W&F 1984/1

Mathematik und Militärwesen

von Rembert Reemtsen

Stan Ulam, Mathematiker und Mitkonstrukteur der Atom- und Wasserstoffbombe, schrieb über seine Arbeit in Los Alamos: „Im Gegensatz zu den Leuten, die aus politischen, moralischen oder soziologischen Gründen gegen die Bombe waren, hatte ich niemals irgendwelche Probleme damit, rein theoretische Arbeit zu tun. Ich hatte nicht das Gefühl, daß es unmoralisch ist zu versuchen, physikalische Phänomene zu berechnen.“1, S. 222

Naturwissenschaft und insbesondere die Mathematik werden weitgehend als wertfrei angesehen, und von den Naturwissenschaftlern wird eine Trennung ihrer „objektiven“ Arbeit von ihren „subjektiven“ politischen und ethischen Vorstellungen geradezu gefordert. Im folgenden möchte ich vor allem aufzeigen, wie Mathematiker im Zweiten Weltkrieg ihre Fähigkeiten in den Dienst der durch die Politik vertretenen Wertvorstellungen des Staates gestellt und welche bedrohlichen Entwicklungen sich daraus ergeben haben. Wenn dabei viel von der Forschung in den USA die Rede sein wird, dann vor allem deshalb, weil die Forschung bei uns durch die vielen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Verbindungen von den Entwicklungen in den USA sicher stark beeinflußt wird. Über die entsprechenden Entwicklungen in der UdSSR ist uns sehr wenig bekannt. Es ist jedoch anzunehmen, daß der Einfluß des Staates auf die Wissenschaft dort eher noch größer ist. - Alle englischen Texte und Titel in diesem Beitrag wurden von mir ins Deutsche übersetzt.

Mathematik wird seit der Antike auf militärische Fragestellungen angewandt. Beschäftigt man sich aber näher mit diesen Fragen, so zeigt sich schnell, daß sie bis zur industriellen Herstellung von Waffen sowohl für die Entwicklung der Mathematik als auch die des Militärwesens insgesamt nebensächlich waren 2. Gezielt für den Krieg wurde Wissenschaft zum ersten Mal in großem Stile im Ersten Weltkrieg eingesetzt. Danach im Zweiten Weltkrieg hat es dann international eine in der Geschichte einzigartige Konzentrierung der wissenschaftlichen Anstrengungen auf den Krieg gegeben. Die Entwicklung der Atombombe war das erste Großforschungsprojekt der Welt. Am Manhattan-Projekt arbeiteten von 1942 bis 1945 150.000 Menschen, darunter so bedeutende Mathematiker wie John von Neumann und Stan Ulam 1. Die Gesamtausgaben für das Projekt betrugen 2 Milliarden Dollar 3, S. 165.

Mathematik in den USA im Zweiten Weltkrieg

Interessant ist zunächst, daß bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges der Anteil der Mathematiker in den USA, die in den Anwendungen arbeiteten, geringfügig war. „Es war eine weitverbreitete Ansicht, daß man sich der angewandten Mathematik zuwandte, wenn man die reine Mathematik zu schwierig fand.“ 5 Anfang der Vierziger hatten höchsten 8% aller mathematischen Doktorarbeiten Themen aus den Anwendungen. 5 Dieser Zustand wurde zu Beginn des Krieges vielfach beklagt. An vielen Universitäten wurden daher ganz gezielt die Programme der angewandten Mathematik ausgebaut. Zahlreiche Kurse in der reinen Mathematik, die für militärische Zwecke nicht so interessant erschienen, wurden während der Kriegsjahre nicht mehr gelesen. 6 Heute dürfte es in den USA eher mehr angewandte als reine Mathematiker geben, wozu natürlich auch die Entwicklung der (ebenfalls im Zweiten Weltkrieg für militärische Zwecke entwickelten) Computer beigetragen hat.

