W&F 2005/2

Menschenrechte und Konfliktprävention

Zur Diskussion um die UN-Reform

von Silke Voß-Kyeck

Die Erwartungen waren gemischt, die Reaktionen sind größtenteils positiv, die Umsetzung wird möglicherweise sehr ernüchternd sein. Als Kofi Annan vor zwei Jahren 16 ausgewählte Experten beauftragte, globale Sicherheitsbedrohungen zu analysieren und notwendige kollektive Maßnahmen zu empfehlen, waren viele Beobachter skeptisch, ob dieses Gremium unterschiedlichster altgedienter Persönlichkeiten tatsächlich visionäre und gleichermaßen realistische Vorschläge für den Reformprozess der Vereinten Nationen unterbreiten würde.1 Im Rückblick auf die vergangenen Jahre und in Anbetracht der Angriffe auf die UN und das Völkerrecht im Kontext des Irak-Krieges und der neuen Sicherheitsstrategie der US-Regierung – und damit einer drohenden Rückentwicklung zum »Faustrecht« in den internationalen Beziehungen – war diese Skepsis sicherlich berechtigt. Im Dezember 2004 hat jedoch die Expertengruppe unter dem Titel »Eine sicherere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung« eine umfassende und mitunter beängstigende Analyse der seit den Gründungsjahren der UN tief greifend veränderten Welt und größtenteils sehr differenzierte Handlungsempfehlungen vorgelegt. Das Ziel ist eindeutig, die beschädigte Autorität der Vereinten Nationen wiederherzustellen, um den Herausforderungen auf kollektiver Grundlage effektiv begegnen zu können. Das schließt Kritik zu manchen Details nicht aus, sondern ein.

Folgt man den bisherigen Stellungnahmen der Bundesregierung und ihrer diplomatisch-politischen Kampagne für einen deutschen Sitz im Sicherheitsrat, könnte man meinen, die Reform dieses zweifellos anachronistischen Gremiums sei der zentrale Aspekt des Expertenberichts. Diese verkürzte Sicht ist jedoch weder klug noch gerechtfertigt, zumal gerade dies der einzige Punkt ist, bei dem kein Konsens für die Empfehlungen gefunden wurde und die Sicherheitsratserweiterung nur ein Puzzlestein in einem weit größeren Bild ist.

Auch die isolierte Auseinandersetzung mit den Kriterien für die Legalität und Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt wird dem Bericht nicht gerecht, zeigt er doch Lösungsansätze auf, damit es zum Äußersten nicht kommen muss. Das Potenzial der Konfliktprävention und die Bedeutung des Menschenrechtsschutzes für eine »sicherere Welt« bleiben in der Debatte des Expertenberichts bisher völlig unterbewertet und verlangen deshalb eine besonders sorgfältige und kritische Erörterung.

Kollektive Unsicherheit durch grenzüberschreitende Bedrohungen

Ausgangspunkt aller Überlegungen ist ein Begriff von kollektiver Sicherheit, der über die Sicherheit von Staaten hinausgeht und auf drei Grundaussagen beruht:

  • die heutigen Bedrohungen überschreiten nationale Grenzen,
  • kein Staat kann sich alleine schützen und
  • nicht jeder Staat ist stets willens und fähig, seine eigene Bevölkerung zu schützen.

Ein Konsens über die heutigen Bedrohungen wird als Vorbedingung für die Herstellung kollektiver Sicherheit gesehen – und mit der unterschiedlichen Wichtigkeit, die Bedrohungen bislang zugemessen wurde, werden die bisherige Inkonsistenz und Selektivität multilateralen Handelns erklärt.

An erste Stelle setzt der Bericht die wirtschaftlichen und sozialen Bedrohungen durch Armut, Infektionskrankheiten und Umweltzerstörungen, und somit wird auch Entwicklung als erste aller Präventivmaßnahmen zur unabdingbaren Grundlage kollektiver Sicherheit. Dazu kommen zwischen- und innerstaatliche Konflikte, nukleare, radiologische, chemische und biologische Waffen, Terrorismus und grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. Die Interdependenz dieser Bedrohungen bestärkt die Notwendigkeit eines neuen Sicherheitsverständnisses zusätzlich.

