Militarisierung im Nahen Osten
Dynamiken und Perspektiven
von Jari Bertolini, Paul Rohleder, Jan Reich und Markus Bayer
Der jüngste Krieg Israels im Gazastreifen bringt die zentralen Regionalmächte des Nahen Ostens zunehmend auf direkten militärischen Konfrontationskurs. Er ist jedoch nur eine spezielle Manifestation diverser, seit langem ausgetragener Kämpfe um Einfluss in der Region, welche die Militarisierung der Region vorantreiben. Zentrale Akteure darin sind Iran, Israel, Saudi-Arabien und die Türkei, die jeweils eigene Ziele anstreben. Angesichts der derzeitigen Eskalationen versucht dieser Beitrag zu prognostizieren, wie sich die Militarisierung der Region wahrscheinlich weiterentwickeln wird.
Lange Zeit beschränkte sich der Konflikt zwischen den beiden zentralen Antagonisten Iran und Israel auf indirekte Formen des Konfliktaustrages – beispielsweise durch die Förderung staatlichen Terrorismus, die Unterstützung von Proxies und Vergeltungsschläge auf Führungspersönlichkeiten dieser bzw. der Revolutionsgarden (Khan und Zhaoying 2020). Seit dem 7. Oktober 2023, spätestens seit der Ausweitung der israelischen Offensive gegen die Hezbollah im Libanon und den direkten Schlagabtausch zwischen Israel und Iran, scheint die Region an einer kritischen Wegscheide zu einem flächendeckenden Krieg zu sein. Auch die Türkei, deren Außenpolitik bereits seit mehreren Jahren vermehrt von militärischer Interventionsbereitschaft geprägt ist (Kutlay und Öniş 2021), nutzte die Lage zur – zumindest rhetorischen – Eskalation gegenüber Israel. Zugleich verfolgen die Türkei und Iran in Syrien und Irak einander entgegengesetzte Ziele: Während Iran versucht, das Regime Assads zu stützen, etablierte die Türkei in den letzten Jahren militärisch de facto eine Kontroll- bzw. Interessensphäre in Nordsyrien (Afrin) und zielte dabei auf einen Regimewandel (Azizi und Çevik 2022). Der seit 2015 von einer Koalition um Saudi-Arabien geführte Jemen-Krieg sollte als ein Ausdruck eines zunehmend militärisch ausgetragenen Ringens zwischen dem schiitisch dominierten Iran und dem sunnitischen Saudi-Arabien um die Führungsrolle unter den muslimischen Nationen verstanden werden (Mirza et al. 2021).
Neben diesen regionalen und internationalen Interessen und Konfliktdynamiken spielen auch interne Dynamiken eine Rolle für die Militarisierung der Region und der beschriebenen Regime. So wächst in vielen dieser Länder auch der politische Einfluss militärischer Akteure. Die Einschätzung des Grades der Militarisierung erlaubt es nicht nur – über die Zuweisung von gesellschaftlichen Ressourcen zum Militär – die Prioritäten der politischen Eliten zu erfassen, sondern auch Rüstungsdynamiken und Eskalationspotenziale in bestimmten Regionen einzuschätzen.
Militarisierung und Militarismus im Nahen Osten
Mit der Etablierung des staatlichen Militärs im Laufe des 19. Jahrhundert wurde eine mehr oder weniger formelle Trennung zwischen Zivilist*innen und Militärs etabliert; die Grundlage sogenannter zivil-militärischer Beziehungen. Eine Extremform dieser Beziehungen bildet der Militarismus, welcher als Dominanz des Militärs und militärisch-kriegerischer Denkkategorien in Staat und Gesellschaft verstanden werden kann (von Bredow 2007). Militarisierung kann nun als Prozess hin zu dieser Extremform verstanden werden, der sich entlang von drei Dimensionen erstreckt: Dem Maß der Ausstattung und Finanzierung der Streitkräfte (materielle Dimension), des gesellschaftlichen und des politischen Einflusses (soziale und politische Dimensionen) (Bayer et al. 2023). Alle drei Dimensionen werden mit als Treiber militärischer Konflikte angesehen: Erstere, weil sie über Ressourcenzuweisung zum Militär Einblicke in Prioritäten und Bedrohungswahrnehmungen von politischen Entscheidungsträger*innen erlaubt, zweitere, weil ein gesteigerter politischer Einfluss des Militärs meist mit einer größeren Neigung zu militärischer Konfliktaustragung assoziiert1 wird, und letztere, weil die sie Auskunft über eine Verbreitung und Akzeptanz militärischer Werte und Mittel gibt.
