W&F 1993/3

Medien und Gewalt

Zum Zusammenhang zwischen gezeigter Gewalt im Fernsehen und Gewalt in der Gesellschaft

von Wolfgang Bleh

Im Winter und Frühjahr dieses Jahres schien sich die Öffentlichkeit in Deutschland – gemessen an der Zahl der Berichterstattungen und politischen Stellungnahmen – wieder mehr für das Thema Medien und Gewalt zu interessieren. Die Ursachen für dieses neu erwachte Interesse sind zumindest teilweise in den spektakulären Ereignissen in diesem Zeitraum, wie der Entführung und Ermordung eines zweijährigen Jungen durch zwei Zehnjährige in Liverpool und den rechtsradikalen und ausländerfeindlichen Anschlägen in Deutschland, zu suchen. Das besondere Interesse in dieser Diskussion gilt der Rolle der Massenmedien bei der Entstehung realer Gewalt. Die (unterstellte) Kausalkette stellt sich vereinfacht so dar: „Im Interesse höherer Einschaltquoten zeigt das Fernsehen immer violentere Inhalte; dies führt zu einer Zunahme realer Gewalt beim Individuum wie in der Gesellschaft.“

Auch im Ausland – etwa in den USA – gewinnt das Thema wieder an Aktualität. In Deutschland wird die Diskussion vor dem Hintergrund einer noch nicht abgeschlossenen Entwicklung des Fernsehens als Reaktion auf die Einführung des dualen Rundfunksystems in den achtziger Jahren geführt. Das Fernsehen hierzulande befindet sich immer noch in einem instabilen, dynamischen Zustand, der vermutlich auch noch in den kommenden Jahren das Mediensystem kennzeichnen wird, da der deutsche Medienmarkt nach Ansicht von Experten als noch gar nicht voll entwickelt zu betrachten ist (Gangloff, 1993). Seit der Einführung des dualen Rundfunksystems hat sich das Fernsehangebot nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ verändert. Die Veränderungen sind zum Teil auch schnellebiger geworden: Neue Sendeformen etablieren sich schneller, werden aber auch sehr schnell wieder abgesetzt.

Was sind die Folgen dieser Veränderungen im Bereich des TV-Programmangebots? Die öffentliche Kritik richtet sich meist auf Auswirkungen auf gesellschaftlichem Niveau. Die Zunahme der Gewalt im Fernsehen beschäftigt beispielsweise die Landesmedienanstalten, die davor warnen, daß private Fernsehbetreiber unter dem Diktat der Einschaltquoten es immer häufiger versuchen, „die Grenzen des noch erlaubten auszutesten“ (SPIEGEL 2/1993, S. 166). Diese Entwicklung müßte eigentlich zwangsläufig dazu führen, daß die in den Fernsehanstalten mehr oder weniger geltenden ethischen Normen sich zunehmend verändern. In diesem Zusammenhang werden dann häufig auch Aussagen formuliert, die aus einer erhöhten Akzeptanz von Gewalt in den Medien auf zunehmende Gewalt in unserer Gesellschaft schließen.

Eine andere Meinung vertritt dagegen beispielsweise der Trierer Soziologe Eckert, der die zunehmende Gewalt in der Gesellschaft als Folge der „zunehmenden Tabuisierung von Gewalt auch in den Familien, in den Erziehungsinstitutionen und in den Jugendgruppen“ sieht. Durch diese Tabuisierung würden einzelne jugendliche Subkulturen zur Durchbrechung eben dieses Tabus gereizt, weil sie dadurch hohe mediale Aufmerksamkeit erzielen könnten (Eckert, 1993, S. 79). Das Problem wäre nach dieser These also weniger im tatsächlich gestiegenen Gewaltniveau zu sehen, als vielmehr in einer empfindlicher reagierenden Gesellschaft.

Die Annahme zunehmender Gewalt in (einigen) audiovisuellen Produkten und zunehmender Akzeptanz dieser Produkte erhält eine gewisse Augenscheinvalidität, wenn man an die Entwicklung auf dem Horrorvideomarkt denkt. Allerdings könnte man diese Entwicklung auch einfach nur als Resultat einer verfeinerten Videotechnik betrachten.

Ein anderes Beispiel mag verdeutlichen, daß sich aber neben der Technik auch Darstellungsnormen verändern. Alfred Hitchcock – der übrigens bei dem bekannten Mord in »Psycho« auf eine detaillierte Darstellung der Tat verzichtete – beging einen eklatanten Tabubruch, als er, erstmalig im Hollywood Kino, ein geräuschvolles Wasserklosett im Bild zeigte (SPIEGEL 2/1993, S. 1 70). Im heutigen Fernsehen könnte weder das Wasserklosett noch die Ermordungsszene für Aufsehen sorgen.

Die angesprochene (unterstellte) Verbindung zwischen der im Fernsehen gezeigten Gewalt und der Gewalt in der Gesellschaft stellt ein psychologisches wie gesellschaftliches Problem dar. Auf den folgenden Seiten soll gezeigt werden, welche Ergebnisse die Medienwirkungsforschung zu diesem Thema aufweisen kann.

Ergebnisse der Medienwirkungsforschung

Die Diskussion um die Auswirkungen audiovisueller Darstellungen von Gewalt auf die menschliche Psyche und das Verhalten ist weitaus älter als das Medium Fernsehen, auf das sich in den vergangenen Dekaden die Auseinandersetzung hauptsächlich bezog. Plato argumentierte zum Beispiel schon im Jahr 377 vor unserer Zeitrechnung im Sinne mancher zeitgenössischer Pädagogen für eine Beaufsichtigung der Dichter zum Schutze der Kinder vor schlechten Märchen. Jedoch bereits Aristoteles, der Schüler Platos, bezog die Gegenposition und vertrat die Katharsisthese. Katharsis meint ,die homöopathische Reinigung der Affekte` (Aristoteles, 1948, 1341 b), eine durch, die Erregung von Mitleid und Furcht` (Aristoteles, 1921, 1449b) bewirkte wohltuende Reinigung von derartigen Gemütsstimmungen, die zugleich eine unschädliche Freude bereiten soll.