Die Beteiligung der Wissenschaftler und insbesondere der Mathematiker an Kriegsprojekten wurden in den USA außerordentlich effektiv durch zahlreiche Komitees organisiert (z.B. 4-10). Philipp M. Morse, Leiter der ersten Operations Research (= OR) Gruppe in der US-Navy, schreibt: „Rekrutieren (von Wissenschaftlern) war damals nicht schwierig. Fast jeder wollte zur nationalen Verteidigung beitragen und war erfreut, wenn er aufgefordert wurde mitzumachen, 8, S. 162“ Die New York Times schreibt am 3.1.43, daß 87 % aller in der Forschung tätigen Mathematiker an Kriegsprojekten beteiligt seien.5) Diese Zahl mag eher der Propaganda gedient haben. Jedoch schreibt auch Morse, daß es Ende 1942, als er seine OR-Gruppe zusammensuchte, sehr schwierig war, noch Wissenschaftler zu finden, die nicht bereits anderweitig an Kriegsprojekten arbeiteten 8, S. 174.

Die Entstehung von Operations Research

Morse berichtet, daß 1942 viele Wissenschaftler damit unzufrieden waren, für das Militär nur Messungen und Design-Arbeiten machen zu dürfen. Einige meinten, daß sie auch mitentscheiden sollten, welche Ausrüstung gebaut und wie sie benutzt werden sollte. „Ich persönlich wollte näher an operative Entscheidungen herankommen. 8, S. 170)“ Dieser Wunsch erfüllte sich dadurch, daß er damit beauftragt wurde, innerhalb der sog. Antisubmarine Warfare Unit (= ASW), einer operierenden Einheit der US-Navy, eine zivile aus Wissenschaftlern bestehende Gruppe aufzubauen, die den deutschen U-Boot-Krieg analysieren und Gegenattacken entwickeln sollte 8, S. 172). Diese OR-Gruppe bestand anfänglich aus 17 Wissenschaftlern, von denen ungefähr die Hälfte Mathematiker waren. Sie konnten ihren ersten Auftrag schon nach zwei Monaten erfolgreich mit dem Ergebnis abschließen, daß die Abschußquote von U-Booten etwa verfünffacht werden konnte 8, S. 182. Von da an galt wohl, wie Rosser schreibt: „Die Air Force Generäle und Navy Admirale hielten es (OR) für wunderbaren Stoff... OR konnte sagen, was die beste Anzahl von Flugzeugen ist, die man gegen ein Ziel aussenden sollte, was die günstigsten Abstände für den Abwurf von Bomben sind usw. 9“ Am Ende des Zweiten Weltkrieges war die OR-Gruppe auf 100 Leute angewachsen und enthielt die ASWORG als eine Teilgruppe. Sie hatte an verschiedenen Kriegsschauplätzen zum Erfolg beitragen können. 8) Bemerkenswert finde ich auch, daß OR-Leute nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges den Kommandeur der deutschen U-Boot-Flotte Admiral Doenitz „interviewen“ konnten, um ihre Erfolge anhand der deutschen Unterlagen zu verifizieren 8, S. 207).

OR hatte also ursprünglich keine andere Aufgabe, als Kriegsoperationen zu erforschen. (Daher der Name.) Nach dem Zweiten Weltkrieg reiste Morse dann durch die Welt und warb für das neue mathematische Gebiet OR Lind und seine möglichen zivilen Anwendungen, die er vor allem in der Wirtschaft (!) vermutete 8 1947 entwickelte Danzig daraus, was man heute die „Lineare Programmierung“ nennt 4,9. In seiner Weiterentwicklung wurde diese zur allgemeinen „Optimierungstheorie“ ausgebaut. Daneben hat sich OR auch fest in den Wirtschaftswissenschaften etabliert. Noch heute wird OR sowohl von der US-Navy, als auch von der deutschen Bundesregierung für militärische Zwecke durch große Geldbeträge gefördert. 11, S. 296, 12, S. 20

Mathematische Modelle zur Analyse eines nuklearen Krieges

Als Beispiel der modernen militärischen OR-Forschung seien hier die Mathematischen Modelle zur Analyse eines Atomkrieges genannt, die in letzter Zeit merkwürdigerweise in gängigen Fachzeitschriften auftauchen. So findet man z.B. in dem Band 30 (1982) der Zeitschrift Operations Research folgenden Beitrag von Jeffrey Grotte vom Institute for Defense Analyses, wo übrigens Ende der Sechziger eine Gruppe aus „vierzig Top-Wissenschaftlern (...) an der Vietnamstrategie der US-Regierung arbeitete 12, S. 328)“: „Ein optimierendes Modell für einen nuklearen Schlagaustausch zur Analyse eines nuklearen Krieges und der Abschreckung“. In der Erläuterung des Titels sagt der Autor: „Die Formulierung eines Modells für einen nuklearen Schlagaustausch ermöglicht dessen globale Optimierung mit Hilfe von nichtkonvexer Optimierung. Diese Formulierung (...) wird dazu benutzt, Ergebnisse eines strategischen Krieges als Funktion ausgewählter Planungsparameter zu erforschen.“