Trotz dieser Dreidimensionalität fokussieren existierende Messinstrumente bisher nur auf einzelne Bereiche. Der hier herangezogene Globale Militarisierungsindex (GMI) des bicc nimmt den materiellen Militarisierungsgrad anhand der staatlichen Ressourcenzuweisung (Ausgaben, Personal und schwere Waffen) in den Blick, setzt diese allerdings in ein Verhältnis zur Bevölkerungsgröße und sozialen Ressourcen wie Gesundheitsausgaben (von Boemcken et al. 2023) und berechnet darauf basierend jährlich ein globales Ranking. In Ermangelung anderer Daten nutzen wir den GMI, um die materielle Dimension der Militarisierung der Region des »Nahen Ostens« zu erfassen, und ergänzen, wenn möglich, Informationen zur gesellschaftlichen und politischen Militarisierung.
Die Region – als koloniales Konstrukt ursprünglich über die halbe Wegstrecke von Großbritannien nach Indien definiert (Tibi 1998) – ist nicht einfach zu umreißen. Wir nutzen den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Definitionen, der die Region südlich des Kaukasus (ausschließlich Armenien, Aserbaidschan und Georgien), die arabische Halbinsel sowie Iran, die Türkei und Ägypten umfasst (Culcasi 2010). Die Region ist von unterschiedlichsten Konflikten geprägt, von denen das Gros auf die Zeit nach 1945 zurückgeht. Die Gründung Israels und die damit verbundene Verdrängung der Palästinenser*innen in die verbleibenden Siedlungsgebiete im Gazastreifen und Westjordanland, war nicht nur Auslöser eines direkten Krieges zwischen dem neu gegründeten Staat und seinen Nachbarstaaten sowie Irak – sondern auch ein Anfangspunkt des globalen geopolitischen Ringens um Einfluss sowie religiöse und ideologische Vormachtstellung in der Nachkriegsordnung. So gelten Ägypten, Israel und Saudi-Arabien zu den wichtigsten Verbündeten der USA in der Region, während Iran eine stark antiamerikanische Position einnimmt und immer enger mit Russland kooperiert. Das (sunnitische) Saudi-Arabien befindet sich zudem seither formell im Kriegszustand mit Israel und der (schiitische) Iran gilt sowohl als Erzfeind Saudi-Arabiens als auch Israels. Alle Parteien unterstützen daher entsprechend auch unterschiedliche Gewaltakteure in der Region.
Die Daten des GMI zeigen: Der Nahe Osten ist eine sehr hoch militarisierte Region (vgl. Abb. 1). Im jüngsten Ranking des bicc belegten acht der zwölf Staaten Plätze unter den Top-15 weltweit. Insgesamt 2,2 Millionen Soldat*innen stehen hier unter Waffen. Der regionale Schnitt von Soldat*innen pro 10.000 Einwohner*innen (74) ist doppelt so hoch wie der globale (35); die Zahl der schweren Waffen pro 1.000 Soldat*innen mit 40 ebenso fast doppelt so hoch (23).
Abb. 1: Militarisierung im Nahen Osten
Diese Militarisierung wird wesentlich von außen getrieben. Nur wenige Länder der Region verfügen über eine nennenswerte Rüstungsindustrie. Wesentliche Anteile am internationalen Waffenhandel entfallen bislang auf nur zwei Länder: Israel und die Türkei. Beide Länder verfügen über drei bzw. vier der 100 größten Rüstungsunternehmen weltweit und über leistungsfähige Rüstungsindustrien. Iran ist aufgrund von Embargos seit Jahren bemüht, die eigene Rüstungsindustrie auszubauen, die im Regionalvergleich inzwischen als gut entwickelt gilt, jedoch überwiegend eigene Bedarfe deckt. Auch Saudi-Arabien investiert zunehmend in eigene Rüstungsunternehmen und möchte die Abhängigkeit von externen Partnern reduzieren.
