W&F 2002/1

Mit Weltraumwaffen gegen Teppichmesser?

Das Streben der USA nach Dominanz im All

von Regina Hagen und Jürgen Scheffran

Die Ereignisse vom 11. September haben allzu deutlich gezeigt, wie verwundbar die USA, die modernen Industriegesellschaften insgesamt sind. Keine Kernwaffenarsenale, keine Flugabwehr, keine Raketentechnologie und keine Weltraumsatelliten konnten verhindern, dass mit Hilfe von Teppichmessern Verkehrsflugzeuge in Massenvernichtungswaffen umgewandelt wurden. Der Versuch, Sicherheit aus großer Distanz mit immer ausgeklügelteren technischen Systemen herzustellen, muss kläglich scheitern, wenn der Gegner mitten in der Gesellschaft sitzt und klare Fronten nicht mehr auszumachen sind. Daran ändert auch der nachfolgende HighTech-Krieg gegen Afghanistan nichts: Er wird den USA nicht zur Unverwundbarkeit verhelfen. Dem zum Trotz fühlen sich US-Präsident George W. Bush und sein Verteidigungsminister Rumsfeld sogar in ihren Plänen bestärkt, die USA und ihre Alliierten mit Abwehrraketen und Weltraumwaffen vor Angriffen durch »Schurkenstaaten« und Terroristen zu schützen.
Seit ihrem Amtsantritt im Januar 2001 hat die Regierung Bush keinen Zweifel daran gelassen, dass der neue Präsident zumindest zwei Versprechen seiner Wahlkampfzeit einlösen will: Er gedenke die Anzahl der Atomwaffen drastisch zu reduzieren und den Aufbau eines Raketenabwehrschirmes deutlich zu beschleunigen.

Seit dem Gipfeltreffen mit seinem russischen Kollegen Putin Mitte November auf der Farm in Crawford stehen beide im Wort, im Laufe des Jahrzehnts die Nukleararsenale auf das im Rahmen von START III vorgesehene Niveau von etwa 2.000 Atomsprengköpfen zu verringern. Allerdings wurde die Vereinbarung auf typisch Bush’sche Art besiegelt: Mit einem Händedruck unter Männerfreunden – ohne Vertrag, ohne Überprüfungsmechanismen, ohne völkerrechtliche Verbindlichkeit.

Von einem umfassenden Sicherheitskonzept, das die präventive Vermeidung von Risiken für die Sicherheit der USA und der Welt im 21. Jahrhundert im Auge hätte, kann bislang keine Rede sein. Statt dessen will Bush sich von vertraglichen Fesseln der Vergangenheit befreien: Auf der Abschussliste stehen unter anderem das Kyoto-Protokoll zum Klimaschutz, das Verifikationsprotokoll zum Biowaffenabkommen, die Landminenkonvention, der ABM-Vertrag, der Atomwaffen-Teststoppvertrag und die Chemiewaffenkonvention. Es geht nicht mehr nur um einzelne Verträge, sondern um das Rüstungskontroll- und Abrüstungsregime der letzten Jahrzehnte. Dazu passt die Anordnung von Bush, nicht einem Internationalen Strafgerichtshof, sondern geheimen Militärgerichten die Aburteilung ausländischer Terroristen zu übertragen.

Raketenabwehr als Zeichen moderner Zeiten?

»Ancient history«, graue Geschichte der Vorzeit, sei der 1972 abgeschlossene Raketenabwehrvertrag, assistierte Donald Rumsfeld. Seine Aufkündigung war bereits beschlossene Sache, da wurde Russland in die »internationale Koalition« gegen den Terror einbezogen. Nun wird noch etwas abgewartet – die nächsten Tests für den geplanten Abwehrschild, versicherte der Verteidigungsminister, würden die Vertragsbestimmungen noch nicht verletzen.