Zur Zeit liegen insgesamt ca. 5.000 verschiedene Studien im Bereich der Medien- und Fernsehwirkungsforschung vor (Groebel & Gleich, 1993). Angesichts dieser Menge an Studien und Untersuchungen dürfte man eigentlich annehmen können, daß die Medienwirkungsforschung genügend gesicherte Aussagen zum Zusammenhang zwischen Mediengewalt und realer Gewalt zu treffen vermag. Leider stellt sich die Forschungssituation in der Realität anders dar: Die Ergebnisse der Medienwirkungsforschung sind widersprüchlich und von ihrem theoretischen Zugang her teilweise unvereinbar (Noelle-Neumann, 1987). Das soll an späterer Stelle am Beispiel der Habituationsthese näher gezeigt werden.

Ein weiteres Problem stellen die in vielen (Feld-) Studien gefundenen schwachen Zusammenhänge zwischen der rezipierten Mediengewalt und den abhängigen Variablen (Einstellungen und Verhalten) dar. Eigentlich bleibt es in diesen Fällen der Interpretation des Wissenschaftlers überlassen, ob er diese schwachen Zusammenhänge als Beleg für einen tatsächlichen Einfluß anerkennen will. Überinterpretationen der Ergebnisse und methodische Schwächen in den Untersuchungsanlagen können dieses Problem noch verstärken.

Diese Situation läßt einige Forscher die Hypothese formulieren, die Medien hätten überhaupt keinen direkten Einfluß auf das Verhalten der Rezipienten (z.B. McGuire, 1986). Noch weiter geht die Behauptung, die verbreitete Vorstellung, Mediengewalt könne in irgendeinem kausalen Zusammenhang zu aggressivem Verhalten stehen, sei nur auf die endlose Wiederholung dieser Thesen durch sogenannte »Autoritäten« zurückzuführen. Bei den »Autoritäten« handelt es sich dieser Meinung nach um gleichgesinnte Forscher, die so viele gleiche Vorurteile teilen, daß ihnen gar nichts anderes übrigbleibe, als die immer gleichen Schlüsse zu ziehen (Bear, 1984).

Trotz aller genannten Probleme lassen sich in der Medienwirkungsforschung einige theoretische Annahmen ausmachen, die als übergeordnete Modelle zu bezeichnen sind und unter denen sich ein Großteil der angesprochenen Untersuchungen subsumieren läßt. Diese Wirkungsvorstellungen sind gleichwohl nicht als einheitliche Forschungsrichtungen zu verstehen. Einige der wichtigsten Modelle sollen im folgenden vorgestellt werden. Diese Übersicht erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Das Thema Medien und Gewalt wird mit einer solchen Übersicht möglcherweise zu stark vereinfacht; wichtige Details müssen unbeachtet bleiben. Gerade das vorliegende Thema, bei dem Forscher unterschiedlicher Fachrichtungen, mit unterschiedlichen theoretischen Grundlagen, durch unterschiedliche Vorgehensweisen versucht haben, zu wissenschaftlich vertretbaren Aussagen zu gelangen, unterliegt diesem Problem. Aus diesem Grund soll zur eingehenderen Auseinandersetzung mit der Thematik auf ausführlichere Darstellungen verwiesen werden: Comstock, 1991; Groebel & Winterhoff-Spurk, 1989; Kunczik, 1987; Schulz, 1987 – um nur einige zu nennen.

Katharsis- und lnhibitionsthese

Die Katharsisthese geht, wie bereits erwähnt, auf Aristoteles zurück. Der z. Z. gebräuchlichste Katharsisbegriff wurde im Rahmen der Frustrations-Aggressions-Hypothese (Dollard et al., 1939) entwickelt und besagt, die Ausführung eines jeden aggressiven Aktes habe eine kathartische Wirkung in dem Sinne, daß dadurch der Anreiz zu anderen aggressiven Akten vermindert werde. Durch das dynamische Mitvollziehen von, an (fiktiven) Modellen beobachteten, Gewaltakten in der Phantasie, würde die Bereitschaft des Zuschauers abnehmen, selbst aggressives Verhalten zu zeigen. Phantasieaggression wird als aggressivem Verhalten gleichwertig verstanden (Postulat der funktionalen Äquivalenz der Aggressionsformen).

Zunächst wurde behauptet, jede Form der Phantasieaggression habe kathartische Effekte. Weiter wurde argumentiert, ein in der Phantasie erfolgendes Mitvollziehen aggressiver Akte sei nur dann aggressionsreduzierend, wenn der Rezipient emotional erregt oder gerade selbst zur Aggression geneigt sei. Eine dritte Variante legt das Schwergewicht auf inhaltliche Aspekte und postuliert das Auftreten kathartischer Effekte, wenn Schmerzen und Verletzungen des oder der Aggressionsopfer(s) in aller Ausführlichkeit gezeigt würden. Alle drei Formen der Katharsisthese können als empirirsch widerlegt angesehen werden (Kunczik, 1975). Eine durch das Ansehen violenter Medieninhalte bewirkte Aggressivitätsminderung aufgrund des »Abfließens« aggressionsspezifischer Energie erfolgt nicht.

Die Inhibitionsthese ist eine alternative Interpretationsmöglichkeit für viele Studien, die sich mit Verminderung aggressiven Verhaltens als Folge von Medienkonsum beschäftigten. Durch die Beobachtung von gewalttätigen Verhaltensweisen wird demnach beim Rezipienten Aggressionangst ausgelöst, die die Bereitschaft mindert, selbst aggressives Verhalten zu zeigen. Insbesondere realistische Gewaltdarstellungen – wobei die Konsequenzen von Gewalt deutlich gezeigt werden – bewirken eher Angst denn Aggression (Kniveton, 1978).

