Mehrheitsgesellschaft und türkisch-sunnitische Migranten
Chancen für eine Kultur des Friedens?
von Reiner Albert
»Zeige mir, wie du Konflikte regelst, und ich sage dir, welche politische Kultur du besitzt!« In Anwendung dieses Leitgedankens stellt sich die Frage: Wie gehen wir mit dem latenten Konflikt zwischen Deutschen und türkisch-sunnitischen Migranten um? Bestehen Chancen einer innergesellschaftlichen Kultur des Miteinanders, das einer reifen Demokratie gerecht wird? Die Antwort ist nicht im »Kampf der Kulturen«, sondern primär im Einfluß politischer Interessen auf die kognitiven Strukturen der Migranten zu suchen.
Kann im Sinne eines zivilisatorischen Fortschritts eine »Kultur des Friedens« (Vogt/Jung 1997) entwickelt werden? Eine Frage, die seit den bürgerlichen Revolutionen von 1776 und 1789 stetig an Bedeutung gewonnen hat. Als Spezifikum der Moderne wurden die Ideale des Gesellschaftssystems eng mit der endgültigen Regelung des Friedensproblems durch eine »Friedenstheorie« verbunden. Politische Philosophen der beginnenden Aufklärung wie Thomas Morus (Habermas 1978: 57f) definierten den gesellschaftspolitischen Idealzustand unter ethischen und friedenspolitischen Gesichtspunkten. Begriffe wie Kultur und Zivilisation wurden zu einer politischen und der Terminus Politik zu einer humanitären, moralischen und zivilisatorischen Kategorie. Die so verstandene politische Kultur wurde zum »Zivilisierungsprojekt« (Senghaas 1995: 196ff) und Gradmesser, inwieweit es gelang, ein friedliches Miteinander zwischen den Bevölkerungsteilen eines Staatswesens bzw. zwischen Ländern in einem internationalen System mit möglichst geringen Gewaltmitteln zu erzielen. Das philosophisch gefaßte Telos hatte in der politischen Praxis nicht nur positive Konsequenzen insofern, daß man sich von nun an auf dem von Kant in Aussicht gestellten Weg zum »ewigen Frieden« befand; im Gegenteil, die politische Kultur der westlichen Moderne brachte nicht nur unterschiedliche Gesellschaftssysteme, sondern auch konfligierende Friedensmodelle hervor, wie sie sich vor allem im Ost-West-Konflikt manifestierten. Die Kombination von Vernunft- und Fortschrittsgläubigkeit, moralischen und friedenspolitischen Wertvorstellungen konnte – verbunden mit einer polarisierenden eschatologischen Weltsicht, die dem eigenen Friedensmodell die alleinige Existenzberechtigung zuschrieb – zur Steigerung des militärtechnologischen Gewaltpotentials führen.
Auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts bleibt die Kernfrage: Wie vermag der moderne Mensch sich im individuellen Bewußtsein der Freiheit eine Gesellschaftsordnung zu schaffen, die den Frieden sichert, ohne innenpolitisch das von Max Weber als »Monopol physischer Gewaltsamkeit« bezeichnete ordnungspolitische Mittel staatlicher Gewalt unverhältnismäßig zu strapazieren bzw. ohne außenpolitisch die strategisch-mililtärischen Gewaltmittel ins außerhalb jeglicher menschlicher Ethik stehende Unermeßliche zu steigern? Will der moderne Staat nicht mit seinen zivilisatorischen Zielen in Widerspruch geraten, so muß die Wahl seiner politischen Mittel dem bislang erreichten Entwicklungsstand auch im Ergebnis der faktisch praktizierten Politik entsprechen. Vor diesem Hintergrund lenkt die nachfolgende Darstellung die Aufmerksamkeit auf eine der diffizilsten Herausforderungen an den demokratischen Rechtsstaat am Ende unseres Jahrhunderts: das Zusammenleben von christlich-säkularen Bürgern und türkisch-sunnitischen Migranten.
