W&F 2010/4

Mediation und Dialog

Trainings in gewaltfreier Kommunikation in Sierra Leone

von Ilona Auer-Frege

Beispielhaft für die von Ilona Auer-Frege in der Studie »Wege zur Gewaltfreiheit» untersuchten Projekte der Zivilen Konfliktbearbeitung (siehe separater Artikel in dieser Ausgabe von W&F) wird hier ein Projekt des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED) in Sierra Leone vorgestellt. Das Projekt dauerte von 2002 bis 2005. Es wurde zusammen mit der lokalen Partnerorganisation Sierra Leone Adult Education Association (SLADEA) durchgeführt. Finanziert wurde es über Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung / Ziviler Friedensdienst.

Das westafrikanische Land Sierra Leone ist sehr reich an Bodenschätzen (Bauxit, Rutil, Diamanten) und natürlichen Ressourcen (Tropenholz, Fisch), von deren Gewinnen auch nach der Unabhängigkeit im Jahre 1961 nur die herrschende Minderheit und ausländische Konzerne und Nationen profitierten.

Von 1991 bis 2002 herrschte in Sierra Leone ein Bürgerkrieg, der mehr als 50.000 Menschen das Leben kostete, über zwei Millionen zu Flüchtlingen machte und der Mehrheit der Bevölkerung physischen und/oder psychischen Schaden zufügte. Nach Schätzungen war ein Drittel der ehemaligen Bevölkerung während der Kriegsjahre intern oder extern vertrieben. Große Teile des Landes waren buchstäblich entvölkert, während die Hauptstadt Freetown und die westliche Provinz mit der Zuwanderung heimatloser Menschen völlig überfordert waren. Tausende lebten in Flüchtlingslagern, wo sie von der Unterstützung humanitärer Organisationen oder dem guten Willen von Familienmitgliedern abhängig waren.

Mittlerweile sind die meisten Menschen zurückgekehrt und konnten sich mit internationaler Hilfe wieder ein bescheidenes Zuhause aufbauen. Im Jahr 2002 wurden 72.000 Exkombattanten entmilitarisiert; der stufenweise Abbau der 17.500 UN-Soldaten war im Januar 2006 abgeschlossen. Fünf Jahre nach Bürgerkriegsende war Sierra Leone weiterhin durch extrem hohe Arbeitslosigkeit, Drogenmissbrauch, Analphabetentum und Militarisierung mit einhergehender Verbreitung von Kleinwaffen gezeichnet. Laut dem »Human Development Report« von 2005 rangierte Sierra Leone auf Platz 176 von 177 der am wenigsten entwickelten Länder der Welt. Soziale Einrichtungen, Krankenstationen oder Bildungseinrichtungen sind völlig unzureichend ausgestattet: Für je 100.000 Menschen gibt es nur sieben Ärzte, 284 von 1.000 Kindern sterben, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben, und ungefähr jede fünfzigste schwangere Frau stirbt während der Schwangerschaft oder bei der Geburt ihres Kindes. Über 60 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung sind arbeitslos, etwa 65 Prozent der Bevölkerung können weder lesen noch schreiben, für etwa 70 Prozent der Einwohner liegt der Durchschnittsverdienst bei 1-2 US$ pro Tag. Die aus diesen Missständen resultierende Frustration der benachteiligten Bevölkerungsschichten, insbesondere die Perspektiv- und Orientierungslosigkeit von Jugendlichen, schürt ein gesellschaftliches Klima der alltäglichen Gewalt und Rechtlosigkeit.

Der Projektansatz

Die lokale Organisation SLADEA bietet seit 1978 nonformale Bildungsprogramme mit den Schwerpunkten Alphabetisierung, Gesundheit, Hygiene, Umwelt- und Ressourcenschutz sowie die Vermittlung handwerklich-beruflicher Fertigkeiten an. Die Nichtregierungsorganisation ist eine landesweit bekannte Institution der Erwachsenenbildung, die vor allem die Menschen erreicht, die von formalen Bildungsangeboten ausgeschlossen sind, und ihnen einen Bildungsabschluss ermöglicht.

2002 wurde in einer Projektpartnerschaft zwischen EED und SLADEA mit einem Friedensdienstprojekt begonnen. Die eingesetzte Friedensfachkraft konnte sich den Bekanntheitsgrad und das Vertrauen, das SLADEA in der Bevölkerung genießt, von Anfang an für ihr Projektvorhaben zunutze machen, um innerhalb der etablierten Strukturen neue Wege zur Friedenserziehung zu beschreiten.