Katharsis und Inhibition bezeichnen mithin zwei vollkommen verschiedene Prozesse der Verarbeitung filmischer Gewalt. Beide theoretischen Ansätze gehen allerdings von einer Verminderung der Auftretenswahrscheinlichkeit aggressiver Verhaltensweisen als Folge der Rezeption violenter Inhalte aus.

Lerntheorie

Vielen Studien zur Medienwirkungsforschung liegen lerntheoretische Modellvorstellungen zugrunde. Im Grunde gehen alle Studien davon aus, daß das auf dem Bildschirm Gesehene zu einer vergleichbaren aggressiven Tat oder zu einer aggressiven Tat unter vergleichbaren Umständen wie das Modellverhalten führt. Die Erzeugung »kognitiver Repräsentationen« ist ein wesentliches Element der sozial-kognitiven Lerntheorie (Bandura, 1979; 1989). Diese Theorie erklärt die Kommunikation mit Medien als triadische Wechselbeziehung im Sinne einer symbolischen Interaktion mit dem Medium. Auf der Seite des Rezipienten sind es Prozesse der Symbolisierung, der Selbstreflexion und der Selbstregulierung, die das Verhältnis zu den Elementen Umweltereignisse und Verhalten regulieren.

Die klassischen Versuche Banduras folgten folgendem Paradigma: Kinder beobachteten eine erwachsene Person im Fernsehen, die physisch und verbal aggressiv mit einer aufblasbaren Plastikpuppe (Bobo-Doll) umging. Nach der Darbietung wurden die Kinder frustriert, indem ihnen Spielzeug gezeigt und wieder weggenommen wurde. Das Verhalten der Kinder wurde danach in einer Spielsituation beobachtet, die der vorher gezeigten Situation weitgehendst entsprach. Ergebnis dieser Studien war, daß die Kinder das Verhalten des aggressiven Modells imitierten (Bandura, 1979).

Die Ergebnisse der lerntheoretisch orientierten Untersuchungen legen also nahe, daß die Rezipienten beim Beobachten filmischer Gewalt kognitive Repräsentationen bilden, die in bestimmten Situationen wieder aktiviert werden können. Dies betrifft vor allem das Verhalten – aber auch Habitus und Erscheinungsbild des Rezipienten –, wenn vor allem junge Rezipienten versuchen, Fernsehvorbilder in der Realität nachzuahmen. Für die Stärke dieses Effektes werden in der Literatur folgende Faktoren verantwortlich gemacht (Kunczik, 1987, S. 64ff):

  • Ähnlichkeit der Filmsituation mit der realen Situation der Versuchspersonen,
  • Ähnlichkeit des Modells mit der Versuchperson,
  • Belohnung des Modells für aggressives Verhalten in der Filmsituation,
  • Belohnung des Beobachters für das gezeigte reale aggressive Verhalten.

Man darf aber in diesem Zusammenhang nicht vergessen, daß sich »Lernen« nicht auf negative Inhalte beschränkt. Fernsehen bietet nicht nur negative, sondern auch positive Verhaltensmuster. Bandura selbst hat in den siebziger Jahren in einigen Untersuchungen zeigen können, daß durch ein positives Fernsehmodell Angst abgebaut werden kann. Eine naheliegende, noch nicht konkret geprüfte Hypothese wäre, daß prosoziale Inhalte des Fernsehens bis zu einem bestimmten Grad die negativen Effekte kompensieren können. Würde diese Annahme bestätigt, könnte das Fernsehen nur dann negative Folgen erzielen, wenn das Gesamtangebot, oder die jeweils individuell zusammengestellte »Fernsehdiät« des Rezipienten mehr negative als positive Vorbilder lieferte. In der wissenschaftlichen Diskussion überwiegen allerdings die Studien, die sich mit der Reproduktion von aggressivem Verhalten beschäftigen (Bandura & Barab, 1973; Bandura & Menlove, 1968).

Die Hypothese, daß ein durch Frustration bewirkter Zustand emotionaler Erregung eine Neigung zu aggressivem Verhalten schaffe, liegt einer von Berkowitz u.a. durchgeführten Reihe von Laborexperimenten zugrunde (vgl. z.B. Berkowitz, 1970).

Stimulations- und Erregungsthese

Der Aufbau dieser Experimente stellt sich folgendermaßen dar:

1. Die Versuchspersonen (männliche Studenten) wurden von einem Mitarbeiter des Versuchsleiters verärgert bzw. nicht verärgert. Die Verärgerung bestand darin, daß der Proband seine Meinung bezüglich verschiedener vorgegebener Punkte äußern sollte und darauf von dem Mitarbeiter in Form von Elektroschocks mißbilligt wurde.

2. In der zweiten Phase des Experiments sahen die Versuchspersonen einen als gewalttätig oder nicht gewalttätig charakterisierten Film.

3. Nach dem Sehen des Films wurd die Aggressivität gemessen, und zwar entweder mit Hilfe von Einstellungsmaßen oder aber indem die Versuchspersonen die Gelegenheit erhielten, als Trainer in einem vorgeblichen Lernexperiment Fehler des sie vorher frustrierenden Individuums durch in Dauer und Intensität variable Elektroschocks zu bestrafen.