Derartige Modelle suggerieren die Berechenbarkeit und Gewinnbarkeit eines nuklearen Krieges und dienen als Grundlage für die Forderung nach immer mehr und neuen Waffen. 13 Sie enthalten zahlreiche Vorstellungen über den Ablauf eines Atomkrieges und seine Überlebbarkeit. Es gibt in der jüngeren Geschichte ein gutes Beispiel dafür, daß solche Modelle von den Politikern ernst genommen werden. Und zwar wurden 1969, als es in den USA um die Einführung von ABM-Systemen ging (ABM = anti ballistic missile), von den Befürwortern und den Gegnern solcher Systeme OR-Spezialisten herangezogen, die mit ihren Modellen zu unterschiedlichen, politischen Ausschlag gebenden Ergebnissen gekommen waren. Die wochenlange Auseinandersetzung wurde schließlich damit beendet, daß sich eine wissenschaftliche Gesellschaft, nämlich die Operations Research Society of America, eindeutig hinter den Wissenschaftler stellte, der mit seinem Modell ein solches System befürwortete. (Eine ausführliche Diskussion dieses Falles befindet sich in Anm. 14.)

Weiter mathematische Beiträge zum Zweiten Weltkrieg in den USA

Zurück zur mathematischen Forschung in den USA im Zweiten Weltkrieg. OR war eine mathematische Disziplin, die unmittelbaren Einfluß auf das Kriegsgeschehen hatte. Ähnlich spektakuläre Erfolge kann als mathematisches Teilgebiet für sich wohl nur die Kryptanalyse verbuchen, die sich mit dem Erstellen und Brechen von Codes beschäftigt. So ist z.B. bekannt, daß die Amerikaner durch das Brechen japanischer Codes die Schlacht bei den Midway Inseln gewinnen und damit nach Ansicht der Historiker eine Wende im Seekrieg gegen die Japaner herbeiführen konnte. 9 Auf die zahlreichen weiteren Beiträge der Mathematiker zu Kriegsprojekten kann an dieser Stelle nicht genauer eingegangen werden. Neben den genannten, OR und Kryptanalyse, Numerische Mathematik und der Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung 4, 9, 10. Ich fände es interessant zu untersuchen, wieweit aus diesen Kriegsentwicklungen heutige mathematische Forschungsschwerpunkte entstanden sind. Es sei hier nur noch erwähnt, daß eine einzige im Zweiten Weltkrieg entwickelte Methode der Statistik, die sog. Sequenzanalyse, die ein ökonomischeres Testen von neuen Kriegsgerät ermöglichte, vermutlich ein Vielfaches dessen an Geldmitteln einsparte, was die gesamte mathematische Forschung der USA während dieser Zeit gekostet hat. Abschließend sei noch bemerkt, daß einzelne Mathematiker, unter denen John Neumann hervorzuheben ist, nicht nur auf vielen wissenschaftlichen Ebenen, sondern auch auf vielen politischen Ebenen das Geschehen mitbeeinflußt haben (z.B. 1, 4).