Das Desiderat: Ein Gesamtkonzept für die Eingliederung von türkischen Sunniten
Obwohl Muslime seit Jahrzehnten in Europa leben, zeigt das im Alltag zu erlebende faktische Nebeneinander von Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft, daß der praktizierte interkulturelle Dialog keine echte kognitive Substanz im Abbau von gegenseitigen Fremdwahrnehmungen und im Aufbau eines Miteinanders in der Bevölkerung bilden konnte. Die Ursache für diese Situation ist primär auf einen zu bescheidenen Grundanspruch an den interkulturellen Dialog, auf halbherzige Integrationsprojekte und vor allem auf das Fehlen eines Gesamtkonzeptes zurückzuführen, mit dem vorrangig ein in größeren wissenschaftsmethodischen und historisch-politischen Zusammenhängen stehendes Programm zur Erforschung der tieferliegenden Strukturen des defizitären Eingliederungsprozesses entwickelt werden kann.
Es ist höchste Zeit, nicht mehr einen oberflächlichen, die wahren Problemdimensionen verschleiernden Dialog zu inszenieren, sondern wissenschaftliche und politische Rahmenbedingungen für einen europäischen Islam zu schaffen, innerhalb derer eine ausreichende Substanz für ein effektiveres Miteinander bei der Basis der muslimischen und nicht muslimischen Bevölkerung gebildet wird. Diesem Desiderat steht der die Praxis beherrschende Minimalanspruch gegenüber, den eher auf Konfrontation statt auf Interessenausgleich ausgerichteten Prozeß als nichthinterfragbare Normalität einer schwerdefinierbaren Migrationsproblematik erscheinen zu lassen; kurzfristig wird u.a. durch Absprachen mit Vertretern des Herkunftslandes von Migranten ein Pseudofrieden demonstriert anstatt weiterführende innovative Dialogkonzepte zu entwerfen, die das Problem an der Wurzel packen, indem man die hiesigen seßhaftgewordenen Muslime als die eigentlichen Ansprechpartner begreift (Hagemann / Albert 1998: 149). So ist es ratsam, sich mit dem Ziel einer Neukonzipierung des Dialogs zunächst der relevanten Einflußfaktoren auf die kognitiven Strukturen der türkisch-sunnitischen Migranten bewußter zu werden sowie eine auf gemeinsame ethische und friedenspolitische Werte bezogene Perspektive zu entwickeln. Im Bewußtsein vieler Politiker und der breiten Bevölkerung bestehen nämlich keine klaren Vorstellungen vom Integrationsprozeß: Während deutscherseits z.T. Integration als Assimilation, Akkulturation bis hin zu Christianisierung verstanden wird, benutzen insbesondere betroffene Muslime sehr ungern den Integrationsbegriff, weil er für sie mit der Aufgabe ihrer kulturellen und religiösen Wurzeln verbunden sein könnte. Sie suchen vielmehr die Gleichberechtigung in gesellschaftlicher, politischer, religiöser und ökonomischer Hinsicht. Die auf den kleinsten gemeinsamen und zugleich wichtigsten Nenner gebrachte und im Terminus »Verfassungspatriotismus« zusammengefaßte Zielvorstellung eines politischen Konsenses ist für viele türkische Sunniten zu abstrakt bzw. zu politikbezogen und gibt ihren Anspruch auf eine eigene Identität zu wenig wieder. Läßt sich dennoch eine für die praxisorientierte Forschung notwendige Formel finden, die sowohl der politischen Kultur einer reifen Demokratie als auch den Bedürfnissen der Muslime entspricht? Mit der Frage nach einer innergesellschaftlichen Kultur des Friedens zwischen Mehrheitsgesellschaft und türkisch-sunnitischen Migranten könnte eine geeignete Formel entwickelt werden. Sie sollte einen realistischen Maßstab für den Dialog setzen und aufgrund ihrer Intention die Möglichkeit bieten, auf methodisch erforderliche Kriterien für eine Analyse der bislang hinter den Symptomen der komplexen Erscheinungsformen verborgenen Ursachen des kränkelnden Integrationsprozesses hinzuweisen. Diese Formel sollte helfen, nach dem bestmöglichen Zustand zu suchen und so Gewaltanwendungen präventiv zu begegnen.