Berkowitz u.a. schließen aus den Ergebnissen dieser Experimente, das Ansehen bestimmter (z. B. als gerechtfertigt gezeigter) Gewalt führe beim Vorliegen bestimmter persönlichkeitsspezifischer (z.B. emotionaler Erregung des Rezipienten) und situativer Bedingungen (z.B. Anwesenheit von Aggressionsauslösenden Hinweisreizen) zu einer Zunahme aggressiven Verhaltens. Gegen diese Interpretation sind insbesondere folgende Einwände möglich (Geen & Berkowitz, 1966):

1. Das Stimulusmaterial (ein kurzer Boxkampf ist untypisch für Mediengewalt).

2. Berkowitz et. al. versuchten, in ihrem experimentellen Design, die Schädigungsabsicht einer aggressiven Tat nachzubilden. Die Elektroschocks sind aber zur Aggressionsmessung ungeeignet, denn die Umsetzung einer eventuell vorhandenen Schädigungsabsicht in Verhalten war unmöglich: Die Versuchspersonen wußten, daß die Elektro-Schocks schwach waren und eigentlich keinen Schaden verursachten. Die Schocks konnten im Gegenteil sogar als hilfreich interpretiert werden, da sie der Person, die sie erhielt, beim Lernen helfen sollten.

3. Darüber hinaus sind die erhaltenen Daten nicht sehr eindrucksvoll. Die Versuchspersonen erhielten zunächst selbst 7 Elektroschocks vom Frustrator. Nach dem Ansehen der aggressiven Filmszene teilte die aggressivste Gruppe im Schnitt 5,4 Elektroschocks aus.

Emotionale Erregung als Folge der Rezeption von filmischen Gewaltdarstellungen ist unbestritten. Erregungszustände ihrerseits steigern die Handlungsbereitschaft und damit die Wahrscheinlichkeit von Handlungen. Erregungszustände aufgrund empathischer Reaktionen sind dabei umso größer, je realitätsnäher ein Inhalt wahrgenommen wird und je ähnlicher sich Modell und Beobachter sind. Aggressives Verhalten als Folge der Rezeption violenter massenmedialer Inhalte kann daher als eine durch Erregung gesteigerte Handlungsbereitschaft verstanden werden. Diese allgemeine Erregung kann allerdings auch durch nicht-violente Inhalte wie zum Beispiel Pornographie erzeugt werden. Die Erregung selbst ist als neutrale Triebkraft zu verstehen, der eine erhöhte Handlungsbereitschaft folgt. Die Ausprägung der dieser Bereitschaft folgenden realen Handlung ist wiederum von den Auslösereizen und anderen Faktoren abhängig. So kann zum Beispiel einem erregenden aggressiven Film mehr prosoziales Verhalten folgen als einem neutralen Film. Den Effekt der Übertragung residualer – also nicht abgebauter – Erregung in andere Situationen und die daraus resultierende stärkere Handlungsbereitschaft nennt man „Excitation-Transfer“ (Zillmann, 1982).

Wie bei anderen Stimuli kann auch bei fortgesetzter Konfrontation mit violenten Inhalten ein Gewöhnungseffekt angenommen werden. Huesmann und Eron (1986) sehen in der Diskussion um die Folgen dieser Habitualisierung zwei gleichwertige, aber entgegengesetzte Positionen. Eine Position vertritt den Standpunkt, daß Kinder, die wenig Violenz sehen, durch violente Inhalte stärker erregt werden und infolgedessen auch eher bereit sind, selbst aggressives Verhalten zu zeigen. Ebenso überzeugend kann man aber auch das direkte Gegenteil vertreten. So kann die der Rezeption violenter Inhalte folgende Erregung als unangenehm für den Rezipienten und daher als aggressives Verhaltens beeinträchtigend verstanden werden. Geht man unter dieser Annahme von einer Gewöhnungsreaktion aus, wären Kinder, die viel Violenz sehen, eher bereit, selbst aggressiv zu agieren, da ihre Verhaltensbereitschaft nicht mehr durch ihre Erregung gehemmt wird (Huesmann & Eron, 1986, 14).

Ergebnisse von Metaanalysen

Die vorausgehende Skizzierung der theoretischen Grundlagen der Medienwirkungsforschung ist unvollständig, kann aber zeigen, wie unterschiedlich die Wirkungsvorstellungen bezüglich audiovisueller Gewalt angelegt sind. Es ist anhand dieser Sachlage nahezu unmöglich, dem Fernsehen pauschal negative Konsequenzen zuzuschreiben.

Trotz der unterschiedlichen Ansätze in der Primärforschung weisen die Ergebnisse von Metaanalysen tendenziell in die gleiche Richtung. Werden viele Einzelergebnisse – teilweise von über hundert verschiedenen Studien – zusammengefasst und durch unterschiedliche statistische Verarbeitungsverfahren einer vergleichenden Analyse zugeführt, zeigt sich ein konsistentes Bild: Die massenmediale Darstellung von Gewalt erhöht die Aggressivität der Zuschauer, zumindest kurzfristig (Andison, 1977; Hearold, 1986; Wood, Wong & Chachere, 1991).

Es erscheint erstaunlich, daß nicht mehr solcher Analysen durchgeführt werden. Möglicherweise ist dies auf Schwierigkeiten bei der Datenbeschaffung zurückzuführen. Hinzu kommt die überaus wichtige Voraussetzung der konzeptuellen Vergleichbarkeit der metaanalytisch zu untersuchenden Studien. Kann keine Übereinstimmung zwischen den jeweiligen theoretischen Positionen gefunden werden, bleibt die Auswahl der einzubeziehenden Arbeiten der Willkür des Forschers überlassen. Der Vergleich von Studien, die unterschiedliche theoretische Ziele verfolgen, sollte nicht erfolgen. Metaanalysen sind aus diesem Grund mit großer Sorgfalt zu prüfen. Die unterschiedlichen theoretischen Positionen der Wissenschaftler und die unterschiedlichen methodischen Vorgehensweisen bei der Überprüfung von Zusammenhängen machen eine direkte Gegenüberstellung und Kumulation von Ergebnissen eigentlich unmöglich. Dies soll im folgenden an der unter dem Punkt »Stimulations- und Erregungsthese« bereits angesprochenen Habituationstheorie ausführlicher erläutert werden.