An der Berechtigung dieser Bedrohungsszenarien kann kaum ein Zweifel bestehen. Ergänzt man aber über die Entwicklungsfrage hinaus das Prinzip kollektiver Sicherheit explizit um die Perspektive »menschlicherSicherheit«, stellt sich die Frage, wie vollständig die Bedrohungsanalyse tatsächlich ist. Denn die Sicherheit von Millionen Menschen weltweit, und Frauen und Mädchen in besonderer Weise, ist durch Verletzungen ihrer elementaren Rechte ganz konkret alltäglich bedroht. Nicht nur delegitimieren systematische Menschenrechtsverletzungen die verantwortlichen Staaten als Elemente des internationalen Systems. Die Gewährleistung aller Menschenrechte für alle Menschen ist das absolut notwendige Minimum, um die Sicherheit und Integrität von Individuen vor Machtmissbrauch zu schützen. Die Menschenrechte sind keine Gefälligkeitsleistungen der Regierungen. Ohne den Schutz des Rechtsstaates, inklusive Mechanismen zur Rechenschaftspflicht, können »Terrorismus-Verdächtige«, GewerkschafterInnen oder AktivistInnen für Zugang zu sauberem Wasser gleichermaßen Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen werden, wie geheime Festnahme, Verhaftung ohne Vorwürfe und Verfahren, Folter und Verschwindenlassen. Die Herausforderung für die Staaten besteht darin, die Sicherheit der Bürger nicht auf Kosten der Menschenrechte verbessern zu wollen, sondern sicherzustellen, dass alle Menschen in den Genuss des gesamten Spektrums ihrer elementaren Rechte gelangen. Wirkliche individuelle wie auch kollektive Sicherheit entsteht erst, wenn Menschenrechte respektiert und geachtet werden.

Umso wichtiger ist es, hervorzuheben, dass der Bericht eine ganze Reihe wichtiger Empfehlungen enthält, die in der Diskussion nicht untergehen sollten. Allem voran steht hier der unmissverständliche Hinweis auf den „klaren Widerspruch“ (290)2 zwischen nur 2 Prozent der Haushaltsmittel für das Hochkommissariat für Menschenrechte und der Charta-Verpflichtung, Menschenrechtsschutz zu einem Hauptziel der UN zu machen. Weniger eine Frage der Kosten als des politischen Willens wäre die sofort umsetzbare Empfehlung, die Hochkommissarin für Menschenrechte regelmäßiger in Debatten des Sicherheitsrates einzubeziehen. Das Hochkommissariat kann nicht nur für die Mandatierung von Friedenseinsätzen, sondern generell für länderspezifische Debatten, Frühwarnung und die Umsetzung menschenrechtsrelevanter Bestimmungen der Sicherheitsratsresolutionen einen unschätzbaren Beitrag leisten. Der vorgeschlagene Jahresbericht des Hochkommissariats über die Menschenrechtslage in »allen« UN-Staaten könnte sowohl zur Entpolitisierung der Debatte in der Menschenrechtskommission beitragen als auch der Arbeit der Sonderberichterstatter und Vertragsorgane deutlich mehr Gewicht verleihen. Dies allerdings führt wieder zurück auf die bisher völlig unzureichenden Ressourcen des Hochkommissariats und den notwendigen politischen Willen, dieses Amt zu stärken.

Herausforderungen für die Gewährleistung kollektiver Sicherheit

Die Schwäche in der Bedrohungsanalyse trägt mit dazu bei, dass die Notwendigkeiten und insbesondere Möglichkeiten für Menschenrechtsschutz und Konfliktprävention, die der Bericht teils ausdrücklich, teils erst auf den zweiten Blick offeriert, in der Diskussion des Berichts deutlich unterbelichtet bleiben und hier beträchtliches Potenzial zu versickern droht.

Eher beiläufig verweist der Bericht beispielsweise auf die Notwendigkeit, Frauen angesichts der massenhaften Anwendung sexueller Gewalt in Konflikten besonders zu schützen, oder in Friedensverhandlungen und -prozesse stärker einzubinden. Dies wird der Bedeutung, die Frauen bei der Verhütung und Beilegung von Konflikten und bei der dauerhaften Friedenskonsolidierung (und damit auch kollektiver Sicherheit im Sinne des Berichts) spielen können, nicht gerecht. Die Empfehlungen der vom Sicherheitsrat schon im Jahr 2000 beschlossenen Resolution 1325, deren Umsetzung die Expertengruppe en passant befürwortet, sehen dementsprechend vor, dass Frauen auf allen nationalen, regionalen und internationalen Entscheidungsebenen der Prävention, Konfliktbeilegung und Friedenskonsolidierung verstärkt eingebunden werden und eine Gender-Perspektive in allen Prozessen der Friedenssicherung systematisch integriert und implementiert wird.

