwiderungsschlag mit der Selbstvernichtung rechnen mußte. Damit schien eine Schwelle in der Geschichte der Menschheit erreicht, eine Wende im Verhältnis von Krieg und Politik. Es war die vorherrschende Meinung, daß der Krieg kein (beherrschbares) Mittel der Politik mehr sein könnte. Es schien so, als müßte das, was bis dahin Politik hieß, neu bestimmt werden, weil die Politik nicht mehr die Wahlfreiheit zwischen Krieg und Frieden hatte. Aber diese Einsicht war nur stabil auf der Grundlage gegenseitig garantierter Vernichtung, sie blieb damit bestimmt durch das von ihr Negierte, den Krieg.

Von vorneherein müssen wir einen Widerspruch im Abschreckungskonzept, schon in dem der massiven Vergeltung, wahrnehmen, der weitertrieb und wohl nicht stillzustellen ist. Die Abwendung von der Geschichte als ständigem Übergang zwischen Krieg und Frieden kann sich im Rahmen der Abschreckungskonzeption nur in Formen und mit Mitteln dieser zu verlassenden Geschichte vollziehen. Der Frieden durch Abschreckung ist ein Krieg in effigie. Der Krieg muß reale Möglichkeit bleiben, damit die Wahlfreiheit zwischen Krieg und Frieden durch die Einsicht in die Notwendigkeit des Friedens ersetzt wird. Ein solches Konzept nimmt sich realistisch aus und ist doch wohl utopisch; denn vergessen wir nicht: Es muß um den Preis der Katastrophe auf Dauer, man kann sagen ewig gelten.

Diese Inkonsistenz der anfänglichen Abschreckungskonzeption ist sehr früh in der Form eines strategischen Problems erkannt worden. Der Krieg hat ja als Androhung auf der Ebene der massiven Vergeltung gerade wegen der unbegrenzbaren Folgen nur begrenzte Abschreckungswirkung. Die Glaubwürdigkeit von Drohung und Gegendrohung bleibt gerade solange zweifelhaft, wie die Drohung der Vernichtung zugleich die Drohung der Selbstvernichtung ist. Der Strategieforscher Herman Kahn faßte das Problem lakonisch zusammen: Mit dem Selbstmord ist nicht zu drohen. Als Konsequenz aus diesem Dilemma ergibt sich: Es muß möglich sein, einen Krieg zu führen, um mit ihm drohen zu können. Und man muß chancenreich mit ihm drohen können, um nicht genötigt zu werden, ihn zu führen oder die Kapitulation zu erleiden. Unter dieser Perspektive mußte die Strategie der Abschreckung gegenseitig garantierter Zerstörung verbessert, wenn man so will, verlassen werden.

Worin liegt der tiefere Grund für das eben in der Sprache der Strategie formulierte Problem? Die Unmöglichkeit des Krieges der massiven Vergeltung bedeutete offenbar nicht das Ende einer Politik, die ihr Wesen im Krieg als Entscheidungsmittel hat. Schon der Terminus Abschreckung und die Vorstellungen, die sich mit ihm verbinden, zeigen das. Er ist von unverwüstlicher Plausibilität, wie die unüberwundene Naturgeschichte der Politik, der Politik, die ihre oberste Norm in der Souveränität hat, die letztlich nur als Freiheit im Gebrauch von Gewalt nach innen und nach außen bestimmt werden kann. Für eine solche Politik werden gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen nicht als eine Realität sui generis erfahrbar. Sie werden vielmehr in die Perspektive der Machtmehrung oder Machtminderung in einem dualen System von Freund und Feind gepreßt und der Regulierung durch zwischenstaatliche Gewaltandrohung oder Anwendung unterworfen. In diesem Modell von Souveränitätspolitik (in Reingestalt realisiert in der europäischen Staatenwelt der Neuzeit) beruhte Abschreckung auf dem ständig vollzogenen und vollziehbaren Übergang von Frieden zu Krieg und umgekehrt. Dieser Übergang kann unter atomaren Bedingungen nicht mehr sein und hat doch immer noch irgendeine Geltung.