Mathematik im Dritten Reich

Die Situation der Wissenschaft und der einzelnen Wissenschaftler in Deutschland während des Zweiten Weltkrieges war erheblich komplizierter als in den USA und läßt sich hier daher nicht gerecht mit wenigen Sätzen beschreiben (Mehr dazu in Anm. 15), 16). Die Nationalsozialisten waren wohl der Ansicht, daß der Krieg schnell und mit den Waffen gewonnen werden konnte, mit denen er begonnen worden war so daß der Wissenschaft und Technik zunächst keine besondere Bedeutung beigemessen wurde. Die Wissenschaftler „nichtarischer Abstammung“ wurden verfolgt. Einem Teil von ihnen gelang es, ins Ausland, vor allem wohl in die USA zu entkommen. (Über die Mathematiker dabei finden sich zahlreiche Hinweise in Anm. 7.) Die Wissenschaftler „arischer Abstammung“ dagegen wurden dem Menschenreservoir zugerechnet, „das für den gewöhnlichen Truppendienst ausgeschöpft wurde 17, S. 256“. 1942 trat dann bei den nationalsozialistischen Machthabern ein Gesinnungswechsel ein. „Seit Ende 1942 wurden in einer Großaktion Techniker und Naturwissenschaftler aus dem Kriegsdienst an Hochschulen und Forschungsinstitute zurückgerufen.“ 6 Etwa zur gleichen Zeit wurde im Rahmen der seit 1933 bestehenden Bemühungen um eine Studienreform der Mathematik, bei der es wesentlich um angewandte Mathematik und den „Industriemathematiker“ ging, der Titel der „Diplom-Mathematikers“ eingeführt 2, S. 4916. In der Begründung des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung heißt es dazu: „Die wachsenden Anforderungen, die Staat, Wehrmacht und Wirtschaft an die Physiker und Mathematiker stellen, machen es notwendig, die Ausbildung der künftigen Vertreter dieser Fachgebiete auf eine neue Grundlage zu stellen.“ s. 2) Bei der Rüstungsforschung spielten die Technischen Hochschulen, insbesondere auch die in Darmstadt, die führend an der Entwicklung der Luftfahrt- und Raketentechnik beteiligt war (s. 21 ), eine wichtige Rolle. Die Lage und das Verhalten der einzelnen forschenden Wissenschaftler im Dritten Reich sind in vielen Fällen sehr schwierig zu beurteilen (s. z.B. Anm. 3 über die Atomphysiker). Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, daß sich Mathematiker mehr als wahrscheinlich notwendig mit den nationalsozialistischen Machthabern eingelassen haben. So wurde z.B. im KZ Oranienburg am „Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung“ eine „mathematische Abteilung“ zur „Ausbeutung wissenschaftlicher Sklavenarbeit“ 16 eingerichtet. Wenn auch die Motive der einzelnen Wissenschaftler bei derartigen Aktionen, durch die in Einzelfällen sicher auch Menschenleben gerettet werden sollten und konnten, oft unklar bleiben, so gilt es festzuhalten, daß hier in jüngster Vergangenheit Mathematiker in ihrer Rolle als Wissenschaftler tief in die Politik verstrickt waren.

Einen groben Überblick über die mathematische Forschung im Dritten Reich kann man einmal aus dem Nazi-Journal „Deutsche Mathematik“ (s. dazu Anm. 15) und zum anderen aus den 1953 herausgegebenen sog. FIAT-Berichten 18 gewinnen. Was die Art der Auseinandersetzung mit dieser Zeit anbelangt, so finde ich es bemerkenswert, daß in dem 1966 im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft erstellten Nachdruck der „Deutschen Mathematik“ aufgrund der Tatsache, daß „...die weltanschaulichen Betrachtungen doch ihre aktuelle Bedeutung verloren hätten“, gewisse Artikel nicht wieder aufgenommen worden sind.

Mathematische Forschungspolitik in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg

1945 schrieb Secretary of the Navy James V. Forrestal an den damaligen Präsidenten Truman: „Im Frieden, mehr noch als im Krieg, schulden Wissenschaftler ihrer Nation eine Verpflichtung, durch die Fortführung von Forschung in militärischen Bereichen zu seiner Sicherheit beizutragen.“ 7, S. 104 In seinem Brief schlug Forrestal weiter vor, innerhalb der US-Navy ein Büro zu gründen, daß mathematische Grundlagenforschung an den Universitäten gezielt fördern sollte. Die geplante militärische oder zivile Förderung mathematischer Forschung von außen durch die Regierung führte zu heftigen Kontroversen unter den Wissenschaftlern. Schließlich kam es dann 1946 zu der Gründung des sog. Office of Naval Research und darin zu der Formulierung eines Mathematikprogramms. „Das Office of Naval Research hatte einen tiefen Einfluß auf die Entwicklung der mathematischen Forschung in den Vereinigten Staaten seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Dies war ein Ergebnis der Tatsache, daß in dem kritischen halben Dutzend von Jahren unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das Office of Naval Research praktisch die einzig verfügbare Geldquelle zur Unterstützung von mathematischer Grundlagenforschung war.“ 7, S. 106 Diese Umstände führten zu einer Umstrukturierung der mathematischen Forschung. Ganze Fachbereiche änderten ihre Forschungsprogramme, um an die Geldmittel zu kommen. Mina Rees beschreibt dies kurz mit den Worten „...who pays the piper calls the tune“ 7, S. 107, was soviel heißt wie „wer den Flötisten bezahlt, der darf auch die Musik bestimmen.“ Dieser Einfluß des Militärs auf die Forschung führte immer wieder zu starken Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und den Wissenschaftlern. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten sie zu Zeiten des Vietnamkrieges.19