Konzeptualisierungsvarianten von Habituation

Habituation bedeutet einen sehr unterschiedlich interpretierbaren Vorgang als Folge der Rezeption von audiovisueller Gewalt. Die gemeinten Wirkungen werden auch sprachlich recht unterschiedlich bezeichnet und zu unterschiedlichen theoretischen Modellen in Beziehung gesetzt. Der wohl wichtigste Aspekt läßt sich so formulieren: „Bei der Habitualisierungsthese wird von der empirisch gesicherten Annahme ausgegangen, daß ein einzelner Film bzw. eine einzelne Fernsehsendung kaum in der Lage ist, Einstellungen dauerhaft zu verändern bzw. gar Persönlichkeitsstrukturen zu modifizieren, d.h. es werden kumulative, langfristige Effekte betont.“ (Kunczik, 1987, S. 61f) Welche Interpretationsmöglichkeiten dabei in Frage kommen, soll kurz dargestellt werden.

Habituation als nachlassende Orientierungsreaktion

Die Grundlagen dieser Interpretation der Habituationsthese sind im Bereich der Wahrnehmungspsychologie zu suchen. Dort versteht man unter Habituation das Nachlassen einer Orientierungsreaktion bei wiederholter Reizdarbietung. Die Orientierungsreaktion bezeichnet eine allgemeine Aktivierung des Körpers als Folge einer Veränderung der Reizumgebung, von Pawlow als »Was ist das?-Reflex« bezeichnet. Diese Reaktion des Organismus hat einen einfachen Grund, der wahrscheinlich in der Entstehungsgeschichte des Menschen bzw. seiner tierischen Vorfahren zu suchen ist. Da die Aufnahmefähigkeit für Umweltinformationen stark beschränkt ist, müssen neuartige Reize, die eventuell lebenswichtige Informationen beinhalten, besonders beachtet werden: „Was man gerade tut oder denkt, wird unterbrochen, Blick, Kopf und Körper wenden sich zur Reizquelle, die Gehirnaktivierung und -durchblutung steigt, die Sinnesorgane sind auf erhöhte Aufnahmebereitschaft eingestellt.“ (Fröhlich, 1988, S. 73). Bei wiederholter Darbietung eines Reizes, der sich für das Individuum als ungefährlich bzw. unwichtig erweist, kommt es zur Habituation der Orientierungsreaktion. Die anfänglich starken physiologischen Reaktionen schwächen sich also ab und bleiben schließlich aus.

Die Habituation an (violente) Reize in diesem Sinn stellt einen Adaptionsprozess dar. Habituation an violente Fernsehinhalte könnte demnach so verstanden werden, daß die betroffenen Individuen über einen langfristig erfolglreichen Anpassungsmechanismus verfügen. Problematisch bei vielen Studien in diesem Zusammenhang ist jedoch die unterschiedliche Interpretation der emotionalen Qualität der gemessenen Erregung.

Emotionale Erregung beim Ansehen audiovisiueller Gewalt wird häufig operationalisiert durch die Messung physiologischer Veränderungen (Herzrate, Hautleitfähigkeit, penile Tumeszenz etc.). EDA-Reaktionen (elektodermale Aktivität, Hautleitfähigkeit) können zum Beispiel durch den Aufwand bei der Informationsverarbeitung, die Beanspruchung durch die Wahrnehmungsaufgabe, die Reizneuigkeit und (!) durch die emotionale Reizbedeutung beeinflußt werden. Das Problem der Habituation der emotionalen Reaktion stellt sich also differenzierter dar, als es einige Studien erwarten ließen. Von der Habituation darüber hinaus nicht betroffen ist die intuitive Bewertung. Diese Instanz im Wahrnehmungsprozeß bezeichnet wie die Orientierungsreaktion eine vorbewußte Reaktion, allerdings ist sie die Folge undeutlicher, unterschwelliger Reize, die aufgrund von Erfahrungen eine bestimmte emotionale Bedeutung besitzen. Sie äußert sich in Erregungsanstieg und Verhaltenstendenzen der Annäherung oder Vermeidung und unterliegt nicht dem Gewöhnungseffekt. Sie operiert im Bezugssystem latenter unbewußter Bedürfnisse oder Interessen. Intuitive Bewertung besitzt also im Gegensatz zur Orientierungsreaktion eine emotionale Komponente (Fröhlich, 1988). Im Falle der Orientierungsreaktion dagegen führt nicht jeder Zustand der physiologischen Erregung zu einer kognitiven Klassifizierung, zu einer bestimmten subjektiven emotionalen Qualität. Fernsehen, wie auch andere bewegte Wahrnehmungen, ist mit Alarmfunktionen des Körpers gekoppelt; schon die bloße Präsentation führt zu einem erhöhten Erregungsniveau (Sturm, 1985). Erst kognitive Prozesse wie Reizklassifikation und Situationsbewertung lassen aus einem ungerichteten physiologischen Alarmzustand eine spezifische qualitative Empfindung (Emotion) entstehen.