Gewaltfreiheit und Chancengleichheit sind als Werte in der sierra-leonischen Alltagskultur kaum verbreitet. Die Jahrzehnte des Krieges haben stets diejenigen überleben lassen, die sich besonders energisch durchsetzen konnten, so dass eine umfassende Kultur der Gewalt und die Beschränkung auf das Wohl der eigenen Familie verankert wurde. Hier setzte das Projekt an: Ein Netzwerk von engagierten Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, die sich in ihrem Umkreis für gewaltfreie Wege der Konfliktlösung und die Entwicklung einer Zivilgesellschaft einsetzen sollten, wurde geschaffen.

In jeweils zweiwöchigen Workshops bildete die Friedensfachkraft vor allem so genannte »Facilitatoren« aus. Insgesamt 154 Personen erhielten in drei Jahren eine Basisausbildung, 64 davon wurden in Aufbauseminaren weiter geschult, um in ihrem persönlichen Umfeld noch effektiver für einen gewaltfreien Umgang eintreten und ihre Fertigkeiten ehrenamtlich weitergeben zu können. Alle 154 Personen waren aktiv daran beteiligt, in Schulen, in Vereinen, in Dörfern und an ihren Arbeitsplätzen selbstständig Seminare zu organisieren, kleine Projekte anzustoßen oder in Konflikten vermittelnd zu wirken. So konnte das erlernte Wissen an etwa 2-3.000 junge Erwachsene, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Behörden, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie an andere Schlüsselpersonen in den Gemeinden weitergegeben werden.

Der Projektablauf

Zu Beginn des Projekts fand die Friedensfachkraft in der Partnerorganisation SLADEA ein sehr motiviertes Team vor, das in seinen Bildungsangeboten gerade für die ländliche Bevölkerung schon immer auch Werte wie Solidarität und soziale Verantwortung vermittelt hatte. Aber es fehlte an Fachwissen und Lehr- bzw. Lernmaterialien für einen qualifizierten Unterricht im Bereich Konflikttransformation. In der vom Krieg geprägten Gesellschaft war der Bedarf an neuen methodischen Ansätzen offensichtlich, doch es gab im Land kaum Vorbilder oder praktische Anleitung, um dieses Thema weiterzuverbreiten. So waren für die Friedensfachkraft zunächst die eigenen Teammitglieder die erste potenzielle Zielgruppe, um gemeinsam mit ihnen ein Programm auszuarbeiten und Unterrichtsmaterialien über zivile Konflikttransformation herzustellen. Ausgewählte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der 13 SLADEA-Zweigstellen wurden in Basistrainings als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in gewaltfreier Kommunikation und Konfliktmediation fortgebildet. Es entstanden die ersten Fassungen der Lehr- und Lernmaterialien, die später in den Workshops mit den eigentlichen Zielgruppen (SLADEA-Mitglieder und -Lernende, Lehrer/innen und Schüler/innen, Studierende, Mitglieder von Vereinen und Clubs, Gemeindevorsteher, Polizisten, Repräsentanten von Organisationen etc.) verwendet, überarbeitet und verbessert wurden.

Da die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Basistrainings zwar aufgeschlossen und sozial engagiert waren, zumeist aber keine Vorbildung im Bereich der Gewaltfreiheit mitbrachten, mussten die Workshop-Inhalte bei einem sehr grundlegenden Niveau ansetzen, um allmählich eine höhere Kognitionsstufe zu erreichen: Was ist ein Konflikt? Warum gibt es Konflikte und welche Formen der Konfliktaustragung kennen wir? Auf welche Weise kann ich kommunizieren? Wie wirkt mein Verhalten auf andere? Wie eskaliert ein Konflikt? Welche Interventionsmöglichkeiten habe ich persönlich oder in der Gruppe?