Machen wir uns klar, wie dieser Widerspruch sich äußert, wohin er treibt. Denn hier liegt das Unheimliche, weil eigentlich Irreale am atomaren Abschreckungsfrieden. Dafür müssen wir ohne jede moralische Arroganz den ausgezeichneten Bezug des Krieges zur Wirklichkeit ins Auge fassen.

Der Krieg ist offenbar in einer Welt, in der. die menschliche Gattung nur Gegenstand des Nachdenkens, bestenfalls imaginiertes Subjekt des Denkens, aber nicht in irgendeiner Form Subjekt des Handelns ist, so unüberschreitbar wie die Wirklichkeit selbst. In Verhältnissen, wo Gegensätze antagonistisch aufeinandertreffen, also ohne Bezug auf ein gemeinsames oder überlegenes Drittes, ist der Krieg unersetzbare Entscheidungsinstanz; in Erinnerung an Clausewitz gesagt: „äußerste Wirklichkeit“.

Der kriegerische Apparat soll im Abschreckungssystem durch sein bloßes Vorhandensein, als anwendbarer, d. h. im Status der Möglichkeit, bewirken, was bislang nur durch den Krieg, den wirklichen Kampf, erreicht werden sollte und konnte: die Herstellung eines eindeutigen und auf absehbare Zeit irreversiblen Zustands, in dem die Wirklichkeit gewissermaßen die Form des kategorischen Urteils hat, weil sie als Resultat eines Messens (genauer: eines Sich-selbst-Messens) entgegengesetzter Kräfte nicht nur ist, sondern auch gilt.

Unter den Bedingungen der endgültigen Abschreckung soll nun die Rüstung, was sie einstmals ermöglichen sollte, das wirkliche (sich selbst) Messen der Kräfte, von sich aus leisten. Sie hat damit die Funktion eines symbolischen Krieges: Krieg als das Berechnen von Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten. Das Resultat kann nur hypothetisch gelten, soll aber kategorische Bedeutung haben. Es geht immer noch um Entscheidung, sie soll aber ohne ihren Vollzug entschieden werden. Das heißt, es muß im Abschreckungsfrieden so erbittert und rücksichtslos gerüstet werden, wie sonst im Krieg gekämpft wurde. So hypothetisch das Anhäufen von Vernichtungsmöglichkeiten bleibt, so kategorisch muß es betrieben werden. Dieser Charakter des Abschreckungsfriedens zeigt sich an der Norm, die ihn garantieren soll: dem Gleichgewicht der Kräfte. Es entzieht sich jeder Festlegung und bedeutet die gegenseitige Provokation der Rüstungssteigerung. Die Rüstung, die Entscheidungsfunktion haben soll wie der kriegerische Kampf selber, kann nicht das Gleichgewicht als Ziel anstreben. Sie muß auf Überlegenheit zielen, das Gleichgewicht kann dabei als Nebenfolge faktisch resultieren – ein Nebenprodukt, das aber als Hauptprodukt fungieren soll! Rüstung ist nicht an sich Abschreckungsrüstung, sondern sie ist erst als Überlegenheitsrüstung Abschreckungsrüstung. Aber Überlegenheit ist auch unter atomaren Bedingungen keine Angelegenheit des Probabilismus, deswegen ist es nur schwer vorstellbar, daß angestrebte und vermutete Überlegenheit nicht schließlich durch Krieg realisiert werden wird.