Chancen für eine gemeinsame Formel durch Vermeidung reduktionistischer Planung
Sozialwissenschaftliche Untersuchungen (Esser / Friedrichs 1990) belegen die durchaus vorhandene Anpassungsbereitschaft von praktizierenden Muslimen, die diejenige Handlung wählen, die eine vergleichsweise günstige Nutzenerwartung verspricht. Lernen und Handeln hängen davon ab, ob entsprechende Vorteile im Aufnahmeland vorliegen, ob es Barrieren bzw. konkurrierende Alternativen z.B. seitens des Herkunftslandes gibt. Ausgehend von der prinzipiellen Lernfähigkeit ist der Eingliederungsprozeß deshalb im Kontext aller auf die Lebensverhältnisse und Bewußtseinsstrukturen der Migranten einwirkenden Einflüsse und Hemmnisse zu begreifen. Dazu gehört wesentlich das auf Integrationskonzepte wirkende Theorie-Verständnis der Moderne, das Schwächen offenbart, die Jürgen Habermas (1978: 49) in Auseinandersetzung mit der aristotelischen Sicht des Verhältnisses von Theorie und Praxis im Terminus »Herstellungsdenken« zusammenfaßt. Danach demonstrieren moderne Formen der Konzeptionalisierung latente Interessenleitungen, die ein reduktionistisches Planen zur Folge haben können. Das daraus entstehende Fehlen eines Wechselspiels von Theorie und historisch-politischer Praxis würde letztlich zu einem Mangel an Anpassungsfähigkeit (Staudinger 1987: 3ff) und Realitätsnähe führen. Geprägt von diesem in unterschiedlichen Stufen feststellbaren Planungsdefizit neigen Integrationskonzepte, die sich gelegentlich auf das säkulare Weltbild der Moderne als alleinige normative Größe konzentrieren, dazu, den für den Orient gesellschaftspolitisch sehr wirksamen Faktor Religion (Casanova 1996) nicht hinreichend ernst zu nehmen oder überzubewerten. Dies trübt nicht nur eine realistische Beurteilung der politischen Auswirkungen des Islam, sondern verhindert auch einen selbstkritischen Umgang (Bielefeldt 1998: 29) mit den eigenen Wurzeln, der aber notwendig ist, um keine Überlegenheitsgefühle und Vorurteile bis hin zu Feindbildern (vgl. Heine 1996, Hafez 1996, Hoffmann 1997 und Ruf 1997) zwischen religiösen und nichtreligiösen Menschen, zwischen Muslimen und säkularer Mehrheitsgesellschaft entstehen zu lassen. Zu einer realitätsbezogenen Planung gehört „die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und zur Empathie. Wer sich in die andere Seite hineinversetzen kann ohne Rücksicht darauf, ob er dafür Sympathie oder Antipathie empfindet, trägt dazu bei, Kommunikation an die Stelle von Konfrontation beziehungsweise falscher Harmonie zu setzen. Der von einem politischen Realismus getragene kommunikative Konfliktaustrag hat sowohl die eigene Interessenwahrung im Auge als auch einen Blick für die Interessendefinition des Konfliktpartners„ (Niedhart 1996: 81). Reduktionismus, Interessenleitung und Perzeptionsproblematik treffen aber nicht nur im Kontext der methodischen Selbstkritik, sondern in extremem Maße auch auf die fehlerhafte Adaption westeuropäischer Politikstrukturen durch die türkische Politik seit den 20er Jahren zu.
Die türkische Adaption des Westens und die politische Fremdbestimmung von Migranten
Durch die Überbewertung der kulturellen und religiösen Faktoren (Huntington 1993: 22-49) türkischer Politik wurde auch der Zusammenhang zwischen türkischer Politikgestaltung, islamischen Organisationen in Deutschland und den daraus entstehenden Einflußfaktoren auf Migranten zu gering beurteilt. In Anlehnung an Hans-Gerd Jaschke (1998: 39ff) stellt der politische Fundamentalismus des Herkunftslandes eine wichtige konkurrierende Alternative zur Identifikation mit hiesigen demokratischen Werten dar; dies bedeutet, daß der wesentlich von der kemalistischen Ideologie gestützte türkische Nationalismus eine ebenso zu beachtende negative, polarisierende Wirkung wie der von der ehemaligen Refah-Partei gesteuerte Islamismus ausstrahlt. Beide Facetten prägen gemeinsam die türkische politische Kultur, die erhebliche entwicklungsbedingte Unterschiede zu europäischen Demokratien aufweist. In dieser demokratischen Asymmetrie ist denn auch ein wesentlicher Kernpunkt des Integrationsproblems zu finden: Je verwandter die gelebte