W&F 2002/2

… minimal verändert, aber nicht wirklich verbessert

Zur Situation der Frauen in Afghanistan / Interview mit Mariam Notten

von Paul Schäfer

W&F: Dass der vor allem von den USA geführte Krieg in Afghanistan auch für die Menschenrechte, spezieller: die Frauenrechte, geführt worden sei, ist mit Sicherheit der Rubrik Kriegsrechtfertigung zuzuordnen. Dennoch die erste Frage: Haben sich nicht zumindest für die Frauen in den größeren Städten wichtige Verbesserungen nach dem Sturz der Taliban ergeben?

Mariam Notten: Die Lage der afghanischen Frauen hat sich leider nur minimal verändert, aber nicht wirklich verbessert. Unter den Taliban wurden sie öffentlich geschlagen und gesteinigt. Unter dem Bombenhagel der USA haben sie zu Tausenden ihr Leben verloren. Viele wurden zu Flüchtlingen und strandeten an den geschlossenen Grenzen zu Pakistan und dem Iran. Den Internationalen Hilfsorganisationen wurde untersagt, ihnen zu helfen. Selbst nach der Entmachtung der Taliban sitzen seit Ende November Frauen in den Gefängnissen in Herat und Kabul. Ihnen wird Ehebruch vorgeworfen, weil sie von ihren Zwangsehemännern geflüchtet sind. Ihnen droht die Todesstrafe durch Steinigung.

War der Krieg nicht doch unvermeidlich, um die Al Qaida-Terroristen zu bekämpfen?

Zunächst ergeben sich folgende Fragen: Warum haben die Afghanen jahrelang unter den Taliban gelitten? Wo kamen sie her? Wer hat sie zu Taliban gemacht? Wer ist bin Laden? Wer hat ihn unterstützt und in unser Land gebracht, um den afghanischen Mudjahedin im Kampf gegen den Russen zu helfen? Wir Afghanen waren selbst die Geiseln dieses Mannes. Die Geiseln sind zu Tausenden gestorben, der Geiselnehmer ist aber entflohen. Diese Logik verstehen wir Afghanen nicht.

Ist es denn unzutreffend, dass – selbst wenn man den Krieg verurteilt – der Sturz der Taliban neue Möglichkeiten für Demokratie und Menschenrechte eröffnet hat?

In dieser Regierung sitzen drei fundamentalistische Kriegsparteien. Jede von ihnen will die alleinige Macht; sie bekriegen sich immer noch gegenseitig. Die einzige Fraktion, die für mehr Demokratie steht (Königsdelegation), hat weder Macht noch bewaffnete Männer, um sich gegen die anderen drei zu behaupten. Unsere Kinder dürfen zwar zur Schule gehen, aber wir haben weder Schulgebäude noch Schulbücher. Dass unsere Frauen ihre Schleier nicht ablegen, ist selbst ein Zeichen ihrer Angst vor den neuen Machthabern.

Sie haben selber schon lange das Taliban-Regime angeprangert. Welche anderen Möglichkeiten hätte es denn gegeben, dieses Regime loszuwerden?

Es gab Alternativen, zum Beispiel die Errichtung von Schutzzonen für die Zivilbevölkerung. Man hätte es möglich machen können, dass die Taliban-Kämpfer durch materielle Zuwendung in großem Umfang desertiert wären. Damit hätte man die Isolierung von El Qaida und des harten Kernes der Taliban erreichen können. Sie hätten auf diese Weise leichter bekämpft werden können – ohne so viele »Kollateralschäden« zu verursachen.

Hiesige Politiker bzw. Politikerinnen sagen, dass man jetzt den afghanischen Frauen wieder „ein Gesicht geben könne“ (Claudia Roth). Ist denn das Tragen der Burqua das Hauptproblem der Frauen?

Uns afghanischen Frauen geht es nicht darum, ob wir den Schleier tragen oder ihn ablegen sollen. Oder nur darum, ob wir die Schule besuchen oder einen Beruf ausüben dürfen oder nicht. Uns geht es darum, selbst zu bestimmen, ob wir dies tun oder jenes sein lassen dürfen. Uns geht es schlicht um das Selbstbestimmungsrecht, um die Menschenrechte. Und diese Rechte werden uns derzeit durch die fundamentalistische Interpretation der Sharia verweigert. Die Sharia in ihrer fundamentalistischen Auslegung schreibt weiterhin die Steinigung von Frauen vor. Der Justizminister Abdul Rahim Karimi, der Oberste Richter Schinwari und ein anderer Richter des obersten Gerichtshofes in Kabul, Ahmad Ullha Sharif, haben bereits Ende Dezember bekräftigt, dass die Sharia das einzig gültige Gesetz in Afghanistan sein wird. Dem gemäß sollen weiterhin Frauen wegen »moralischer Verfehlung« gesteinigt werden, nur mit dem Unterschied, dass man »kleine Steine« dafür nehmen wird. Wenn sie geständig sind, sollen sie während der Steinigung nicht gefesselt werden, damit sie die Chance haben wegzulaufen.