Darauf aufbauend wurden einfache Methoden der gewaltfreien Kommunikation eingeübt. Zuletzt standen Techniken der Vermittlung, der Mediation und Ansätze zur Konflikttransformation auf dem Plan. In den Basistrainings wählte die Friedensfachkraft jeweils zwei besonders geeignete Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus, die dann in den nächsten Workshops als Co-Trainerinnen und Co-Trainer mitwirkten und so die Gelegenheit erhielten, weitere Praxiserfahrung zu sammeln. Im letzten Projektjahr erhielten 64 ehemals Teilnehmende, die besonderes Interesse, Verständnis für die Thematik und pädagogisches Geschick zeigten, weitere Aufbaukurse. Die 26 Besten wurden in Teams zusammengestellt und agieren seither als »Trainer of Trainers«, die entweder mit der Unterstützung ihrer Kolleginnen und Kollegen oder selbstständig Seminare anbieten, wenn sie von Schulen, von Behörden, Organisationen oder von Gemeinden angefordert werden. Die wachsende Nachfrage von lokalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen in der Region, die Friedensarbeit in ihre Entwicklungsprojekte integrieren möchten, kann damit bedient werden. Bis zum Ende des Projektes wurden diese Teams von der Friedensfachkraft begleitet und unterstützt.

Was war wichtig für den Erfolg?

Der reflektierte Ansatz der Gewaltfreiheit war in dem Nachkriegsland Sierra Leone völlig neu. Es zeigte sich, dass bereits die Auseinandersetzung mit dem Thema bei den Auszubildenden großes Unverständnis auslöste.

„Für Menschen, die damit beschäftigt sind, irgendwie und auf jedem Weg das Nötigste zum Überleben zu beschaffen, weil es keine bezahlte Arbeit, zu wenig Lebensmittel und keine Unterstützung gibt, sind unsere Aufrufe zur Gewaltfreiheit zunächst fast eine Provokation. Aber wenn sie sich darauf einlassen, merken sie, welche Kraft in der gewaltfreien Kommunikation steckt. Man eröffnet keinen ermüdenden Kampf von Aggression und Gegenaggression mehr, sondern man spricht über den Inhalt der Konflikte, ohne den anderen dabei zu verletzen. In unseren Trainings konnten die Teilnehmenden ganz praktisch erproben, wie gut dieser Ansatz gerade in ihrem Alltagsleben funktioniert. Das hat sie unheimlich stolz gemacht.“ (Katharina Schilling, Friedensfachkraft)

Zunächst gab es auch Vorbehalte. Es stellte sich die Frage, ob eine so »westliche« und der lokalen Kultur fremde Methode für die Menschen in Sierra Leone überhaupt nachvollziehbar sei. Aber in den Seminaren erkannten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer immer wieder Analogien zu traditionellen Methoden der Konfliktbearbeitung. Auch diese legten Wert auf Ausgleich, auf Fairness und auf Toleranz; die Teilnehmenden konnten die angebotenen Inhalte ohne gravierende Widersprüche auf ihren eigenen Bedarf übertragen. „Es war unheimlich wichtig, nicht mit vorgefertigten Konzepten auf die Menschen zuzugehen, sondern das Unterrichtsmaterial gemeinsam mit den Zielgruppen zu erstellen. Wir mussten uns immer wieder darauf besinnen, die Menschen bei ihrem Bedarf abzuholen. Warum nehmen sie an dem Training teil? Was erhoffen sie sich? Was wollen und können sie ändern? Hier mussten unsere Trainingsmaterialien ansetzen, sie durften nicht aus Lehrbüchern kopiert sein. Die Menschen selbst haben die besten Ideen, wie die theoretischen Konzepte für sie umsetzbar werden. Das haben wir immer wieder in die Papiere aufgenommen, um sie weiter zu verbessern.“ (Katharina Schilling)

Heute liegt ein Trainingshandbuch vor, das sich in der Praxis vielfach bewährt hat und das auch anderen Organisationen, Schulen oder in der Erwachsenenbildung wertvolle Anregungen bieten kann. Darüber hinaus arbeitete die Friedensfachkraft gemeinsam mit Multiplikatorinnen und Multiplikatoren daran, das Thema »Gewaltfreie Kommunikation und Konflikttransformation« in lehrreichen Alltagsgeschichten und Gedichten zu verarbeiten, die in Buchform erschienen sind.

Ein Grundprinzip der Projektarbeit war es, bewusst in kleinen Schritten zu denken und die Kräfte der Teammitglieder und der auszubildenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer realistisch einzuschätzen. Das Projekt hatte sich das Ziel gesetzt, die Teilnehmenden in den Seminaren mit methodischem Handwerkszeug auszustatten, mit dem sie ihr Alltagsleben und ihr persönliches Umfeld positiv beeinflussen konnten. Die politische Ebene, die verfeindeten Parteien und die bewaffneten Gruppierungen wurden nicht direkt adressiert, weil diese Zielgruppen außerhalb der Einflusssphäre von SLADEA lagen. Dessen ungeachtet wächst durch den Aufbau von Wissen und Erfahrung, über Selbstbehauptung und durch das Netzwerk von engagierten Einzelpersonen eine Infrastruktur heran, die langfristig die Voraussetzungen für umfassendere Friedensprozesse in der Region schaffen kann.