Die Angriffsdrohung des Eskalationskonzepts

Diese Dialektik von Möglichkeit und Wirklichkeit, in der die Möglichkeit Wirklichkeitsbedeutung haben soll, die Wirklichkeit der Möglichkeit aber nicht sein darf, war von vornherein verantwortlich für eine Dynamik, die die starre Symmetrie der globalen Vergeltungsstrategie sprengte und ihren Umbau zu einem umfassenden und lückenlosen Eskalationssystem der „flexible response“ erzwang. Als die Eskalation als taktische Wendung in die Abschreckungsstrategie eingeführt und schließlich zu einem ihrer Schlüsselbegriffe wurde, erregte das keine durchschlagende Beunruhigung, wie es eigentlich hätte sein müssen. Mit der Eskalation schien (und scheint den meisten auch heute noch) ein Mittel gefunden, das die Abschreckung auf allen Stufen zu einem System der Gegenseitigkeit macht. Durch die Einführung der Eskalation wurde die Abschreckung glaubhaft, als wäre sie nach dem Muster sprachlicher Verständigung gewirkt – wie eine Bestätigung für die Gegenseitigkeitsphilosophie der Kommunikationstheorie. Dabei ist der Sinn der Eskalation, die Gegenseitigkeit zu relativieren, wenn nicht aufzuheben.

Eine einfache Überlegung führt auf die Spur. Die Doktrin und die Praxis der Eskalation wurden entwickelt für den Abschreckungsbereich unterhalb der gegenseitigen Vernichtung, d.h. für denjenigen Bereich, in dem es überhaupt noch ein „Mehr“ und eine Asymmetrie der Drohung und Risikobereitschaft geben kann gegenüber der Risikogleichheit und Drohungssymmetrie der globalen Vergeltung. Und die Frage ist: Soll die Eskalation diese Asymmetrie aufheben oder zur strategischen Chance ausbauen?

Die Eskalation ist durch und durch janusköpfig, doppelgesichtig; aber an welches ihrer Gesichter halten wir uns? Einerseits ist die Eskalation an die Fesselung des Krieges, seine Reduzierung auf bloße Möglichkeit gebunden, und andererseits hebt sie diese Fesselung auf, bezieht sich auf den Krieg als Wirklichkeit. Denn sie soll einerseits den Übergang der globalen Vergeltungsdrohung in die Vernichtungswirklichkeit verhindern. Das soll sie aber gerade dadurch, daß sie andererseits das Messen der Kräfte auf den unteren Stufen der Abschreckung durch den wirklichen Krieg ermöglicht.

Wird die Eskalation konsequent wechselseitig gedacht, als ein Prozeß sich überbietender Aktionen und Reaktionen, so führt sie rasch durch alle Stufen hin zur gegenseitig vernichtenden Vergeltung – hebt sich also selbst auf. Das aber kann nicht ihr ausschlaggebender Sinn sein.

Schauen wir auf etwas an der Eskalation, das wie Gegenseitigkeit aussieht, primär aber Einseitigkeit ist. Dann zeigt sich uns der wahre, jedenfalls der überwiegende Sinn der Eskalation. Die Eskalation ist eine einseitig unternommene Drohung oder Aktion, die das Selbstgefährdungsrisiko des antwortenden Gegners anhebt. Und was entscheidend ist: Sie wird von der Erwartung geleitet, daß sie eine Schwelle setzt, die der Gegner selbst auf die Gefahr einer Niederlage hin nicht überschreitet. Hält die Gegenseite diese Erwartung ein, dann sieht es so aus, als sei die Gegenseitigkeit der Abschreckung wieder hergestellt. Das ist aber nur Schein. In Wirklichkeit führt die Eskalation in einem solchen Fall, wenn auch nicht zum unbedingten Sieg der einen und zur Niederlage der anderen Seite, so doch zu einem Überlegenheitsgefälle, das wie alles in diesem symbolischen Krieg der Abschreckungsdrohungen einen nur schwer bestimmbaren Status zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit hat. Und es ist durchaus vorstellbar, daß es zu einer Akkumulation solcher „Eskalationsniederlagen“ im Prozeß der Drohungen und der Drohungssteigerungen kommt, die – eine Katastrophenreaktion ausgeschlossen – irreversible Folgen für eine Seite haben könnte.

