W&F 2016/3

Moderate Islamisten

Zwischen Arabischem Frühling und »Islamischem Staat«

von Stephan Rosiny

In vielen arabischen Ländern ist die Situation heute schlechter als vor Beginn des »Arabischen Frühlings« in 2011. Paradigmatisch hierfür sind der Wahlsieg der ägyptischen Muslimbruderschaft 2012 und ihr Sturz durch das Militär 2013 sowie die militärische Expansion des »Islamischen Staats«. In einigen Ländern deuten Regime und Oppositionelle ihre gegenseitige Feindschaft heute als Ausdruck einer sunnitisch-schiitischen, also einer konfessionellen Spaltung. Es bleibt abzuwarten, welche mittel- und langfristigen Auswirkungen das abgebrochene Experiment einer moderat-islamistischen Regierung in Ägypten, die Eskalation konfessioneller Gegensätze und das apokalyptische Projekt des »Kalifat-Staats« für moderate Islamisten haben werden.

Der Nahe Osten und Nordafrika sind von strukturellen Konflikten geprägt, und die Region steht vor schwierigen Herausforderungen. Jahrzehnte autoritärer Herrschaft, ökonomischer Krisen und zahlreicher Kriege brachten korrupte Regime, institutionell unterentwickelte Staaten, Wohlstandsgefälle und tief gespaltene Gesellschaften hervor. Anfang 2011 erlebte die arabische Welt eine einmalige Abfolge lokaler Protestbewegungen, die sich gegen diese Zustände wandten und in westlichen Medien bald als »Arabischer Frühling« bezeichnet wurden. Sie beeinflussten und bestärkten sich wechselseitig in ihrer Symbolsprache und in ihren Forderungen.1 Die autoritären Herrscher von Tunesien, Ägypten, Libyen und Jemen wurden durch Massenproteste und Aufstände gestürzt, im Falle Libyens mit ausländischer militärischer Unterstützung. In weiteren Ländern rüttelten Protestbewegungen an der Herrschaft republikanischer und monarchischer Autokraten. Die Monarchen von Marokko, Jordanien, Kuwait und Oman konnten den Unmut durch moderate Reformen abfangen. In Bahrain und Saudi-Arabien schlugen die Könige die Proteste hingegen gewaltsam nieder. Lediglich in Katar und in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) kam es zu keinen nennenswerten Demonstrationen.2

Islamismus im »Arabischen Frühling«

Die Protestbewegungen blieben anfangs weitgehend führerlos und ohne dominante Ideologie. Dies half ihnen bei der Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten und schützte sie vor staatlicher Repression, da etwaige Anführer nicht wie bei früheren Protesten einfach verhaftet werden konnten. Das Fehlen von Führungspersönlichkeiten erwies sich im Verlauf der Proteste aber als Schwäche, denn die mangelnde Kohärenz der unterschiedlich motivierten Oppositionsgruppen führte, je länger sich die Proteste hinzogen, zu Fragmentierung und Konkurrenz. Es fehlte ein Programm zur Durchsetzung der Forderungen und zur Neugestaltung der politischen Ordnung.

Dieser Mangel an Alternativen erklärt, warum in vielen Ländern zunächst vor allem moderate Islamisten profitierten. Sie konnten ein umfassendes Angebot an Identitätsstiftung, partizipativen Institutionen und Ideen für eine gerechtere Gesellschaft machen. Viele westliche Beobachter waren überrascht, dass islamistische Akteure eine so breite Zustimmung erhielten und sich gegen liberale, jugendlich-revolutionäre Oppositionskräfte durchsetzen konnten. Denn diese hatten das bunte, urbane Spek­trum der Proteste dominiert, das Anfang des Jahres 2011 live im Fernsehen zu beobachten war, etwa auf dem zentralen ­Tahrir-Platz in Kairo.