politische Kultur (Rittberger 1987: 3ff) ist, um so leichter fällt es, einen politischen Konsens zu erzielen. Ist die politische Beschaffenheit von Aufnahme- und Herkunftsland weit voneinander entfernt, so trägt eine Fremdbestimmung mit dem Ziel, das nationale Interesse des Herkunftslandes zu unterstützen, eher dazu bei, Desintegrationsprozesse zu fördern. Die Integration von türkisch-sunnitischen Migranten und der von gesellschaftlicher Zerrissenheit (Tibi 1998: 18ff) geprägte politische Zustand der Türkei sind letztlich nicht voneinander zu trennen, da man davon ausgehen muß, daß über Generationen der Einfluß der politischen Kultur des Herkunftslandes – sicherlich mit graduellen Unterschieden – Geltung für hiesige Migranten besitzt. Vor diesem Hintergrund ist notwendigerweise nach den Ursachen des inneren Streits um nationalistische wie islamistische Tendenzen in der türkischen Politik zu fragen. Das auslösende Moment der innertürkischen Spannungen scheint ganz wesentlich in der erkenntnistheoretischen Vorgehensweise bei der Republikgründung zu liegen, die man im Gegensatz zu den reformerischen Ansätzen in europäischen Demokratien als extrem sozialtechnisch (Habermas 1978) kritisieren kann. Beim Aufbau der türkischen Republik in den 20er und 30er Jahren erreichte die Anwendung von Gewaltmitteln sicherlich nicht das Ausmaß z.B. der bolschewistischen Revolution, blieb jedoch eine Hinterlassenschaft, welche die heutige Türkei und ihr Verhältnis zu Europa (Steinbach 1996: 95f) noch immer belastet: „Atatürk war in zweifacher Hinsicht Revolutionär. Zum einen verordnete er der türkischen Republik den Laizismus (Säkularismus), also die Trennung von Religion (Islam) und Gesellschaft: sie sollte einen nach Westen ausgerichteten Weg ermöglichen, der zugleich jegliche Einflußnahme der Religion auf die Politik von vornherein verhinderte. Das bedeutete auch, daß der Staat sich nicht wie in anderen Demokratien auf eine neutrale rechtsstaatliche Rahmenordnung beschränkte, sondern sich direkt die Funktion einer Kontrollinstanz über die türkischen Muslime zusprach. (…) Zum anderen setzte er auf den türkischen Nationalismus, der – nach dem Zusammenbruch des osmanischen Vielvölkerstaates – den türkischen Nationalstaat legitimieren sollte. Die Säkularisierung war ein kultureller und politischer Gewaltakt, wie ihn die islamische Welt seither nicht erleben sollte. Die Trennung von Staat und Religion richtete sich nicht nur gegen die osmanische Tradition, die sich jahrhundertelang wesentlich aus dem Islam speiste, sie war auch aus islamischer Sicht fragwürdig…„ (Steinbach 1995: 12f). Diese Herstellung sozio-politischer Strukturen bei der gleichzeitig in der jüngeren türkischen Geschichte ablesbaren politischen Schwerfälligkeit sowie die andauernde tragende politische Stellung des Militärs brachten eine „unveränderbar festgefügte Ideologie„ (Steinbach 1995: 12f) anstatt einer pragmatischen Abfolge von Modernisierungsschritten hervor. Man ahmte den Westen nach, ohne aber die demokratischen Verhaltensnormen zu verinnerlichen (Y.Kemal 1997). Integrationsbemühungen stoßen immer wieder auf dieses Grunddefizit bei Migranten, aber vor allem mit Blick auf die Politik der Türkei selbst, die offenbar darauf abzielt, „die Türken in Deutschland als politischen Vorposten zu mißbrauchen – als Druckmittel gegen türkeikritische Deutsche und als Bollwerk gegen die Islamisten.„ (Der Spiegel 17/1998: 61) Diese Instrumentalisierung von islamischen Organisationen hat Tradition in der Geschichte der türkischen Republik: Bereits unter Ministerpräsident Menderes wurden in den fünfziger Jahren sog. Imam-Hatip-Schulen offiziell wieder eröffnet, und nach dem Militärputsch von 1960 entstand Diyanet, eine Behörde für religiöse Angelegenheiten, die den Zweck verfolgte, den Islam in den Staat einzubinden: „Mit dieser Kontrolle des Islam versucht der Staat radikalen, auf Veränderung des Staatswesens abzielenden islamischen Strömungen entgegenzuwirken. Indirekt gibt sie ihm aber auch die Möglichkeit, den Islam für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Mit ihren rund 84 000 Beamten ist die Religionsbehörde für etwa 72 000 Moscheen in den Städten zuständig, deren Vorbeter und Prediger sie besoldet.