Um der Glaubwürdigkeit der Abschreckung willen bedeutet Eskalation also einen Oberschuß in der Drohung, eine einseitig angestrebte und einseitig festzuhaltende Disproportionalität im Verhältnis der Waffenpotentiale und ihrer Anwendungsdrohung. Die Einführung der Eskalation in die Abschreckungsbalance hat den Vergeltungssinn der Drohung zugunsten des Angriffssinns der Drohung verdrängt. Wie irrational und vorsätzlich unkontrollierbar die Abschreckung dadurch wird, sieht man daran: Eskalation als die Herbeiführung und Nutzung von Asymmetrie kann nicht sein ohne die relative Blindheit (die Selbstverblendung) für die notwendige Bereitschaft der Gegenseite, die Ebene der Gegendrohungen zu erhöhen und auch selber die Eskalierungsinitiative zu ergreifen. In einem Eskalationssystem kann man offenbar nur dann glaubwürdig abschrecken, wenn man sich selber gegen die Abschreckung immunisiert. Die strategischen Analytiker formulieren das auf ihre Weise. In ihren Augen ist die Grundlage eskalierender Abschreckung eine Bereitschaft, die sie „risk taking“ nennen, und schlagen deshalb die bewußte Einnahme eines irrationalen Standpunktes vor, weil ohne ihn die Steigerung der Risikobereitschaft nicht glaubhaft würde. (Beaufre)

Eskalation und Erstschlag

Ich meine, an der Eskalation tritt das Wesen des Abschreckungssystems, in dem wir heute leben, hervor. Die Eskalation ist Indiz und Mechanismus einer Strategie und Rüstung der Überlegenheit. Das große Ziel dieser Strategie und dieser Rüstung ist vorgeschoben. Es muß in der Aufhebung der gegnerischen Vergeltungskapazität bestehen. Erforderlich ist dafür die Fähigkeit, die den ominösen „Erstschlag“ bekommen hat. Und Erstschlag meint erster und einziger Schlag, also ein Schlag, der den zweiten, den Erwiderungsschlag unmöglich macht. In Perfektion gedacht, betrifft das natürlich die Ebene des Krieges, auf der die gegenseitige Vernichtung droht. Sicher, dieses Ziel ist heute und demnächst wohl noch nicht erreichbar, die Entwicklung dahin aber doch schon klar erkennbar. Die letzten Eskalationen beruhen alle auf Waffen und Strategiekonzepten, der sogenannten „counter force“, die ihr Wesen nicht in der reaktiven Vergeltungsdrohung, sondern in der präventiven Zerstörung der gegnerischen Verteidigungsfähigkeit haben.

Clausewitz Bestimmung des wesensmäßigen Kriegsziels, Wehrlosmachung des Gegners, scheint wieder möglich, der Krieg scheint wieder eingesetzt in sein altes Recht, die Fortsetzung der Politik mit anderen Mittel zu sein. In den Termini der Abschreckungsdoktrin gesagt: Die Strategie der gegenseitigen Vergeltung hat sich in die Strategie der einseitig vorbeugenden Gegenvergeltung verwandelt.

Wir gelangen zu einem Ergebnis, das paradox anmutet. Die Möglichkeit einer endzeitlichen Katastrophe besteht weiterhin und ist uns wohl auch näher gerückt. Aber die Furcht vor ihr ist inzwischen durch eine andere Art der Wahrnehmung überlagert. Die Blendung, die von der Apokalypseerwartung ausging, nimmt ab. An Stelle der Nivellierung von Opfern und Tätern im gleichen Untergang tritt ihre Unterscheidung wieder hervor. Mit dem Versuch einer Rückkehr zu strategischen Konstellationen aus dem voratomaren Verhältnis von Krieg und Frieden wird die ungleiche Verteilung von Überlebenshoffnung und Untergangswahrscheinlichkeit erkennbar. Die regionale Begrenzung des atomaren Risikos macht die Heuchelei in der Gleichsetzung von Verteidigung und atomarer Abschreckung sinnfällig. So wird vor dem Hintergrund des möglichen allgemeinen Infernos ein an überschaubaren Bereichen orientiertes konkretes Friedensengagement wieder lebendig und vielleicht auch organisationsfähig. Der erkennbare Unterschied zwischen Geisel und Geiselnehmer schafft vielleicht noch einmal die Chance einer alternativen demokratischen Friedenspolitik.

Dr. Peter Furth ist Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1984/2 1984-2, Seite