Gemäßigte Islamisten propagieren ein inklusives Gesellschaftsmodell, das eine breite soziale Basis anspricht: Jugendliche, Erwachsene und Alte, Arme und Reiche, Frauen und Männer, »Bildungsferne« und Intellektuelle gleichermaßen. Sie wollen regionale Entwicklungsgefälle und die Fragmentierung in Ethnien und Stämme überwinden. Uneigennützigkeit und jenseitige Belohnung stehen dabei gegenüber kurzfristigem Profitdenken im Vordergrund. Korruption gilt ihnen nicht nur als ökonomische Straftat, sondern als moralische Verfehlung. Islamisten in Jordanien, Palästina, Ägypten und vielen anderen Ländern unterhalten Einrichtungen der karitativen Versorgung, Gesundheitsfürsorge, Bildung und der Wirtschaftsförderung mit Vermarktungshilfen und Kleinkreditprojekten. Sie schaffen Arbeitsplätze auch in vom Staat vernachlässigten Regionen. So greifen sie die unerfüllten Forderungen der früheren nationalistischen Bewegungen nach Stärke, Unabhängigkeit, Wohlfahrt, Gerechtigkeit und Einheit auf und präsentieren sie in islamischem Gewand.

Islamisten sind keine homogene Bewegung, sondern treten konfessionell und ideologisch je nach Region in unterschiedlichen Strömungen auf. Erfolgreich waren Massenproteste unter Beteiligung moderater Islamisten in den homogen sunnitischen Republiken Nordafrikas; nicht jedoch in den konservativen Golfmonarchien und den konfessionell heterogenen ostarabischen Ländern. Dort spielte der konfessionelle Sunna-Schia-Gegensatz bei der Eskalation von Demagogie und Gewalt eine dominante Rolle. Moderate sunnitische und schiitische Islamisten protestierten zwar gegen die Machthaber der jeweils anderen Konfession, hielten sich aber mit Kritik an Autokraten ihrer eigenen Konfession zurück. Im Machtvakuum zerfallender Staatlichkeit breiteten sich zusätzlich salafistische und dschihadistische Gewaltakteure, wie al-Qaida und der »Islamische Staat«, aus.3

Von der Hoffnung zur Resignation

Die Protestierenden des »Arabischen Frühlings« waren sich in ihren allgemeinen Forderungen einig: Sturz autoritärer Herrscher, Würde und Brot, Freiheit und Gerechtigkeit, Kampf gegen Korruption und Klientelismus. Die Ursachen der Unzufriedenheit lassen sich grob drei Themenfeldern zuordnen:

  • Die Suche nach einer kollektiven Identität geht weiter. Die republikanischen Regime dieser Region legitimierten ihre Herrschaft mit dem Antiimperialismus der postkolonialen Phase und einer Mischung aus panarabischem und einzelstaatlichem Nationalismus. Dem lagen Versprechen von Einheit, politischer Unabhängigkeit, technologischem Fortschritt und wirtschaftlicher Entwicklung zugrunde. Doch die Realität sah anders aus: Die Herrscher hielten an einzelstaatlichen Egoismen fest, ihre Länder blieben im Vergleich zu anderen Weltregionen politisch, wirtschaftlich und technologisch rückständig. Westliche Vorstellungen von Sozialismus, Demokratie und Neoliberalismus boten ebenfalls keine Verheißung, denn viele der verhassten Autokraten nannten sich »sozialistisch«, der US-geführte Irakkrieg von 2003 war im Namen der Demokratisierung der Region geführt worden und neoliberale Strukturanpassungen hatten zum Rückzug der Staaten aus Versorgungsfunktionen und zur Verarmung geführt.
  • Es mangelt nahöstlichen Staaten an Möglichkeiten der gesellschaftlichen Partizipation, das heißt der Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen und am Chancenzugang. Scheindemokratien mit Wahlfälschungen, Parteienverboten, Repressionen und Menschenrechtsverletzungen schränken die politische Freiheit massiv ein. Sie sind aber nur ein Aspekt eines fundamentalen Partizipationsdefizits, das ökonomische, soziale und kulturelle Diskriminierung umfasst. Machthaber vergeben Arbeitsplätze und Dienstleistungen als Gunstbeweise über »Beziehungen« und nicht aufgrund von Wissen, Können oder Bedürftigkeit. Der neoliberale Rückzug des Staates aus der sozialen Versorgung führte zu einer weiteren Umverteilung von unten nach oben. Die Menschen suchen deshalb bei nichtstaatlichen Akteuren Schutz, so in religiösen Netzwerken.
  • Schließlich fehlt nahöstlichen Gesellschaften eine kollektive Vision, eine Vorstellung von einer besseren Zukunft. Nationalistische und sozialistische Regime gaben zwar vor, wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt, nationale Unabhängigkeit und die arabische Einheit zu betreiben. Aber faktisch waren sie untereinander zerstritten und abhängig von ausländischer, meist westlicher, wirtschaftlicher und militärischer Hilfe.