„ (Franz 1997: 140) Analog dazu wurde 1982 die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) als Trägerverein von mehr als 600 Moscheen in Deutschland gegründet. Über DITIB schickt die staatliche Behörde Diyanet Imame (Vorbeter), die sowohl als Autoritäten eines Moscheevereins als auch als türkische Staatsbeamte – weisungsgebunden an die jeweiligen Generalkonsule und Religionsattachés vor Ort – über das von der türkischen Staatsdoktrin vorgegebene Verständnis von Religion und Staat wachen und ohne Kenntnisse der hiesigen Sprache und politischen Kultur das jeweilig definierte türkisch-nationale Interesse den Gemeindemitgliedern predigen. Neben dem größten in Deutschland aktiven Verband DITIB besteht noch eine Vielzahl von weiteren regionalen und überregionalen Vereinen, die ebenfalls enge Beziehungen zu ihrem Heimatland pflegen. Den größten Zulauf unter den extremistischen Islam-Gruppen hat die straff organisierte und vom Verfassungsschutz beobachtete Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG). Mehr als ihre Mitgliederzahl (ca.26.500) wiegt die nur schwer schätzbare Zahl der Sympathisanten. Die IGMG ist als verlängerter Arm der früheren türkischen Wohlfahrtspartei nicht nur der wichtigste Vertreter des politischen Islamismus in Deutschland, sondern stellt zugleich die Gefahr dar, daß sie gewissermaßen als „fünfte Kolonne die häufig militant geführte Auseinandersetzung in der türkischen Gesellschaft nach Europa tragen könnte.“ (Hagemann 1996: 103ff) Offizielles Bekenntnis zum Dialog und schroffe Ablehnung westlicher Kultur nach innen können bei diesen Vereinen weit auseinanderklaffen (Spuler-Stegemann 1998: 68). Alles in allem läßt sich sagen, daß „das gesamte Spektrum der türkischen Politik sich auf unserem Staatsgebiet wiederfindet und die Ereignisse in der Türkei auch hier ihr Echo finden. Die massive Präsenz türkischer Medien (…) beschleunigt dieses Echo nicht nur, sondern knüpft die Menschen sehr eng an die Heimat, die sie verlassen haben.“ (Müller 1998: 5) Innertürkische Spannungen erfahren via Moschee- und Kultur-Vereine einen Konfliktexport, der mehr bewirken kann als nur die Behinderung des Integrationsprozesses.
Lösungsmöglichkeiten und Aufgaben der Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft
Aus der politischen Fremdbestimmung türkisch-sunnitischer Migranten resultiert die Aufgabe muslimischerseits, einen eigenen souveränen Weg zu gehen, der nicht den Verlust der Identität, sondern lediglich die Anpassung an die politische Kultur eines nicht-islamischen Landes bedeutet: „Die Muslime müßten sich die Flexibilität, die im Koran, in der Überlieferung des Propheten Muhammad und im Rechtssystem zu finden ist, selbst zunutze machen.(…) Es ist dabei nicht hilfreich, Lösungen, die in den jeweiligen Heimatländern entwickelt wurden und dort ihre Gültigkeit besitzen, unüberarbeitet zu importieren. Es gilt, sich der Aufgabe zu stellen, für die islamische Diaspora ein Modell zu entwerfen, das zu ihrer konkreten Lebenssituation paßt.“ (Hagemann/Khoury 1997, 124) Deutscherseits heißt es, die Demokratiebemühungen von Vertretern der türkischen Politik zu unterstützen, aber auch unabhängige muslimische Organisationen als Ansprechpartner zu suchen, diesen mittels der Gesetzgebung zu helfen und dialogorientierte Glaubens- und Bildungseinrichtungen (Graf 1998: 12f) für Imame und Gläubige zur Herausbildung eines »Euro-Islams« mittelfristig zu schaffen. Wenn dies schrittweise erfolgt, bestehen gute Chancen, daß praktizierende türkische Sunniten und christlich wie säkular geprägte Europäer „sich zusammentun, um ihren je eigenen und ihren gemeinsamen Beitrag zur Lösung der gemeinamen Probleme der Menschen in aller Welt leisten.“ (Hagemann/Khoury 1997, 125)
Literatur
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Dr. Reiner Albert, Historiker und Politologe M.A., Lehrbeauftragter am Seminar für Katholische Theologie der Universität Mannheim, ehemaliger Leiter des Instituts für deutsch-türkische Integrationsforschung an der Sultan Selim Moschee in Mannheim.