Habituation als systematische Desensibilisierung

Im Zusammenhang mit Habituation an Mediengewalt wird häufiger auf die Studien zur systematischen Desensibilisierung von Wolpe und Lazarus (1966) verwiesen. Das Verfahren der systematischen Desensibilisierung bezeichnet eine bestimmte Vorgehensweise bei der Behandlung von Phobien. Hierbei wird für den angstauslösenden Reiz eine Hierarchie der Situationen und Darbietungsformen erstellt. Im Fall einer Spinnenphobie beispielsweise wird der Patient gebeten, eine Rangfolge der angstauslösenden Situationen zu erstellen. Er notiert sich zunächst alle möglichen Erscheinungsformen des angstauslösenden Reizes, etwa photographische Spinnendarstellungen, die zufällige Berührung einer Spinne etc. Diese angstauslösenden Reize werden dann vom Patienten nach dem Ausmaß der Angst, die sie auslösen, in einer Rangreihe geordnet. Danach wird der Patient entsprechend dieser Liste in entspanntem Zustand an den angstauslösenden Reiz herangeführt. In der klinischen Praxis bedeutet dies, daß der Patient aufgefordert wird, mit dem Therapeuten in einer betont entspannten Atmosphäre über die angstauslösenden Reize zu sprechen. Man beginnt mit dem Reiz, der am wenigsten emotionale Erregung produziert und wechselt erst dann zum nächsten Reiz, wenn durch den gerade besprochenen Reiz keine emotionale Reaktion mehr ausgelöst wird. Man kann dieses Verfahren auch als einfache Form des Lernens verstehen.

Wendet man die Logik der Desensibilisierung auf das Konzept der Habituation an Mediengewalt an, kann behauptet werden, daß durch die hohe Rezeption von (teilnehmend erlebter) Gewalt sich beim Rezipienten eine Art psychologischer Abstumpfung einstellt (Eysenck & Nias, 1978). Habituation an Mediengewalt kann dann als Konditionierungsprozeß beschrieben werden: Eine Gewaltszene, die Angst erzeugt, wird mit einer konkurrierenden Reaktion (Entspannung, Nahrungsaufnahme) verbunden. Auf diese Weise stellt sich eine dauerhafte Verbindung zwischen Entspannung und der Rezeption von Gewaltszenen ein.

Die Randbedingungen einer solchen systematischen Desensibilisierung für violente audiovisuelle Stimuli erscheinen im Falle der alltäglichen Fernsehsituation nahezu optimal: Die Beobachtung violenter Aktionen auf dem Bildschirm erfolgt häufig in einer entspannten Rezeptionssituation. Und auch wenn die violenten Inhalte soviel (negative) physiologische Erregung produzieren, daß es zu keiner entspannten Situation kommt, kann doch die große Anzahl der Rezeptionssituationen diesen Effekt bewirken.

Habituation als nachlassende Reagibilität gegenüber Gewalt

Die wohl wichtigste Interpretation der Habituationsthese betrifft den Bereich der sozialen Wahrnehmung bzw. der Einstellung zu Gewalt im täglichen Leben. So wird argumentiert, daß die ständige Konfrontation mit Gewalt auf dem Bildschirm zu einer nachlassenden Reagibilität auf Gewalt im täglichen Leben führt. Diese nachlassende Reagibilität betrifft zunächst die Wahrnehmungsbereitschaft, hat vermutlich aber auch Konsequenzen im Verhaltensbereich. Die veränderten Einstellungen des Individuums könnten helfendes Verhalten hemmen beziehungsweise auch die Bereitschaft zu eigenem aggressivem Verhalten erhöhen. Neben dem Unterlassen von sozial positiven Handlungen – beispielsweise in Form nachlassender Bereitschaft zur Hilfeleistung – geht es hier auch um die Aktivation von sozial negativen (aggressiven) Verhaltensweisen. Die Veränderung der individuellen Akzeptanz von Normen könnte in diesem Zusammenhang ebenfalls als Habituation gedeutet werden. Fernsehen als Sozialisationsagent der Kinder und Jugendlichen könnte durch sein unverhältnismäßig großes Angebot an gewaltsamen Darstellungen dazu führen, daß sowohl eigenes aggressives Handeln als auch Gewalt als soziales Sanktionsmittel eher toleriert werden. Gewalt wird damit zum alltäglichen Ereignis, das nicht in Widerspruch zu den Normen unserer Gesellschaft steht.

Eine direkte Prüfung derartiger Gewöhnungseffekte wurde von Drabman und Thomas (1976) vorgenommen, eine indirekte, da eigentlich auf die Generalisierbarkeit der Excitation-Transfer-Theorie bezogene, von Mueller, Nelson und Donnerstein (1977). Die Ergebnisse dieser beiden Untersuchungen stehen in Widerspruch zueinander. Leider haben sich nur sehr wenige Autoren mit ähnlichen, auf die Verhaltensebene bezogenen Wirkungen beschäftigt.

Habituation als Reaktion auf der Kommunikator-Ebene

Eine andere Interpretation der Habituation – häufig nur implizit angesprochen – betrifft eher gesellschaftliche Auswirkungen der zuvor beschriebenen Reizadaption und taucht bisweilen in der politischen Diskussion um die Fernsehgewalt auf, beispielsweise wenn Habituation als Motor einer »Spirale der Reizüberflutung« interpretiert wird. Die hier gemeinte Dynamik kann etwa so erläutert werden: Rezipienten gewöhnen sich zunehmend an die im Fernsehen gezeigten erregenden und gewaltsamen Inhalte. Diese Gewöhnung geht soweit, daß die im Fernsehen gezeigten Inhalte immer erregender und gewaltsamer werden müssen, um den Zuschauer in einer Situation des Wettbewerbs zwischen verschiedenen Anbietern an das Fernsehen zu binden. Die Folge ist also eine fernsehende Bevölkerung, die gegen zunehmende Gewaltpräsentation in diesem Medium zunehmend resistent wird. Inwieweit auch Organe der öffentlichen Kontrolle – etwa die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften – von solchen Habituationsprozessen – betroffen sind, ist ungeklärt.