Im »Arabischen Frühling« spielten diese drei Faktoren eine wichtige Rolle, was sich in der Symbolik und den Forderungen zeigte. Protestierende trugen als Zeichen ihrer gemeinsamen Identität die Nationalflaggen und malten sich deren Farben ins Gesicht. Sie forderten politische Partizipation und ökonomische Teilhabe als garantierte Rechte statt wie bisher als Wohltätigkeitsakte des Obrigkeitsstaats. Schließlich formulierten sie als Ziel ein Leben in Würde, Freiheit und Gerechtigkeit.

Mehr als fünf Jahre nach Beginn der Proteste ist die Hoffnung auf einen grundlegenden Wandel der Resignation gewichen. Der Wunsch nach breiter politischer Partizipation und wirtschaftlichem Aufschwung war groß – und wurde von den neuen oder reformierten Regimen weitgehend enttäuscht. Die meisten autoritären Regime haben ihre Macht konsolidiert. In einigen Ländern eskalierten konfessionelle Gegensätze und mündeten in Gewalt. Schließlich nutzte die dschihadistische Miliz des »Islamischen Staats« das Machtvakuum im Irak, in Syrien und in Libyen, um ein Terrorregime und den Kern eines »globalen Kalifats« zu errichten.

Aufstieg und Sturz der Muslimbruderschaft in Ägypten

In Tunesien, Marokko und Ägypten gewannen bei ersten freien Wahlen moderate islamistische Parteien. In Libyen, Algerien und Jemen erzielten sie gute Wahlergebnisse. Neben ihnen konnten sich fundamentalistische Salafisten als unerwartete zweite Kraft im islamistischen Spektrum etablieren.

In Ägypten gewann die moderate Muslimbruderschaft bei den Parlamentswahlen, die vom 28.11.2011 bis zum 10.1.2012 durchgeführt wurden. Die Muslimbruderschaft war bereits 1928 als erste islamistische Bewegung gegründet worden und bildet den Archetyp sunnitisch-islamistischer Bewegungen über den Nahen Osten hinaus. Im Juni 2012 gewann ihr Parteivorsitzender, Muhammad Mursi, auch die ersten Präsidentschaftswahlen. Erstmals in der Geschichte der arabischen Welt waren Islamisten durch offene und freie Wahlen an die Macht gelangt, ohne dass sie wie 1992 in Algerien sofort weggeputscht oder wie die Hamas-Regierung 2006 mit internationalem Boykott belegt worden waren.

Es gelang der Muslimbruderschaft indes nicht, die hohen in sie gesetzten Erwartungen bezüglich einer schnellen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und einer integrativen Regierungsführung zu erfüllen. Die strukturellen Schwächen der ägyptischen Wirtschaft ähneln denen anderer nahöstlicher Ökonomien: eine hohe Staatsverschuldung, ein aufgeblähter Staatssektor, in dem regimetreue Studienabgänger versorgt werden müssen, hohe Jugendarbeitslosigkeit und eine krisenanfällige Abhängigkeit von meist nur einem dominanten Wirtschaftssektor. Die Muslimbruderschaft konnte diese Mängel nicht beheben. Vielmehr verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage, u.a. weil der für Ägypten existentiell wichtige Tourismus aufgrund der politischen Unruhen einbrach.

Die Muslimbruderschaft verlegte sich deshalb auf ihren Machtausbau und auf Symbolpolitik, indem sie die Islamisierung der Gesellschaft und der Außenpolitik betrieb. Sie brachte dadurch sowohl Säkulare, denen sie zu religiös war, als auch Salafisten, denen sie zu gemäßigt islamisch war, gegen sich auf. Als das Militär unter dem später unter fragwürdigen Umständen zum Staatspräsidenten gewählten General Abdel Fattah Sisi im Juli 2013 mit Unterstützung Saudi-Arabiens und der VAE putschte, konnte es sich auf die Zustimmung der Bevölkerung oder zumindest deren stillschweigende Duldung stützen. Bei dem gewaltsamen Sturz wurden mehr als 1.400 Menschen getötet, größtenteils Mitglieder der Muslimbruderschaft. In den Jahren seither verurteilten Gerichte über eintausend Anhänger der Bewegung, inklusive des entmachteten Präsidenten Mursi, zum Tode. In Ägypten, Saudi-Arabien und den VAE wurde die Muslimbruderschaft verboten.