Deutlicher ist der Bericht hingegen in seiner Forderung nach rechtsverbindlichen Vereinbarungen zur Kennzeichnung, Rückverfolgung, Vermittlung und zum Transfer von Kleinwaffen und leichten Waffen. Weltweit werden jedes Jahr eine halbe Million Menschen durch Waffengewalt getötet – ein Mensch pro Minute. Regierungen, die lautstark vor der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen warnen, tragen gleichzeitig durch den hemmungslosen Transfer von konventionellen Waffen, darunter Kleinwaffen, zur Eskalation von Konflikten rund um den Erdball bei. Für eine effektive Krisenprävention ist die verbindliche Kontrolle von Klein- und Leichtwaffen – die als echte Massenvernichtungswaffen angesehen werden müssen – eine absolut notwendige Voraussetzung. Umso wünschenswerter wäre es, dass sich die Bundesregierung auch diese Empfehlung des Berichts zu Eigen macht und sich der Unterstützung für ein rechtlich verbindliches internationales Rüstungskontrollabkommen anschließt. Nur einheitliche Standards für den Waffenhandel und das Verbot aller Exporte, die zur Verletzung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts beitragen, können zu einer globalen Lösung für ein globales Problem führen.

Dass die Experten sich auf eine Definition des Terrorismus-Begriffs einigen konnten, ist nicht nur von Kofi Annan ausdrücklich begrüßt worden. Der präventive Aspekt einer eindeutigen Definition wird allerdings bisher wenig reflektiert. Eine solche Definition würde es vielen Staaten schwerer machen, Menschenrechtsverletzungen als notwendiges Mittel bei der »Terrorismusbekämpfung« zu rechtfertigen. Und sie ist eine Voraussetzung für eine umfassende, an den Ursachen ansetzende Strategie, die zugleich in einen strikten menschenrechtlichen Rahmen eingebunden sein muss.

Weitaus offensiver ist der Bericht in seiner Analyse der Defizite der UN bei der Prävention von zwischen- und innerstaatlicher Konflikten und entsprechenden Lösungsvorschlägen. Die Bedeutung präventiver Diplomatie und professioneller Vermittlung ist unbestritten, sie verlangt jedoch nach ausreichenden Kapazitäten und kompetenter Ausbildung, was bisher durch die „bewusst unzureichende Mittelausstattung“ (102) durch die Mitgliedstaaten verhindert wird. Aus menschenrechtlicher Perspektive besonders zu betonen ist die herausgehobene Rolle der Rechtsstaatlichkeit und entsprechender Unterstützung beim Kapazitätsaufbau in den Staaten. Insbesondere für Nachkonfliktsituationen macht der Bericht sehr deutlich, dass die Herstellung „ziviler Sicherheit durch Polizei-, Justiz- und Rechtsstaatsreform (und der) Aufbau örtlicher Kapazitäten für Menschenrechte und Aussöhnung“ (229) von außerordentlicher Bedeutung für die Realisierung von Menschenrechten und die langfristige Friedenskonsolidierung sind.

Vor diesem Hintergrund und angesichts einer institutionellen Lücke bei der Verhinderung des Wiederaufflammens einmal beigelegter Konflikte stellt die Forderung, eine „Kommission für Friedenskonsolidierung“ einzurichten, die zentrale Empfehlung der Experten dar. Unter der Voraussetzung, dass hier tatsächlich eine Koordinationsfunktion und nicht nur eine neue Ebene politischer Bürokratie etabliert wird, und dass auch die Hochkommissarin für Menschenrechte ausdrücklich einbezogen wird, verdient dieser Vorschlag zweifellos weitere Diskussionen. Über den institutionellen Fragen sollten jedoch die politisch und finanziell weniger bequemen Empfehlungen – neben den genannten Rechtsstaatsinvestitionen auch Ressourcen für Entwaffnungs- und Demobilisierungsprogramme, Wiedereingliederung und Rehabilitation – nicht vernachlässigt werden.

