W&F 2007/2

Menschenrechte kontra Völkerrecht?

von Alexander Neu

„Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt und das Gesetz, das befreit.“ (Jean Jacques Rousseau; Du Contrat Social)

Diese Aussage Rousseaus’ beschreibt in Kürze Sinn und Zweck von Gesetzen im humanistischen Sinne: Die Aufhebung des freiheitlichen Naturzustandes zu Gunsten einer Rechtsordnung vermittelt und garantiert durch den Staat, um den Schwachen vor dem Starken in seiner Würde und Freiheit zu schützen. Im Zentrum eines humanistischen Rechtsverständnisses steht der Wert der menschlichen Würde. Diese Würde gilt es, durch unbedingt gültige Rechte, die Menschenrechte, zu schützen.

Der Titel dieser Ausgabe »Völkerrecht und Menschenrechte«, suggeriert eine Addition zweier völlig unterschiedlicher Rechtssysteme. Dabei handelt es sich in der Tat nicht um eine Addition, da die Menschenrechte ein Bestandteil – vielleicht sogar eine Quelle – des innerstaatlichen sowie des Völkerrechts darstellen, sofern man die Prämisse teilt, dass der Mensch und seine Würde im Zentrum des innerstaatlichen, aber auch des Völkerrechts stehen: Denn Krieg, den das moderne Völkerrecht verhindern soll, ist die größte Menschenrechtsverletzung überhaupt. Mit anderen Worten: Wer Menschenrechte schützen will, muss den Krieg ächten.

Leider ist seit geraumer Zeit ein politischer Prozess zu beobachten, der darauf abzielt, die Menschenrechte instrumentell gegen das Völkerrecht auszuspielen, um das seit 1945 geltende universelle Völkerrecht der Vereinten Nationen zu durchlöchern. Aus „nie wieder Ausschwitz, nie wieder Krieg“ wurde bekannterweise im Kontext des NATO-Angriffskrieges gegen Jugoslawien, „um Auschwitz zu verhindern müssen wir Krieg führen“.

Forderungen nach einer »Weiterentwicklung des Völkerrechts«, das Konzept der »Responsibility to protect« etc., zielen darauf ab, die bereits im 19. Jahrhunderts durch Missbrauch diskreditierte »Humanitäre Intervention« wieder salonfähig zu machen und das auf Friedenspflicht angelegte universelle Völkerrecht sturmreif zu schießen.

Ist es glaubwürdig,

– wenn sich ausgerechnet Nationen, die als Kolonialmächte agierten, deren Folgen noch heute spürbar sind,

– oder Nationen, die dem Faschismus und Nationalsozialismus huldigten, dessen Folgen ebenfalls noch spürbar sind,

– wenn Nationen, die heute große Teile der Welt ökonomisch ausbeuten und zur Sicherheit ihres Wohlstandes auch bereit sind Militär einzusetzen,

sich so ganz »uneigennützig« als humanitäre Interventionisten – gleichsam als militärischer Arm von Amnesty International – empfehlen.

Ist die »Responsibility to Protect-Doktrin«, die laut Bundeswehr-Weißbuch „als Reaktion auf die Intervention im Kosovo“ entstanden ist, nicht bereits deshalb desavouiert, weil sie »als Reaktion« auf die unwahren Begründungen (angeblich drohender oder stattfindender Völkermord) für den NATO-Krieg 1999 entwickelt wurde. Kommt hinzu, dass die für diese Doktrin verantwortliche Kommission – die »International Commission on Intervention and State Sovereignty« – auf Veranlassung der kanadischen Regierung mit Unterstützung US-amerikanischer Stiftungen und Think Tanks (u.a. Carnegie Corporation und Rockefeller Foundation ) gegründet wurde.

Die Kommission ist zwar paritätisch aus westlichen und nicht-westlichen Vertretern zusammengesetzt, da sagt aber nichts über mögliche Abhängigkeitsverhältnisse oder ideologische Nähe. Auch ist es eine alte Weissheit, dass der Auftraggeber einer Studie in der Regel auch das Ergebnis vorgibt und die auszuarbeitende Kommission lediglich Methode und Argumente bereitzustellen hat. Mit Blick auf die Kommissionsmitglieder ist interessant, unter ihnen den zu Zeiten des NATO-Krieges gegen Jugoslawien amtierenden Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses Klaus Naumann zu finden – sicher ist sicher, wenn es um die Generierung einer neuen Interventionsideologie geht.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Es kann sehr wohl Situationen geben, in denen Nothilfe erforderlich ist, um einen Genozid zu verhindern bzw. zu stoppen (siehe Ruanda 1994). Die Verantwortung zum Schutz von Menschen muss im Zweifelsfall eine übernationale Verantwortung sein. Zugleich muss aber die Gefahr des Missbrauchs eines solchen Ansatzes minimiert werden. Die einzige und legitime Institution, die das gewährleisten kann, sind die Vereinten Nationen, auch wenn der jetzige Zustand der Weltorganisation sie dafür nur unzureichend legitimiert. Eine Demokratisierung der Vereinten Nationen und der Ausbau ihrer Befugnisse sind notwendig, damit nicht eine Hand voll mächtiger Staaten bestimmt, wann unter dem Vorwand »humanitär« militärisch interveniert wird.

Ein Ausbau der internationaler Institutionen und des internationalen Rechtssystems ist notwendig, um zu verhindern, dass Menschenrechte und Völkerrecht gegeneinander ausgespielt werden. Sie sind unter humanistischen Gesichtspunkten eine Einheit und müssen dies auch bleiben.

Ihr Alexander Neu

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2007/2 Menschenrechte kontra Völkerrecht?, Seite