Was wären die Folgen einer solchen gesellschaftlichen Habituation an das Gewaltangebot? Solange alle betroffenen Individuen sich in ausreichendem Maße an die fraglichen Inhalte anpassen, solange es zu keiner Beeinflussung weiterer Lebensbereiche kommt und solange das Mediensystem sich im Rahmen seiner ethischen Auflagen und Verantwortung bewegt, wäre diese Form der Habituation nicht im Sinne kulturpessimistischer Autoren zu interpretieren. Problematisch wird dieser Effekt erst, wenn Individuum und/oder Gesellschaft generalisierte Habituationseffekte zeigen, beziehungsweise wenn das ethische Normen- und Wertesystem einer Gesellschaft durch diese Entwicklung ins Wanken kommt. Insgesamt gibt es sehr wenige Studien, die sich mit diesen Wirkungen beschäftigen.

Beachtenswert sind in diesem Zusammenhang Untersuchungen zur US-

Kriegsberichterstattung im Vietnam-Krieg. Mangelsdorff und Zuckerman (1971) gingen beispielsweise davon aus, daß durch die (gezielte!?) schrittweise Steigerung des Einsatzes der Berichterstattung im Vietnam-Krieg der Widerstand der Bevölkerung vermieden wurde. Als Beispiel nennen die Autoren das My Lai-Massaker und fragen, ob sich durch das wiederholte Zeigen dieser Aufnahmen die amerikanische Bevölkerung an das Bild Greueltaten begehender Amerikaner gewöhnte. Die von den Forschern aufgestellten Hypothesen konnten nicht bestätigt werden.

Probleme der Habituationsvorstellung

Sicherlich gibt es über die hier diskutierten Aspekte hinaus noch weitere Interpretationsmöglichkeiten der Habituation. Es sollte aber gezeigt werden, daß es die Habituation an Mediengewalt, wie sie häufig als Wirkungsvorstellung zitiert wird, überhaupt nicht gibt. Die Habituationstheorie läßt folgende Fragen offen:

  • Bedeutet »mehrmaliges Ansehen« die wiederholte Beobachtung der immer gleichen Gewaltszenen in einem eng definierten zeitlichen Bereich ohne längere Pausen, oder bedeutet es das wiederholte Ansehen nach mittleren oder sogar längeren Zeitintervallen? Ist diese Habituation auch auf andere violente Inhalte generalisierbar?

Bezieht sich Habituation nur auf aggressive Verhaltensweisen oder auch auf die Darstellung von Grausamkeiten ohne direkt erkennbaren Bezug zu personaler Gewalt? Wie kann der Stimulus »violenter Reiz« definiert werden? Die Möglichkeiten »Gewalt« begrifflich zu definieren sind vielfältig (Kunczik, 1987, S. 14ff). Ein wesentliches Kriterium dürfte dabei die zugrundeliegende Schädigungsabsicht sein.

  • Welche filmische Machart der violenten Stimuli hat habituierende Auswirkungen? Neben den Unterschieden zwischen Filmaufnahmen lebender Akteure und Darstellungen in Trickfilmform sind es die formalen Angebotsweisen dieser Filme, die stärker berücksichtigt werden müßten. Bei Gewaltdarstellungen findet man sowohl lange Einstellungen, die das Geschehen in aller Deutlichkeit präsentieren, als auch kurze abgehackte Einstellungen, die es eher erahnen lassen (Sturm, 1989).
  • Welche Auswirkungen bezüglich der Habituation haben andere mediale Angebotsformen wie etwa das Kino oder auch Bücher? Ein weiteres Problem stellt die Angebotsform der Videotechnik dar. Gefahren dieser Technik bestehen vor allem darin, daß durch den Besitz von Videorecordern auch solche Filme in das Angebotsspektrum jugendlicher Rezipienten rücken, die eigentlich den Jugendschutzvorschriften unterliegen. Daß dabei die für Videotheken geltenden Jugenschutzvorschriften keine wesentliche Einschränkung des Zugangs bedeuten, konnte nachgewiesen werden (Brosius & Hartmann, 1988). Ein zusätzliches Problem der Videotechnik unter dem Aspekt der Habituation besteht darin, daß besonders eindringliche Gewaltszenen wieder und wieder angesehen werden können.
  • Welche Rolle spielen kognitive Vorgänge bei der Habituation? Ist es dasselbe, wenn eine grausame Verstümmelung in der Form eines klinischen operativen Eingriffs bzw. im Rahmen eines Horrorfilms gezeigt wird? Wie kann man kognitive und emotionale Aspekte gesondert berücksichtigen?
  • Wie wird die emotionale Reaktion, zu deren Abschwächung es nach der Habituationstheorie kommt, operationalisiert? Ist sie gleichbedeutend mit der physiologischen Reaktion?
  • Eine der wichtigsten Fragen zur Habituation – bezogen auf die Verwertbarkeit der Ergebnisse – dürfte sein, ob die Habituation an Mediengewalt durch die sensibilisierende Wirkung anderer Inhalte aufgehoben werden kann.

Gewalt im Fernsehen heute – Die Rolle von Reality-TV

Am Beispiel der Habituation konnte gezeigt werden, daß die Konzepte der Medienwirkungsforschung starke inhaltliche Differenzen aufweisen. Eigentlich kann man angesichts der Fülle von Untersuchungen, die tendenziell in die gleiche Richtung weisen, nur von einem Zusammenhang ausgehen, dessen Gesetzmäßigkeiten weiterhin ungeklärt bleiben. Man muß sich daher die Frage stellen, ob die vorliegenden Untersuchungsansätze der derzeitigen Diskussion über die Gewalt im Fernsehen überhaupt gerecht werden. Das gilt auch für die Diskussion über die Folgen der neuesten fernsehtechnische Entwicklung, des Reality-TV.

Seit 1988 erlebt Reality-TV in den USA einen regelrechten Boom. Allein die vier großen Sendernetze füllen dreizehn Stunden ihrer Prime-Time-Sendezeit mit unterschiedlichen Sendungen dieses Typs. Die Titel lauten: »Top Cops«, »Americans Most Wanted«, »Rescue 911«, »Hard Copy« oder »A Current Affair«. Die Gründe für den Erfolg dieser Serien dürften in der Kombination von Publikumserfolg und extrem niedrigen Produktionskosten zu suchen sein.