Den Finger in die Wunde legen die Experten schließlich auch mit ihrer Kritik an der bisherigen Sanktionspraxis des Sicherheitsrates. Je öfter in den letzten Jahren auf dieses Mittel zurückgegriffen wurde, umso deutlicher wurden die Unzulänglichkeiten vor allem in der Umsetzung: selektiv verhängt, nicht zielgenau eingesetzt und weder konsequent umgesetzt noch überwacht. Viel eher als einen Willen zur Prävention von Konflikten belegt diese Praxis die politischen und ökonomischen Partikularinteressen der Sicherheitsratsmitglieder. Nur ein aktuelles Beispiel: Während in der Elfenbeinküste, bedingt durch spezielle Interessen eines einzelnen Mitglieds, ein effektives Sanktionsregime mit allen notwendigen Überwachungsressourcen implementiert werden kann, wird im Sudan auf Intervention einer Vetomacht einer der Hauptverantwortlichen für schwerste Menschenrechtsverletzungen gezielt vom Waffenembargo ausgenommen. Diese Praxis hat der Legitimität von Sanktionen erheblich geschadet. Die daraus folgenden Empfehlungen der Expertengruppe sind ebenso nahe liegend wie eindringlich: routinemäßige Überwachungsmechanismen mit der erforderlichen Autorität und Ermittlungskompetenz, ausreichende Analysekapazitäten für die gezielte Ausrichtung, Sekundärsanktionen für Sanktionsbrecher und regelmäßige Bewertung der humanitären Auswirkungen von Sanktionen. Allein schon mit der konsequenten Umsetzung dieser Empfehlungen hätte der Sicherheitsrat nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen zur Hand, die den Einsatz von Gewalt als »ultima ratio« Lügen strafen.

Die Gewaltfrage

Stellung zu beziehen zu der Frage, wann die Anwendung von Gewalt sowohl rechtmäßig als auch legitim ist, war mit Blick auf die jüngsten militärischen Interventionen wie auch auf die Bestimmung des Souveränitätsbegriffs zweifellos eine große Herausforderung an das Panel. Die Expertengruppe macht sich hier ganz deutlich das Souveränitätskonzept zu Eigen, das 2001 von der »International Commission on Intervention and State Sovereignty« (ICISS) formuliert wurde und Souveränität nicht nur als Abwehrrecht gegen Einmischung von außen definiert, sondern auch als Pflicht eines Staates, seine Bevölkerung zu schützen („responsibility to protect“).3 Mit dem Bezug auf diese „sich herausbildende Norm“ (203) einer kollektiven internationalen Schutzverantwortung und dem Rückverweis auf die Bedrohungsanalyse ist es letztlich folgerichtig, dass selbst präventive kollektive Gewalt von den Experten nicht grundsätzlich ausgeschlossen wird. Die normativen Grenzen werden jedoch eindeutig gesteckt: Weder eine Neufassung des Gewaltverbots in Art. 51 der Charta noch eine Neufassung des mit Kapitel VII gewährten Handlungsspielraumes wird für notwendig erachtet. Und ebenso deutlich wird der Sicherheitsrat als einzige Quelle der Autorität akzeptiert. Hier kommt die »Weisheit« der Experten tatsächlich zum Ausdruck: Jeder Vorschlag zur Änderung der Charta im Hinblick auf das Gewaltverbot und kollektive militärische Zwangsmaßnahmen hätte die Büchse der Pandora geöffnet und mit großer Wahrscheinlichkeit der noch verbliebenen Autorität des Sicherheitsrates den Todesstoß versetzt. Sie taten also gut daran, unmissverständlich den mit Art. 51 und Kapitel VII bestimmten völkerrechtlichen Rahmen zu bekräftigen.

Angesichts der Entwicklungen der letzten Jahre konnte das Panel aber zugleich Antworten auf die Legitimitätsfragen nicht verweigern. Inkonsistent, ineffizient, oft zu spät, zu zögerlich oder überhaupt nicht – so die schonungslose Analyse des bisherigen Handelns des Sicherheitsrates in Fällen so genannter humanitärer Interventionen. Somit ging es den Experten nicht darum, „Alternativen zum Sicherheitsrat als Quelle der Autorität zu finden“, sondern darum, „dafür zu sorgen, dass er besser funktioniert als bisher“ (198), und darum, dass seine folgenreichen Resolutionen „besser getroffen, besser begründet und besser kommuniziert werden“ (205). Möglich werden soll dies durch die Festlegung auf fünf Legitimitätskriterien, die ebenso wie der Souveränitätsbegriff eng den Vorgaben der ICISS angelehnt sind:

  • der Ernst der Bedrohung,
  • die Redlichkeit der Motive,
  • die Anwendung als letztes Mittel,
  • die Verhältnismäßigkeit der Mittel und
  • die Angemessenheit der Folgen.