Demokratische und feministische Gruppen haben gesagt, dass eine wirkliche demokratische Entwicklung nur möglich sei, wenn eine Entmilitarisierung der afghanischen Gesellschaft durchgesetzt würde. Wäre denn eine umfassende Entwaffnungsaktion überhaupt durchsetzbar?

Ich teile diese Meinung und denke auch, dass eine solche Maßnahme realisierbar wäre. Zu desertieren hat in Afghanistan Tradition. Seinerzeit, als die Sowjets unser Land besetzten, haben die Mudjahedin der regulären Armee der Regierung in Kabul ermöglicht zu desertieren. Sie haben für die Überläufer Schutzkorridore errichtet. Innerhalb eines Jahres sind von 100.000 Regierungssoldaten über die Hälfte zu den Mudjahedin übergelaufen, der Rest tat es im Laufe des 14-jährigen Krieges. Auch die Taliban haben die gleiche Strategie bei den Kämpfern der Nordallianz benutzt. Sie haben die Kommandeure der Nordallianz regelrecht gekauft. Deshalb haben sie in kürzester Zeit 95% des Landes ohne Kampf erobert. An dieser Stelle müsste man im Übrigen fragen: Woher hatten die Taliban so viel Geld zu Verfügung?

Der Zeitpunkt für die Entwaffnung ist heute günstiger denn je. Die Menschen haben Hunger, Millionen von Dollar für den Wiederaufbau stehen zur Verfügung. Die USA sind im Lande präsent. Es könnten die Warlords sehr leicht isoliert werden, wenn man ihre Kämpfer »kaufen« würde.

Welche Rolle sollten die Vereinten Nationen ihrer Meinung nach spielen? Sollte die UNO die peace-keeping-Rolle übernehmen?

Es sollten mehr UN-Soldaten ins Land kommen. Sie sollten auch in anderen Städten und Provinzen eingesetzt werden. Sie sollten in erster Linie die Menschen vor Überfällen und Raub, insbesondere in der Nacht, schützen und natürlich braucht die demokratische Fraktion der Regierung den besonderen Schutz der UN-Soldaten. Sie ist durch die fundamentalistischen Kriegsparteien zur Zeit sehr gefährdet.

Wie schätzen Sie die Rolle von Ministerpräsident Karsai im Rahmen der gegenwärtigen Übergangsregierung ein?

Zur Zeit ist die Karsai-Administration sehr wichtig in der Regierung. Wir haben keine andere Alternative, wenn wir die Fundamentalisten nicht haben wollen. Und diese haben ja gezeigt, dass sie nicht fähig sind, Frieden zu bringen und Menschenrechte zu achten. Sie sind machtgierige Egoisten.

Welche Informationen haben Sie über die Betätigungsmöglichkeiten originär-demokratischer Gruppen und Vereinigungen in Kabul und darüber hinaus? Können diese unbeeinträchtigt agieren?

Nein. Selbst die Königsdelegation um Karsai hat kaum Möglichkeiten, ihre Arbeit ungestört durchzusetzen. Die eingesetzten Gouverneure werden von den Warlords in den Provinzen nicht akzeptiert. Andere demokratische Kräfte trauen sich nicht einmal in die Öffentlichkeit, weil sie durch die bewaffneten Truppen der Fundamentalisten sofort getötet werden würden.

Welche Aktionen können Sie im Rahmen des Afghanischen Kulturvereins gegenwärtig unternehmen, um die Entwicklung im Land positiv zu beeinflussen?

Unsere Aktivitäten beschränken sich auf Öffentlichkeitsarbeit und auf das Sammeln von Spenden für Frauenorganisationen. Diese Organisationen wurden bei der Petersberg-Konferenz nicht einbezogen. Sie sind folglich nicht von der UNO anerkannt worden. Deshalb werden sie auch bei der Vergabe von Geldern für den Wiederaufbau nicht berücksichtigt. Sie sind weiterhin im Untergrund und auf Spenden angewiesen. Außerdem sind wir bemüht, dafür zu werben, dass eine internationale Beobachterinnen-Gruppe zustande kommt. Sie soll die Aufgabe übernehmen, die Einhaltung der Menschenrechte/Frauenrechte zu überwachen und die Weltöffentlichkeit davon zu unterrichten. Damit unsere Frauen nicht wieder den Fundamentalisten überlassen werden.

Mariam Notten, Revolutionary Association of Women in Afghanistan (RAWA), Berlin. Sie wurde interviewt von Paul Schäfer.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2002/2 Frauen und Krieg, Seite