Anders als in der BRD wird in den USA heute etwa die Hälfte aller mathematischen Forschung durch Drittmittel finanziert, was sicher seine Auswirkungen auf die gesamte mathematische Forschung hat. Die sog. National Science Foundation (= NSF) ist dabei die einzige Agentur, die für das gesamte Spektrum der mathematischen Forschung verantwortlich ist. Ihr Anteil an der Forschungsförderung beläuft sich für die reine Mathematik auf 97 %, jedoch für die angewandte Mathematik nur auf 38 % 11, S. 284). (Daß auch bei der NSF politische Kriterien gelegentlich bei der Förderungsvergabe mit. spielen, beweist der Fall des Mathematikers und Fields-Preisträgers Stephen Smale, der 1967 aufgrund seiner Gegnerschaft gegen den Vietnamkrieg Schwierigkeiten mit der NSF bekam. 19 Also 62 % der (von außen geförderten) Forschung in der angewandten Mathematik werden von weiteren Geldgebern finanziert, wobei die Agenturen des Departments of Defense (= DOD) den größten Anteil bestreiten. S. 290 ff.>11 Ihre Etats geben Auskunft darüber, welche mathematischen Disziplinen für sie von besonderer Bedeutung sind. So plant z.B. die US Air Force, 1984 ihren Haushalt für Kontrolltheorie um überdurchschnittliche 23,5% und den für Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik sogar um 78,5% zu erhöhen.

Die Gesamtsituation der Mathematiker an den amerikanischen Hochschulen hat sich in den letzten Jahren sehr verschlechtert. Deshalb wurde Ende 1982 vom Weißen Haus ein Gutachten darüber angefordert, ein Vorgang, welcher in der Geschichte der Mathematik einmalig ist. In diesem Gutachten wird auf die zentrale Bedeutung der Mathematik für alle Wissenschaft und Technologie und damit auch für die nationale Verteidigung hingewiesen und auf die Konsequenzen, die eine weitere Verschlechterung der Lage zur Folge hätte, aufmerksam gemacht 11, S. 268 ff.. Dieser Report bewirkte eine 24prozentige Erhöhung des NSF-Etats für Mathematik für 1984. K. Hoffman schreibt dazu, daß dies jedoch nur eine scheinbare Verbesserung der Lage bringe, weil demgegenüber die Förderung von Grundlagenforschung durch das DOD insgesamt abnähme. Zwar nähme der Gesamtetat der verschiedenen Agenturen des DOD zu, jedoch werde zunehmend Geld nur noch in spezielle Projekte gesteckt, während die Kernprogramme, die bisher eine stabile Förderung von Grundlagenforschung ermöglichten, schrumpften 11, S. 300.

Internationale Entwicklung der Forschungsfinanzierung

Diese Entwicklung ist nur in einem größeren Zusammenhang zu verstehen. Rainer Rilling schreibt über die internationale Entwicklung der Forschungsetats: „Mitte der siebziger Jahre setzte eine bislang kaum bemerkte Expansionswelle der Militärforschung ein. Ihre Zentren liegen vor allem in den USA, dann in der UdSSR. Mit einigem Abstand folgen England, Frankreich und die Bundesrepublik.“ 12, S. 236 Zunächst zu den USA: „Die „wachsende Militarisierung des Forschungs- und Entwicklungs-Budgets“ ließe auf eine Forschungspolitik schließen, „die aufgrund ihrer Besessenheit mit Militärtechnologie außer Kontrolle geraten ist“, so Daniel S. Greenberg, der Herausgeber des Science & Government Report ... Nach Analysen der „American Association für the Advancement of Science“ werden sich in den USA nach den gegenwärtigen Planungen im Zeitraum von 1980 bis 1987 die Ausgaben für militärische Forschung verdoppeln, die Mittel für zivile Forschungsvorhaben sich dagegen halbieren... Der Anteil der Rüstungsforschung an den Forschungs- und Entwicklungsausgaben des (amer.) Bundes, der im letzten Jahrzehnt immer bei etwa 50 Prozent lag, wird im Budgetvorschlag für 1984 auf knapp 70 Prozent angesetzt. Eine solche Umverteilung vom zivilen in den militärischen Bereich hat es in Friedenszeiten noch nicht gegeben, und ihre langfristigen Folgen sind noch gar nicht abzusehen.“12, S. 236 ff. Die Dimensionen dieser Entwicklung werden vielleicht an folgenden Zahlen besonders deutlich: Das DOD gibt heute pro Jahr allein für die Entwicklung von Computersoftware fünf bis sechs Milliarden Dollar aus; 1990 werden es nach Schätzungen etwa 32 Milliarden Dollar sein. 20