Obwohl diese der Theorie des »bellum iustum« folgenden Kriterien weder falsch noch neu sind, bleiben dennoch ernstzunehmende Zweifel, ob damit sowohl notwendige als auch hinreichende Bedingungen etabliert werden können. So fehlt beispielsweise die explizite Verpflichtung auf Einhaltung des humanitären Völkerrechts bei allen Zwangsmaßnahmen. Und bei der Schwere der Bedrohung bleibt unbegründet, warum hier nicht bereits den im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs völkerrechtlich kodifizierten Standards (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen) gefolgt wird.

Eine wichtige Schlussfolgerung in Bezug auf diese Maßstäbe bleibt der Bericht ohne Zweifel schuldig – dass keine der Interventionen der letzten fünfzehn Jahre den Kriterien standgehalten hätten. Allein diese Erkenntnis macht in dieser Frage einen Konsens der Staatengemeinschaft höchst unwahrscheinlich.

Perspektiven

Auch wenn die Analyse sehr differenziert ist und die Experten versuchen, dort, wo bisher breiter Interpretationsspielraum bestand, engere Grenzen zu ziehen – insbesondere bei der Legitimierung militärischer Gewalt, der Verhängung von Sanktionen und der Definition von Terrorismus –, sind die Inhalte des Berichts weder neu noch revolutionär. Dies spricht allerdings eher für den Realitätssinn der Experten; denn alles andere wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Entscheidend ist die in jeder Hinsicht berechtigte Eindringlichkeit, mit der auf den notwendigen Wandel verwiesen wird.

So ist es aus menschenrechtlicher Perspektive sehr zu wünschen, dass die Halbwertzeit des Berichts über das Gipfeltreffen im Herbst 2005 hinausreicht. Auch Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaft müssen dazu beitragen und sich nachdrücklich äußern. Viele der Empfehlungen ließen sich unmittelbar umsetzen, andere bedürfen eines förmlichen Beschlusses durch die Generalversammlung. Die »Vereinten Nationen« stehen aber sowohl für die Organisation als solche wie auch für die »Gemeinschaft« von 191 Staaten mit höchst unterschiedlichen Bedrohungsperzeptionen, Kapazitäten und ökonomischen Interessen. Es wäre illusorisch zu hoffen, dass tatsächlich von einer breiten Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten der politische Wille aufgebracht wird, sich umfassend an die Expertenempfehlungen zu binden. Die Panelmitglieder selber lassen keinen Zweifel, wovon die kollektive Sicherheit abhängen wird: „Die … Reformen werden für sich allein genommen die Vereinten Nationen nicht wirksamer machen. … Ihre Institutionen werden nur so stark sein wie die Energie, die Ressourcen und die Aufmerksamkeit, die die Mitgliedstaaten und deren Führer auf sie verwenden“.4

Die Bundesregierung täte gut daran, schnellstmöglich über den Tellerrand ihres Strebens nach einem Sicherheitsratssitz hinauszuschauen und auch die anderen Aspekte der Expertenempfehlungen ebenso energisch voranzutreiben. Dabei hätte sie durchaus Referenzen einzubringen – etwa die deutlich ausgebauten zivilen Krisenpräventionskapazitäten und zumindest theoretisch neue Ansätze der Entwicklungspolitik. Sonst droht mit provinzieller Kurzsichtigkeit die Chance vertan zu werden, wirklich etwas für eine sicherere Welt beizutragen.

Anmerkungen

1) Den Vorsitz der »Hochrangigen Expertengruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel« hatte Anand Panyarachun (ehem. Premierminister Thailands). Die weiteren Mitglieder: Robert Badinter, Joao Clemente Baena Soares, Gro Harlem Brundtland, Mary Chinery-Hesse, Gareth Evans, David Hannay, Enrique Iglesias, Amre Moussa, Satish Nambiar, Sadako Ogata, Jewgenij Primakow, Qian Qichen, Nafis Sadik, Salim Ahmed Salim, Brent Scowcroft.

2) Die Ziffern verweisen auf die nummerierten Absätze des Berichts.

3) Der entsprechende Kommissionsbericht ist verfügbar unter: http://www.iciss.ca [01.03.05]

4) Zusammenfassung des Berichts.

Dr. Silke Voß-Kyeck, Politologin, ist Fachreferentin für Lobbyarbeit im Generalsekretariat der deutschen Sektion von amnesty international und koordiniert u.a. die Arbeit der Sektion zu internationalen Organisationen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2005/2 De-Eskalation, Seite