* Daten von SIPRI aus den Jahren 2022 & 2023. Werte in sog. Trend Indicator Values (TIV), einer hypothetischen Einheit, welche den militärischen Wert von Waffensystemen abbildet. Weitere Informationen unter: https://sipri.org/databases/armstransfersAbb. 2: Rüstungsimporteure der Region
Aufgrund geringer rüstungsindustrieller Kapazitäten ist der Nahe Osten eine der größten Empfängerregionen weltweit: In den Jahren 2022 und 2023 wurde knapp ein Drittel aller weltweit gehandelten Großwaffensysteme2 in die Region geliefert (SIPRI 2024). Wie Abb. 2 zeigt, waren Katar (27 %), Saudi-Arabien (24 %) und Kuwait (14 %) hier die größten Empfängerländer. Größter Lieferant war bei weitem die USA (Abb. 3), aber auch Russland, Frankreich, Italien, das Vereinige Königreich und Deutschland waren wichtige Lieferanten.
* Daten von SIPRI aus den Jahren 2022 und 2023. Weitere Informationen unter: https://sipri.org/databases/armstransfersAbb. 3: Wichtigste Rüstungslieferanten der Region
Vier zentrale Mächte der Region
Wie aber drückt sich nun die Militarisierung in jedem der für die Konfliktdynamiken zentralen Staaten konkret aus und welche Konsequenzen zeitigt sie? Die bis 1990 zurückreichenden Daten des GMI zeigen, dass Israel und Saudi-Arabien in diesem Zeitraum kontinuierlich hoch militarisiert waren und stets zu den drei bzw. zwölf vom GMI abgebildeten, am höchsten militarisierten Ländern gehörten. Im Vergleich zeigt Iran eine stetig zunehmende, wenn auch nicht gradlinige Militarisierung (von Rang 73 im Jahr 1993 auf Rang 28 in 2022). Die Türkei – heute immer noch stark militarisiert – verzeichnete in den letzten drei Dekaden einen leichten Rückgang in Bezug auf ihren Militarisierungsgrad (von Rang 23 im Jahr 1990 auf Rang 41 im Jahr 2022).
Iran
Mit der iranischen Revolution gründete sich 1979 die islamische Republik. Strategische Partnerschaften zwischen den nicht-arabischen Staaten zerbrachen und die neue schiitische Elite festigte, trotz des Iran-Irak-Kriegs (1980-1988), ihre Position und die Irans in der Region. Israel und die USA galten nun als Erzfeinde (Bahgat 2006). Die von Beginn an hochgerüstete islamische Republik (Ng 2022) geriet zugleich mit Saudi-Arabien in einen Konflikt um regionale Vorherrschaft. Revolutionsführer Khomeini rief Israel und die Vereinigten Staaten zu Erzfeinden des neuen Staates aus.
Wesentlicher Bestandteil des Regimes und für die Militarisierung des Landes prägend sind die 1979 von Khomeini gegründeten Revolutionsgarden (RG). Diese wurden zur Verteidigung der Revolution und als Gegengewicht zur Armee des Schahs gegründet. Sie entwickelten sich zu einer Armee mit unterschiedlichen Teilstreitkräften und schließlich zu einer Institution, die fast alle Bereiche der iranischen Gesellschaft durchdringt (Forozan und Shahi 2017). Ehemalige und aktive Mitglieder der RG bekleiden wichtige politische Ämter. Während der Präsidentschaft Ahmadinejads besetzten sie etwa neun von 21 Ministerposten. In den letzten Jahren wuchs zudem ihr ökonomischer Einfluss immens an. Schätzungen zufolge kontrollieren die RG mittlerweile auch Unternehmen, die etwa ein Drittel des BIP des Landes erwirtschaften (Dagher 2020). Die RG bleiben zentraler militärischer Akteur und Treiber der Militarisierung des Landes: Sie fungieren als internes Repressionsorgan und erfüllen mit der Eliteeinheit für Auslandseinsätze Quds-Brigade gleichzeitig eine zentrale Funktion, nämlich die Machtprojektion in der Region. Seit dem israelisch-libanesischen Krieg unterstützt Iran über diese Einheiten gezielt proxy-Kräfte und baute etwa die Hezbollah im Libanon ab 1982 zu einem Machtfaktor aus. Die Hamas in Gaza, die Houthi im Jemen und Ableger der Hezbollah in Irak und Syrien werden inzwischen durch Iran unterstützt.