Konfessionalisierung und Gewalteskalation

Im ostarabischen Raum bilden heute Repressionen seitens der Regime, in Gewalt umschlagende Proteste und konfessionelle Gegensätze eine gefährliche Mischung. In Syrien, Irak und Jemen entwickelten sich die im Frühjahr 2011 friedlich begonnenen Proteste zu internationalisierten Bürgerkriegen mit konfessionalistischen Stereotypen. Schiiten überwogen bei den Protesten gegen die sunnitischen Regime von Bahrain und Saudi-Arabien, Sunniten bei den Protesten und dann bewaffneten Aufständen gegen die schiitisch dominierte Staatsmacht in Syrien und Irak.

Die konfessionelle Polarisierung spiegelt sich auch in der Unterstützung der Rebellionen beziehungsweise der bedrängten Regime durch Regionalmächte wider. Sunnitische Golfmonarchien und die Türkei unterstützen einerseits sunnitische Rebellen in Syrien, andererseits sunnitische Regenten in Bahrain. Im Jemen intervenierten sie, um einen bewaffneten Aufstand schiitischer Zaiditen niederzuschlagen. Iran wiederum begrüßte die Proteste gegen das sunnitische Establishment in Nord­afrika, Bahrain und Jemen, während es in Syrien und Irak die schiitisch dominierten Herrscher beschützt.

Der regionale Machtkampf vertiefte das Sunna-Schia-Schisma: Iran gilt als schiitische Führungsmacht, Saudi-Arabien, VAE, Katar und Türkei stellen sich als sunnitische Schutzmächte vor einem mutmaßlichen schiitisch-persischen Expansionismus dar. Ihr Feindbild ähnelt dem salafistischer Dschihadisten, die Schiiten als »Verweigerer« (rafida) beschimpfen und bekämpfen, weil sie die Herrschaft der drei ersten – nach sunnitischer Lehre »rechtgeleiteten« – Kalifen Abu Bakr (632-634) , Umar (634-644) und Uthman (644-656) ablehnen. Der Konfessionalismus beschleunigte in den heterogenen Gesellschaften in Syrien, Irak und im Jemen die Gewaltspirale und den Staatszerfall. Das ist allerdings nicht der einzige innerislamische Gegensatz, der derzeit in der Region ausgetragen wird, denn die sunnitischen Mächte sind ihrerseits intern über ihre Unterstützung (Katar und Türkei) beziehungsweise Bekämpfung (Saudi-Arabien und VAE) der Muslimbruderschaft gespalten. Diese innersunnitische Konkurrenz tritt derzeit im gemeinsamen Kampf gegen das syrische Regime von Baschar al-Assad und angesichts der Bedrohung durch den »Islamischen Staat« in den Hintergrund, bleibt aber virulent.

Dschihadismus und der »Islamische Staat« (IS)

Der »Arabische Frühling« schwächte zunächst den globalen Dschihadismus, weil dessen Postulat widerlegt schien, wonach ein Sturz der Regime nur gewaltsam möglich sei. Die gescheiterten Reformprozesse bescherten jedoch einem zweiten dschihadistischen Narrativ erneut Zulauf, das besagt, Demokratie sei ein unislamisches Instrument des Westens zur Spaltung und Beherrschung der Muslime. Militante Dschihadisten haben sich mittlerweile überall dort festgesetzt, wo die Gewalt zwischen Staat und Opposition eskalierte und das staatliche Machtmonopol zerfiel, so in Syrien, Jemen, Libyen, im Irak und neuerdings in Teilen Ägyptens.

Am erfolgreichsten war dabei bislang der »Islamische Staat«. Mit der Ausrufung eines »Kalifats« am 29. Juni 2014 proklamierte Abu Bakr al-Baghdadi, die Einheit aller Muslime wiedererlangen zu wollen. Er forderte alle Muslime weltweit zur »hidschra« auf, das heißt zur Auswanderung aus dem von »Ungläubigen« beherrschten Territorium in den »Islamischen Staat«. Mit seiner apokalyptischen Vision einer nahenden Endschlacht zwischen Gläubigen und Ungläubigen und professionellem Medieneinsatz gelang es dem IS, rund dreißigtausend ausländische Kämpfer zu mobilisieren und ein regionales Netzwerk an terroristischen Zellen zu errichten.