Die Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer war und blieb eine ständige Herausforderung. Das Interesse an einer Qualifizierung, die kostenlos war, bei einer bedeutenden Organisation stattfand und durch eine internationale Trainerin erfolgte, war enorm groß. Allerdings erfüllten nur wenige Kandidatinnen und Kandidaten die Auswahlkriterien. Wer teilnehmen wollte, musste einen ausreichend hohen Bildungsstand nachweisen, im beruflichen und persönlichen Umfeld tatsächlich über Einfluss und Integrität verfügen, zudem noch aufgeschlossen und lernbereit sein. Deshalb wurden im letzten Jahr nur qualifizierte und engagierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu den Aufbaukursen eingeladen, nachdem im Rahmen von Projektbesuchen und in ausführlichen Gesprächen überprüft worden war, dass sie den Lernstoff tatsächlich an einen weiten Personenkreis weitergegeben hatten.

„Zu Beginn der Trainings waren manche Teilnehmerinnen und Teilnehmer geradezu schockiert, dass es keine scharfe Trennung zwischen Gut und Böse gibt und Rache deshalb sinnlos ist. Aber mittlerweile sind sie – ebenso wie viele andere Mitarbeitende – überzeugt davon, dass dies die einzige Möglichkeit für ein friedliches Miteinander in Sierra Leone ist. Das Interesse und die Offenheit für einen gewaltfreien Umgang mit Konflikten ist geweckt und setzt sich immer mehr durch. Die Teilnehmenden der Trainings sind oft zu überzeugten Verfechterinnen und Verfechtern der gewaltfreien Konfliktlösung geworden. Sie erproben im Alltag, wie weit sie den Ansatz der gewaltfreien Kommunikation anwenden können, und sie sind immer wieder überrascht, dass es doch noch einen Schritt weiter gehen kann. Dass auch in der Familie oder bei der Arbeit, wenn ein Streit ausweglos erschien, plötzlich wieder ein wenig Spielraum für Diskussion entsteht, wo vorher nur Ablehnung war. Ich finde es wirklich beeindruckend, dass selbst in einer so zerstörten Gesellschaft wie in Sierra Leone die Prinzipien der Gewaltfreiheit funktionieren und uns Recht geben.“ (Shecku Kawusu Mansaray, Executive Secretary, SLADEA)

Das Fazit

In einer Gesellschaft, die so sehr von Gewalt, Krieg und Zerstörung geprägt ist wie in Sierra Leone, muss ein Friedensprojekt beim angestrebten Transformationsprozess Pionierarbeit leisten. Zunächst geht es darum, den Menschen erste Grundkenntnisse über Wege der gewaltfreien Konfliktbewältigung zu vermitteln, um einen Grundstein für Veränderungen zu legen, die vermutlich mehrere Jahrzehnte benötigen. Das Projekt von SLADEA hatte sich Menschen als Zielgruppe ausgewählt, die in ihrem Umfeld als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wirken und ihre Kenntnisse auf breiter Ebene und vor allem an der Basis der Bevölkerung im ländlichen wie im städtischen Raum weitervermitteln konnten. Bewusst wurde darauf verzichtet, eine komplexe Infrastruktur vorauszusetzen oder nur bestimmte Fachorganisationen in den Städten anzusprechen. Stattdessen setzte das Projekt darauf, eine genügend große Menge von engagierten Einzelpersonen zu motivieren und mit dem nötigen Rüstzeug auszustatten, um kleine Schritte in Richtung Frieden zu gehen. Viele dieser ausgebildeten Einzelpersonen arbeiten seither ehrenamtlich. Ohne eine internationale Organisation im Rücken tragen sie ihr Wissen selbstständig weiter. Die Partnerorganisation SLADEA selbst bietet heute neben ihren langjährigen Bildungsprogrammen immer mehr gemeinwesenorientierte Projekte an, die sich gezielt mit der Nachkriegssituation und Konfliktprävention beschäftigen.

Dr. Ilona Auer-Frege ist Koordinatorin des Ökumenischen Netzes Zentralafrika.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2010/4 Konflikte zivil bearbeiten, Seite 37–39