Aktuell umfassen die RG mit 190.000 Kämpfer*innen knapp ein Drittel der gesamt 610.000 aktiven Streitkräfte. Iran verfügt damit mit Abstand über die größten Streitkräfte der Region. Das Verhältnis von Soldat*innen zu 10.000 Einwohner*innen liegt bei knapp 69; beinahe doppelt so hoch wie der globale (35) und knapp unter dem regionalen Durchschnitt (74). Die Streitkräfte sind jedoch schlechter ausgerüstet als die meisten der Region. So kommen im Iran lediglich 11,5 schwere Waffensysteme auf 1.000 Soldat*innen (regional 40). Viele dieser sind infolge der Importsperre der verhängten Sanktionen veraltet und wegen Ersatzteilmangels schwer zu warten. Laut SIPRI gab Iran für die Streitkräfte 2022 insgesamt 7,3 Mrd. US$ aus, was 2,1 % des BIP entspricht. Dies liegt deutlich unter dem regionalen Durchschnitt von knapp 13 Mrd. US$ bzw. 3,7 % des BIP.
Israel
Israel sieht sich selbst einer ständigen militärischen Bedrohung und Terrorismus ausgesetzt. Denn die »Achse des Widerstands«, ein Netzwerk aus staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, darunter die Hezbollah, die Houthi-Rebellen und irakische und syrische Milizen, hat dem Staat Israel und der militärischen Präsenz der USA den Krieg erklärt (Zamirirad 2023; vgl. auch Pfeifer in dieser Ausgabe, S. 17). Der Anschlag der Hamas am 7.Oktober, der über 1.000 Menschen das Leben kostete, veranschaulicht gut, wie schnell der schwelende Konflikt eskalieren kann und wie schnell es zu einer Ausweitungsspirale kommt, die dann auch weitere Länder der Region betrifft.
Die permanente Bedrohung hat zudem dazu geführt, dass das Militär zu einer zentralen Organisation der israelischen Gesellschaft wurde (Kimmerling 1993) und begründet weiterhin die hohe Zuweisung von Ressourcen an das Militär. Die Gesellschaft verstand die »Israel Defense Forces« (IDF) lange als »Armee des Volkes«, womit die IDF nicht nur eine Institution für die Verteidigung ist, sondern auch eine zentrale Symbolik in der Gesellschaft einnimmt (Michael, Regev und Kimchi 2020) und somit identitätsstiftend für das Selbstbild der Nation ist. Die IDF gilt auch als politisch einflussreich. Sie kann im Namen der nationalen Sicherheitslage Einfluss auf die politische Agenda nehmen, da die totale Mobilisierung und ständige Kriegsbereitschaft unveränderliche Komponenten der politischen Kultur sind (Kimmerling 1993). Somit konkurriert das Militär mit Politiker*innen um politische Einflussnahme. Gerade die rechtspopulistische Elite erkennt in der militärischen Elite einen Rivalen und tritt mit ihr öffentlich in Konfrontation. Rear Hagari, Leiter der IDF-Sprechereinheit, widersprach bspw. Netanjahus Ziel der kompletten Zerstörung der Hamas öffentlich, indem er feststellte, dass die Hamas eine Ideologie sei, die man nicht vollständig zerstören könne. Premierminister Netanjahu musste schon in der Vergangenheit die Erfahrung machen, dass ihn Militärs um politische Einflussnahme und Wahlerfolge beraubten. Er unternahm daher bereits mehrere Versuche, den politischen Einfluss der IDF zu beschränken (Ziv 2024).
Folgt man dem GMI, weist Israel seinem Militär – relativ betrachtet – die zweitmeisten materiellen Ressourcen weltweit zu. Mit 177 Soldat*innen pro 10.000 Einwohner*innen übersteigt Israel den regionalen (74) sowie den globalen (35) Durchschnitt bei weitem. Mit 169.500 aktiven Soldat*innen unterliegen die IDF in absoluten Zahlen dennoch den anderen großen Militärmächten in der Region. Betrachtet man die schweren Waffen pro 1.000 Soldat*innen, liegt Israel mit 21 fast im globalen Durchschnitt (23) aber deutlich unter dem regionalen Wert (40). 2023 investierte Israel rund 29 Mrd. US$ (5,3 % des BIP) in sein Militär; regional gesehen der zweithöchste Wert (hinter Saudi-Arabien).