Das wird auch kaum nötig sein: Russland drückt zur Not ein Auge zu und der Zeitplan entwickelt seine eigene Dynamik. Eigentlich sollten in 2001 mehrere Tests durchgeführt werden, zum Jahresende schon mit der eigentlichen Abfangrakete. Davon sind die Tester weit entfernt. Nach drei Fehlschlägen unter Clinton war auch der jüngste als Erfolg gefeierte Abwehrversuch von Mitte Juli – die Wiederholung des Fehlschlags vom Jahr zuvor – alles andere als überzeugend. Abgesehen davon, dass das Abfangen eines Ersatzsprengkopfs mit Ersatzraketen in einem gut geplanten Szenario noch wenig mit einem Test unter realen Bedingungen zu tun hat, wurden die verwendeten Tricks (Sprengkopfattrappe war mit Sender ausgestattet) und aufgetretenen Probleme (Zielverfolgungsradar fiel wegen Überlastung aus) erst hinterher offenkundig. Und im November musste gar eine Testrakete bereits 52 Sekunden nach ihrem Start vom Kodiak-Gelände in Alaska gesprengt werden, weil die Kommunikation zusammenbrach. Eigentlich hätte der Test überprüfen sollen, ob bodengestützte Radars in Kalifornien zwischen Gefechtsköpfen und Attrappen unterscheiden können. Und von den anderen für dieses Jahr geplanten Versuchen ist gar nicht erst die Rede.

Noch ein weiteres Schlüsselsystem macht Kummer: Der Haushaltsausschuss stellte jüngst fest, dass die von Raytheon und TRW zu bauende Satellitenkonstellation SBIRS-Low (Space-Based Infrared System, Low Orbit) zur Verfolgung der Raketenflugbahn im Weltraum anstatt 10 Mrd. voraussichtlich 23 Mrd. US-Dollar kosten wird. Der Haushaltsausschuss schlägt nun vor, die Machbarkeit alternativer Systeme zu untersuchen. Und das von Lockheed Martin geplante SBIRS-High-System für die geostationäre Umlaufbahn steht aus ähnlichen Gründen zur Disposition.

Neue US-Strategie: offensiv und defensiv gegen Pearl Harbor im All

Allerdings ist längst die gesamte Planung hinfällig. In seiner gespannt erwarteten Rede vom 1. Mai 2001 erläuterte Bush nicht nur den politischen Strategiewandel. Demzufolge soll an die Stelle des Gleichgewichts des Schreckens jetzt die gemeinsame Verantwortlichkeit für die Abwehr von Bedrohungen für die »freie Welt« treten, und zwar durch eine Mischung aus aktiver Nichtverbreitung, militärischer Counterproliferation und Raketenabwehr. (Seit dem 11.9. wurde die Liste ergänzt um Sicherheit, Kooperation und Transparenz.) Neue Abschreckungskonzepte sollen offensive und defensive Elemente miteinander verknüpfen, sollen vor Bedrohungen und Proliferation schützen und – wie kürzlich ein hoher US-Diplomat das Schwierige einfach formulierte – „uns auf den Weg zurückbringen, auf dem wir die wirklichen Gefahren angehen können.“ Diesen Weg bereiten soll auch die Raketenabwehr, obschon nicht länger »national« definiert, weil es schließlich auf den Standpunkt ankäme: Was »national« anderswo, sei vermutlich »taktisch« für die USA.

Die Ausweitung des Raketenabwehrpakets auf jeden für die USA relevanten Ort wird begleitet von einer Änderung des Abwehrkonzepts. Nicht mehr Schutz bestimmter Territorien oder Regionen ist das Ziel, sondern Abwehr ballistischer Raketen in den drei Flugphasen einer Rakete, denen dann die passenden Abwehrsysteme zugeordnet werden. Plötzlich ist für alles Bedarf, was die – übrigens schon unter Ex-Präsident Clinton initiierte und finanzierte – Angebotspalette hergibt: bodenstationierte Abfangraketen ebenso wie der luftgestützte Laser (Air-Borne Laser, ABL), der bereits 2004 einsatzbereit sein soll; seegestützte Abwehrsysteme wie der weltraumbasierte Laser (Space Based Laser, SBL); bodengestützte Radar- und Infrarotsysteme ebenso wie solche, die im Weltraum stationiert sein sollen.

Spätestens mit dem SBL – der Grundstein für die Testanlage wurde im Mai 2001 in Mississippi gelegt – würde die Grenze zwischen offensiver und defensiver Weltraumrüstung eindeutig überschritten. Und auch das passt gut ins neue Konzept der Bush-Administration. Wenige Tage vor seinem Amtsantritt als US-Verteidigungsminister stellte Mitte Januar Donald Rumsfeld den Bericht einer Kommission vor, die sich unter seinem Vorsitz mit nationalen Sicherheitsaspekten der US-Weltraumpolitik befasste. Sie kam zu folgendem Ergebnis:

„Schutzlos ausgesetzt sind Weltraumsysteme Angriffen, die Bodenstationen, Startvorrichtungen oder Satelliten in der Umlaufbahn außer Betrieb setzen oder zerstören. Ihr politischer, wirtschaftlicher und militärischer Wert macht Weltraumsysteme zu attraktiven Zielen für staatliche und nicht-staatliche Akteure, die den USA und ihren Interessen feindlich gesinnt sind. (…) Ein Angriff auf Teile des US-Weltraumsystems (…) sollte nicht als unwahrscheinlich abgetan werden. Wenn die USA ein ‚Pearl Harbor im Weltraum‘ verhindern wollen, müssen sie die Möglichkeit eines Angriffs auf US-Weltraumsysteme ernsthaft in Betracht ziehen. (…) Die US-Regierung (…) sollte unbedingt sicherstellen, dass der Präsident die Option hat, Waffen im Weltraum zu stationieren. (…) In absehbarer Zukunft werden die USA zur Unterstützung ihrer nationalen Interessen auf der Erde und im Weltraum [militärische] Operationen in den, aus dem, in dem und durch den Weltraum durchführen.“

Die Kommission empfahl der Regierung dringlich, auch durch organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die militärischen Interessen der USA im Weltraum angemessener berücksichtigt werden. Mitte Oktober wies Rumsfeld zahlreiche Abteilungen im Verteidigungsministerium an, Direktiven auszuarbeiten, die die Umsetzung ermöglichen.

Die weitest reichende Einbindung der Weltraumkrieger ist aber schon vorher erfolgt: Ende August wurde mit Wirkung ab dem 1. Oktober 2001 Richard Myers, bis dahin Oberbefehlshaber des US Space Command, zum neuen Generalstabchef der USA ernannt. Statt weiter über HighTech-Kriege im All zu phantasieren, dirigiert Myers den Angriff auf Afghanistan.

Donald Rumsfeld stellt auch sonst sicher, dass der Weltraummilitarisierung gebührende Aufmerksamkeit zukommt. Anfang September ernannte Rumsfeld einen Industrievertreter zu seinem Repräsentanten in Europa sowie zum Verteidigungsberater der US-Vertretung bei der NATO in Brüssel: Evan G. Galbraith ist u.a. Vorstandsmitglied der Groupe Lagardère S.A. in Paris. Diese wiederum hält außer großen Paketen an Medienunternehmen auch bedeutende Anteile (zwischen 26 und 80%) an Rüstungs- und Weltraumfirmen wie EADS, Astrium, Dassault Aviation, MBDA, Airbus, Arianespace und ATR und ist alleiniger Eigentümer von Eurocopter.

Großes Schild und kleines Schwert statt Rüstungskontrolle?

In Genf erklärte sich kürzlich ein bei der UN-Abrüstungskonferenz akkreditierter deutscher Diplomat zum glühenden Anhänger des Gedankens, der Welt durch die Kombination eines immer größer werdenden Schildes und eines mäßig großen Schwertes nicht länger die gegenseitig gesicherte Zerstörung (MAD: Mutually Assured Destruction) zuzumuten, sondern mit dem gegenseitig gesicherten Überleben (MAS: Mutually Assured Survival) zu beglücken. Das entspricht exakt der Argumentationslinie der USA, die vom Kongress auch finanziell bestätigt wird. Der Haushaltsplan des US-Verteidigungsministeriums für Raketenabwehr wurde für 2002 um US$ 8,3 Mrd. gesteigert, wobei nach einigem Hin und Her in Folge der Terrorismusdebatte bis zu 1,3 Mrd. alternativ für Terrorismusbekämpfung umgewidmet werden dürfen. Mit diesem Geld soll nun u.a. ein als Testanlage deklarierter Stationierungsort für erste Abfangraketen in Fort Greely, Alaska, gebaut werden. Mit den Rodungsarbeiten wurde im Oktober begonnen und die Anlage soll bis 2004 einsatzbereit sein, weil es, so Bush, nicht so sehr darauf ankomme, dass das System wirklich funktioniere, sondern mehr darauf, dass ein Gegner mit dem Funktionieren rechnen müsse…

Die Pläne der USA stoßen in der übrigen Welt meist nicht auf Gegenliebe. Ganz im Gegenteil – eine Vielzahl von Initiativen versucht, dem drohenden Wettrüsten bereits im Vorfeld entgegenzutreten.