Mittlerweile befindet sich allerdings auch in den USA die Sendeform »Reality-TV« bereits im Niedergang (SPIEGEL 4/1993, S. 184).

Seit 1992 werden auch im deutschen Fernsehen Sendungen dieser Art gezeigt. Die amerikanischen Vorbilder der von den privaten Anbietern ausgestrahlten Serien werden nicht verleugnet; amerikanische Produktionen teilweise auch übernommen. Die Reaktion auf diese neue Art der Fernsehunterhaltung im Medienspiegel ist äußerst lebhaft, wobei sich die Kritik in diesem Fall audiovisueller Gewalt nicht gegen die Darstellung aggressiven Verhaltens, sondern vielmehr gegen die voyeuristische Vermarktung menschlichen Leids richtet. Obwohl die Reality-TV-Beiträge nach und nach auch wieder aus dem Programm verschwinden, lohnt es sich, das Problem eingehender zu betrachten.

Reality-TV folgt den Prinzipien des Sensationsjournalismus der Boulevardpresse: Stilistisch wird ein Ereignis auf eine handlungsstarke Geschichte – auf action pur – reduziert. Dies belegt auch die sonstige Machart dieser Filme: Großaufnahmen zeigen Gewalt und Zerstörung, Menschen, die die Kontrolle über ihre Gefühle verloren haben. Musikalische Untermalung akzentuiert die Spannung.

Welche Auswirkungen dieser Sendetyp auf Rezipienten haben kann, ist bisher noch weitgehend unerforscht. An der Universität Mannheim wurde eine Untersuchung im Zusammenhang mit der Thematik »Reality-TV« im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft durchgeführt (Grimm, 1993). Forschungsleitend war die Frage, ob die Medien Vorboten und Katalysatoren einer anderen, schlechteren Wirklichkeit sind, wie die Vertreter der Verrohungsthese behaupten, oder aber Instrumente der Bewältigung von Realität.

Die Studie folgte einem experimentellen Plan, wobei als Stimuli verschiedene Beiträge der Realtity-TV-Sendung »Notruf«- die Rettung eines Kindes, ein Autounfall und ein Hausbrand – eingesetzt wurden. Gemessen wurde der »kognitive und emotionale Gesamteindruck« der gerade gesehenen Inhalte anhand eines semantischen Differentials. Dem Ergebnis dieser Messungen zufolge verstärken extreme Opferdarstellungen, die negative emotionale Reaktionen hervorrufen, den Spannungswert und den Eindruck »realistischer« Darstellung – gemessen durch die Skala »interessant – uninteressant« des semantischen Differentials. Darstellungen realer Gewalt, die negative Emotionen hervorrufen (Skala »angenehm – unangenehm« des semantischen Differentials), werden also vom Rezipienten als interessanter und spannender eingestuft.

Die im Rahmen dieser Untersuchung durchgeführte »Wirkungsanalyse« – eine Vorher-Nachher-Messung in Fragebogenform – führte zum wohl wichtigsten Ergebnis: Personen, die zuvor Szenen eines Autounfalls gesehen hatten, stimmten einem Item der Skala Hilfsbereitschaft („Wenn ich auf der Autobahn ein Auto sehe, das mit einer Panne liegengeblieben ist, überlege ich sofort, ob ich helfen kann.“) deutlich häufiger zu, als andere Versuchspersonen. Das Ergebnis dieser Studie wäre also kurz zusammengefaßt: Reality-TV ist aufgrund der gezeigten Aufnahmen realer Gewalt interessant und kann prosoziale Effekte erzeugen. (Ein weiteres Item der Wirkungsanalyse, in dem es um konkrete Hilfe ging („Einem Unfallopfer würde ich notfalls auch mit einer Mund-zu-Mund-Beatmung helfen“), wurde von den Versuchspersonen allerdings vor und nach dem Experiment in gleicher Weise beantwortet.)

Dieses Ergebnis bestätigt kaum die Erwartungen kulturpessimistischer Autoren, ist aber auch nicht sonderlich überraschend. Denn warum sollte Reality-TV keinen lerntheoretisch zu erklärenden Transfer leisten? Aus diesem Ergebnis ist im übrigen nicht abzuleiten, daß Reality-TV nicht auch andere Auswirkungen haben kann. Bedenklich erscheint beispielsweise, daß sich durch diese Sendeform der Anteil realer Gewaltdarstellungen am Gesamtfernsehen erhöht hat, zu deren Auswirkungen es bisher nur wenige Untersuchungen gibt. Gerade Habituationseffekte im Sinne der oben genannten geringeren Reagibilität gegenüber realer Gewalt wären es wert, näher untersucht zu werden.

Insgesamt legt auch ein konkreter Befund, wie dieser zum Reality-TV, die gleiche Folgerung nahe, wie die vorausgehenden Ausführungen zur Habituationsthese: Die Vorstellung, daß massenmediale Inhalte bei den Rezipienten im Sinne eines Stimulus-Response-Modells zu den immer und für alle gleichen Reaktionen führen, kann nicht mehr ernsthaft vertreten werden. Das Problem der audiovisuellen Gewalt muß differenzierter betrachtet werden. Auf der Seite des Fernsehangebots wie auf der Seite des Rezipienten müssen differenzierte Fragestellungen mit Hilfe ausgefeilter Modelle und Methoden untersucht werden, bevor man gültige Aussagen über das Zustandekommen der kaum bestrittenen Effekte von Gewaltdarstellungen in den Medien machen kann.

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Wolfgang Bleh (M.A.) ist wiss. Mitarbeiter am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1993/3 Medien und Gewalt, Seite