Saudi-Arabien
Saudi-Arabien gilt als einer der größten Machtfaktoren im Nahen Osten und liegt sowohl politisch als auch geographisch in einer zentralen Position. Durch seine Lage auf der der arabischen Halbinsel, die das Land zu großen Teilen einnimmt, steht Saudi-Arabien in unmittelbarer Nachbarschaft zu teils rivalisierenden Staaten wie Iran und Israel. Zwischen Iran und Saudi-Arabien bestehen aufgrund religiöser Konflikte und zweiseitiger Hegemonialbestrebungen verhärtete Fronten. Im Jemen führen diese beiden Staaten einen erbitterten Stellvertreterkrieg, bei dem Saudi-Arabien 2015 auf Seiten der jemenitischen Regierung eingriff, während Iran die Houthi-Milizen finanziell und mit Waffen unterstützt (vgl. Bales 2023). Diese Konfrontation zwischen beiden Staaten führte zeitweise sogar zu einer Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Israel, die offiziell keine diplomatischen Beziehungen pflegen und sich formal sogar im Kriegszustand befinden, jedoch aufgrund der gemeinsamen Haltung gegenüber Iran zusammenarbeiteten. Jedoch kühlten sich diese Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und Israel seit dem jüngsten Krieg im Gazastreifen wieder deutlich ab (Palik 2023); Saudi-Arabien stellt sich fest an die Seite der Palästinenser*innen und fordert ein Ende der Besatzung. Das Militär ist dabei eng an das Herrscherhaus geknüpft – etwa durch direkte Verwandtschaftsverhältnisse – und integraler Bestandteil des feudal-repressiven Staatsapparats. Innenpolitischen Einfluss hat es somit nicht, wird außenpolitisch aber als Machtinstrument genutzt und intervenierte unter anderem auch im Zuge des arabischen Frühlings in Bahrain auf Seiten der Regierung und unterstützte Oppositionsgruppen in Syrien mit Waffen und Ausbildung.
Um unabhängig von den USA zu werden und die eigene Machtposition auszubauen, sollen bis 2030 zudem 50 % der Rüstungsausgaben bei regionalen Unternehmen getätigt und Kooperationen (etwa mit emiratischen oder türkischen Firmen) ausgebaut werden. Die nationale Rüstungsindustrie wurde hierzu im Konglomerat »Saudi Arabian Military Industries« (SAMI) zusammengefasst (Sorenson 2023). Das Land verfügt über sehr modern ausgerüstete Streitkräfte und übersteigt mit rund 30,5 schweren Waffensystemen pro 1.000 Soldat*innen den globalen Durchschnitt (23), unterschreitet aber den regionalen (40). Mit 257.000 aktiven Soldat*innen weist es den drittgrößten absoluten Wert der Region auf, liegt mit 71 Soldat*innen pro 10.000 Einwohner*innen aber knapp unter dem Regionaldurchschnitt. 2023 unternahm Saudi-Arabien erhebliche Investitionen in das eigene Militär und liegt mit 73 Mrd. US$ (7,1 % am BIP) mit Abstand an der Spitze.
Türkei
Die türkische Außenpolitik ist zunehmend durch eine Politik des Interventionismus und das Bestreben gekennzeichnet, eine regionale Führungsrolle einnehmen zu wollen. Das seit der Staatsgründung sehr autonome Militär wurde mit zunehmend konservativ-religiöser Ausrichtung Erdoğans und insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 zunehmend politisch kontrolliert und instrumentalisiert (Esen 2021). In Irak und Syrien intervenierte die Türkei ab 2016 insbesondere vor dem Hintergrund eines kurdischen Separatismus in den Grenzregionen zur Türkei, der als territoriale Bedrohung wahrgenommen wird. Während sich die Türkei zu Beginn des Syrienkonflikts auf logistische Unterstützung der Oppositionsgruppen beschränkte, stärkte es diese ab 2014 auch mit Ausbildung und Ausrüstung. Hintergrund war nicht nur der Sturz Assads oder der Kampf gegen den IS, sondern auch die Zerschlagung kurdischer Autonomiegebiete und der Kampf gegen die YPG (Nordsyrien) bzw. der PKK (Irak).
Die zunehmende Militarisierung des Landes zeigt sich derweil aber auch etwa in der Drohung gegenüber Israel aus dem Juli 2024, im Gazastreifen zu intervenieren. Auch wenn keine militärischen Beziehungen zur Hamas unterhalten werden und eine Intervention derzeit als unwahrscheinlich gilt, zeigt sich damit aber durchaus eine bedrohliche Zunahme militärischer Denkkategorien und eine sich ausbreitende Akzeptanz entsprechender Mittel.