  • Als Mindestforderung werden die USA aufgefordert, bereits bestehende Verträge strikt einzuhalten, darunter den Weltraumvertrag von 1967 und den ABM-Vertrag von 1972, und andere zu ratifizieren wie den Kernwaffen-Teststoppvertrag.
  • Wiederholt verabschiedete in den vergangenen Jahren die UN-Generalversammlung den dringlichen Appell, in Genf endlich substanziell über die »Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum« (PAROS, Prevention of an Arms Race in Outer Space) zu verhandeln.
  • Nichtregierungsorganisationen setzen sich verstärkt für ein Verbot von Weltraumwaffen ein. Am 16. November wurde auf einem Workshop in Berlin diskutiert, wie der Göttinger Vertragsentwurf zur Begrenzung der militärischen Nutzung des Weltraums von 1984 für die heutige Situation genutzt werden kann.
  • China legte im Juni 2001 bei der UN-Abrüstungskonferenz ein Vertragsgerüst für ein Abkommen zur Verhinderung der Bewaffnung des Weltraums vor.
  • Die russische Regierung propagiert u.a. ein Konzept zur globalen Frühwarnung vor Raketenbedrohungen.
  • Auf Initiative Irans wurde Ende 2000 bei den Vereinten Nationen eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die in den nächsten zwei Jahren die reale Raketenbedrohung untersuchen soll.
  • Für das Missile Technology Control Regime haben die Staaten einen Regelkatalog (Code of Conduct) ausgearbeitet, der auch Maßnahmen zur Rüstungskontrolle von Raketen erlaubt.
  • Am 2. Oktober 2001 legte der demokratische Abgeordnete Dennis Kucinich dem US-Kongress einen Gesetzentwurf (HR 2977) zum Verbot aller Weltraumwaffen, einschließlich Forschung, Entwicklung, Erprobung, Produktion und Stationierung, vor.
  • Rebecca Johnson vom Londoner Acronym Institute schlug bei der internationalen Konferenz »Space Without Weapons« in Moskau im April 2001 ein dreigliedriges Weltraumwaffenverbot vor: a) ein Verbot von Stationierung und Einsatz aller Formen von Weltraumwaffen, in Erweiterung und Stärkung des Weltraumvertrages; b) das Verbot der Erprobung, Stationierung und des Einsatzes von Antisatellitenwaffen (ASAT), sowohl erdgestützt wie auch weltraumgestützt; c) die Einrichtung eines Code of Conduct für friedenserhaltende, nicht-offensive und nicht-aggressive Weltraumnutzungen.

Oft hängt die Einschätzung der US-Pläne von der verfügbaren Information ab. Robert C. Byrd, demokratischer Vertreter von West Virginia im US-Senat und Vorsitzender des Haushaltsausschusses, hielt im Kongress Ende September 2001 – also nach den Terrorattacken auf das Pentagon und das World Trade Center – eine nachdenkliche Rede, die durch die Lektüre eines Artikels über US-Weltraumrüstungsvorhaben im New York Times Magazine angeregt wurde. Byrd zeigte sich entsetzt von den Plänen des US-Militärs und schlug vor, alle entsprechenden Programme einem Moratorium zu unterziehen. So solle Zeit gewonnen werden, um in einer öffentlichen Debatte auszuloten, ob die USA tatsächlich die „Überlegenheit im Weltraum“ erlangen, zum „Weltraum-Sheriff“ werden und somit eine „imperialistische, selbst wenn wohlmeinende, Diktatur im Weltraum“ ausüben sollten. Er sieht nicht nur die Gefahr eines immensen Haushaltsdefizits zur Finanzierung der Weltraumwaffen, sondern beschwört auch die Wahrscheinlichkeit herauf, dass andere Staaten auf die Provokation reagieren und sich ihrerseits mit Weltraumwaffen ausrüsten würden. Anders als US-Verteidigungsminister Rumsfeld sieht er die USA in keinster Weise im Weltraum gefährdet und warnt davor, mit den Weltraumplänen das Wettrüsten auf eine bislang unbekannte Ebene zu steigern.

Regina Hagen ist Koordinatorin von INESAP und Vorstandsmitglied des Global Network Against Weapons and Nuclear Power in Space.
Jürgen Scheffran ist Physiker und Mathematiker und leitet das Projekt »Moving Beyond Missile Defense« des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP), das an der Technischen Universität Darmstadt angesiedelt ist.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2002/1 Terror – Krieg – Kriegsterror, Seite