Anmerkungen

1 Stan M. Ulam: Adventures of a Mathematician, Charles Cribner's Sons, New York 1976 Zurück

2 Bernhelm Booß, Jens Hoyrup: Von Mathematik und Krieg, IMFUFA, Universitätscenter Roskilde, Dänemark, Tekst Nr. 64, 1983 Zurück

3 Robert Jungk: Heller als tausend Sonnen, Rororo TB Nr. 6629, 1983 Zurück

4 Mina Rees: The mathematical science and World War, Amer. Math. Monthly 87 (1980), S. 607-621.Zurück

5 R.G.D. Richardson: Applied mathematics and the present crisis. Amer. Math. Monthly 50 (1943), S. 415-423Zurück

6 G.B. Price: Adjustments in mathematics to the impact of war, Amer. Math. Monthly 50 (1943), S. 31-34 Zurück

7 The bicentennial tribute to American mathematics. 1776-1976, herausg. von D. Tarwater. Published and distributed by „The Mathematical Association of America“ 1977 Zurück

8 Philip M. Morse: In at the Beginnings. A Physicist's Life, The MIT Press, Cambridge Mass., and London, England, 1977 Zurück

9 J. Barkley Rosser: Mathematics and mathematicians in World War II. AMS Notices 29 (1982), S. 509-515. Zurück

10 Marston Morse, William L. Hart: mathematics in the defense program, Amer. Math. Monthly 48 (1941), S. 293-302 11. AMS Notices 30 (1983), S. 268-301 Zurück

11 AMS Notices 30 (1983), S.263-301 Zurück

12 Verantwortung für den Frieden, Naturwissenschaftler gegen Atomrüstung, Hrg. von H.-P. Dürr er al., Rowohlt 1983 Zurück

13 Weitere Modelle in: Operations Research 23 (1975), S. 342-352; Operations Research 30 (1982), S. 595-599; SIAM Review 19 (1977), S. 279-296 uns S. 297-318.  Zurück

14 Herbert Mehrtens: Drei Beispiele zur Sozialgeschichte der Mathematik. Maler. z. Berufspraxis Math. 19 (1977), S. 129-138. Zurück

15 Naturwissenschaft, Technik und NS-Ideologie. Hrg. von Herbert Mehrtens und Steffen Richter, Suhrkamp TB Wiss. Nr. 303, 1 980 Zurück

16 . Herbert Mehrtens: Naturwissenschaft und Nationalsozialismus, TU-Journal, Berlin, Januar 1983. Zurück

17 Bilanz des Zweiten Weltkrieges, Gerhard Stalling Verlag, Oldenburg 1953. Zurück

18 Naturforschung und Medizin in Deutschland 1939-1946, Band 1-2, Reine Mathematik, herausg. von Wilhelm Süss; Band 3-7, Angewandte Mathematik, herausg. von Alwin Walther, Verlag Chemie GmbH, Weinheim/Bergstr. 1953 Zurück

19 Serge Lang: A Mathematician on the DOD, Government, and Universities, in: The social responsibility of the scientist, ed. by Martin Brown, The Free Press, New York 1971 Zurück

20 Von effektiv bis nahezu chaotisch, von M. Domke (GMD), (Bonner) General-Anzeiger, 2. 9.7.83. Zurück

21 Henner Pingel: 100 Jahre TH Darmstadt, Im Selbstverlag, Darmstadt 1977. Zurück

Dr. Rembert Reemtsen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter Fachbereich Mathematik, Technische Hochschule Darmstadt

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1984/1 1984-1, Seite