Im GMI belegt die Türkei lediglich den 41. Platz und weist – regional betrachtet – seinem Militär nur begrenzte Ressourcen zu. So lagen die relativen Militärausgaben mit 14,7 Mrd. US$ bei nur 1,5 % am BIP. Mit 41,6 Soldat*innen pro 10.000 Einwohner*innen und 39,5 schweren Waffensystemen pro 1.000 Soldat*innen liegt es bei den Streitkräften zudem weit unter dem regionalen Durchschnitt (74) und hinsichtlich der Großwaffensysteme ziemlich genau im regionalen Durchschnitt (40). Nichtsdestotrotz ist die Türkei mit ihrer leistungsfähigen Rüstungsindustrie sowie schnell wachsenden Rüstungsexporten als Militarisierungstreiber zu betrachten. SIPRI listete die Türkei 2020 beispielsweise an zweiter Stelle unter den weltweiten „emerging arms suppliers“ (Béraud-Sudreau et al. 2020, S. 5). Zudem ist die Türkei in absoluten Zahlen (355.200 aktive Soldat:innen und mehr als 14.000 schwere Waffensysteme) ein militärisches Schwergewicht in der Region. Kein Land besitzt mehr schwere Waffen und lediglich Iran und Ägypten haben mehr aktive Soldat:innen im Dienst.
Fazit
Die Region ist seit vielen Jahren durch Rivalitäten, komplexe und wechselnde Allianzen staatlicher wie nicht-staatlicher Akteure sowie Instabilität und Kriege gekennzeichnet. Seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 eskaliert die Situation zunehmend. Was mit einem Gegenschlag gegen die Hamas begann, hat sich zu einer flächendeckenden Offensive gegen die Achse des Widerstands entwickelt. Israel greift Ziele der Hezbollah im Libanon, der Houthi-Rebellen im Jemen und Iran an. So rücken Teilerfolge hinsichtlich der Annäherung zwischen arabischen Staaten wieder in die Ferne und die ohnehin sehr hohe Militarisierung des Nahen Ostens wird erneut befeuert. Die Militärausgaben Israels stiegen zwischen 2022 und 2023 von 24 auf knapp 29 Mrd. US$, Saudi-Arabiens von ca. 71 auf 74 Mrd. US$ und die der Türkei von 10 auf 14 Mrd. US$. Der Iran investierte nur geringfügig mehr in sein Militär. Die Ausgaben der gesamten Region wuchsen um 16 %, was sich auch im kommenden GMI-Ranking niederschlagen wird. Ein gegenläufiger Trend ist in der nächsten Zeit nicht zu erwarten.
Die Kosten der Militarisierung bedeuten für alle Staaten – insbesondere aber für die Zivilbevölkerung – eine schwere Bürde. Die humanitären Kosten tragen jedoch zumeist nicht die vier zentralen Mächte der Region, sondern vor allem Staaten wie Syrien, der Libanon, Jemen sowie Irak, auf deren Territorien die Machtkämpfe der Regionalmächte (meist über Stellvertreter) ausgetragen werden. Diese Kosten sind zum Teil gravierend. So schätzt World Vision die ökonomischen Kosten des seit mehr als zehn Jahren andauernden Krieges in Syrien auf etwa 1,2 Billionen US$ Verluste am BIP. Die humanitären Kosten lassen sich kaum ermessen; die allgemeine Lebenserwartung etwa sank laut Weltbank zwischen 2011 und 2014 um 10 Jahre; in den letzten zehn Jahren sank die Lebenserwartung von Kindern in Syrien um 13 Jahre (World Vision 2021). Der Krieg im Gazastreifen forderte nach UN-Angaben bislang über 41.000 Menschenleben, der Krieg im Jemen vermutlich knapp 250.000 (OCHA 2024); in beiden Fällen überwiegend Zivilist:innen.
Anmerkungen
1) Dies gilt aber nicht allgemein. So finden Horowitz und Stam (2014) zwar Hinweise dafür, dass Staatsoberhäupter mit militärischem Hintergrund häufiger zwischenstaatliche Konflikte beginnen. Dies gilt aber nur für solche, die selbst keine Kampferfahrungen gesammelt haben.
2) »Großwaffensysteme« nach der Definition von SIPRI sind nicht hundertprozentig übereinstimmend, aber weitestgehend kongruent mit der Definition von »schweren Waffen« im Rahmen des GMI. Daher werden im Folgenden beide Begriffe genutzt.
Literatur
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Jari Bertolini ist studentische Hilfskraft (SHK) am bicc.
Paul Rohleder ist SHK am bicc
Jan Reich ist SHK am bicc.
Markus Bayer ist Senior Researcher am bicc.