Der kometenhafte Aufstieg des IS belegt, welchen Einfluss eschatologisch visionäre Bewegungen in Zeiten massiver Verunsicherung gewinnen können. Aus dem erfolgreichsten Transformationsland des »Arabischen Frühlings«, Tunesien, kommen (nach Saudi-Arabien) heute die meisten Kämpfer zum IS. Seine todesmutigen Dschihad-Kämpfer haben ein beachtliches Territorium in Syrien und im Irak erobert. Professionell aufgearbeitete Propagandavideos zeigen einen vermeintlich idealen Staat, in dem Gottes Gesetz anstatt korrupter menschlicher Regeln gelten soll. In Wirklichkeit herrscht dort ein Terrorregime, das die Bevölkerung mit brutaler Gewalt gängelt. Der IS verbreitet mit seinen Hinrichtungsmethoden und Terroranschlägen weit über die Region hinaus Angst und Schrecken. Massaker an Minderheiten, Angriffe auf die Staatlichkeit des Irak und Syriens sowie Drohungen gegen die Nachbarstaaten Jordanien, Israel, Libanon und Saudi-Arabien wurden mit einer erneuten westlichen Militärintervention beantwortet und haben die Muslime zusätzlich tief verunsichert und gespalten.

Herausforderungen für die moderaten Islamisten

Die von großen Erwartungen getragenen Protestbewegungen des »Arabischen Frühlings« wurden mittlerweile durch großflächige Krisen- und Kriegsherde zunichte gemacht. In der gesamten Region bilden politische Machtkämpfe und religiös-ideologische Polarisierung ein gefährliches Amalgam. Moderate Islamisten hatten einst ihre Stärke im Vergleich zu anderen Oppositionsgruppen daraus gezogen, dass sie eine authentische Identität anboten, Forderungen nach Partizipation glaubwürdig vertraten und die Vision einer besseren Welt vermittelten. Diese drei Themenfelder haben sich inzwischen zu den größten Herausforderungen nicht nur für Islamisten, sondern für die gesamte Region entwickelt.

  • Identität: Viele regionale Akteure, keinesfalls nur Islamisten, bestimmen ihre Zugehörigkeit mittlerweile primär über die Konfession. Der Sunna-Schia-Gegensatz dominiert die politische Allianzbildung und verschärft die regionalen machtpolitischen Gegensätze. Wird sich der als Stellvertreterkrieg in Syrien, Irak, Jemen und anderen Ländern stattfindende innerislamische Bürgerkrieg zu einem regionalen Krieg zwischen sunnitisch und schiitisch dominierten Staaten ausweiten? Oder gelingt es moderaten islamistischen Vertretern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften, an ökumenische Initiativen und überkonfessionelle politische Allianzen anzuknüpfen, die es in der Vergangenheit bereits gab?
  • Partizipation: Der gewaltsame Sturz des gewählten ägyptischen Präsidenten Mursi war ein schwerer Rückschlag für moderate sunnitische Islamisten. Für sie stellt sich die Herausforderung politischer Partizipation und der Implementierung eines gesellschaftspolitischen Reformprojekts in der Gegenwart neu. Werden sie sich nach dieser desillusionierenden Erfahrung künftig noch auf das Experiment kompetitiver freier Wahlen einlassen? Werden sie integrativere politische Modelle der Machtteilung entwickeln, mit denen sie breiteren Rückhalt in der Bevölkerung finden und den Brückenschlag zu Säkularen und Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften schaffen? Oder werden radikale Islamisten an Zulauf gewinnen, die einen gewaltsamen Regimesturz als einzige Option propagieren?
  • Vision: Reform-islamistische Parteien griffen die nicht eingelösten Versprechen und Forderungen des Nationalismus nach Unabhängigkeit, Gerechtigkeit, Partizipation, Entwicklung und Würde auf und präsentierten sie in einem »authentisch islamischen« Gewand. Allerdings scheiterten sie bislang dort, wo sie mitregieren, daran, diese Vision durchzusetzen. Auch aus der Enttäuschung über das erneute Scheitern zog der IS seine Legitimität. Mit seiner Brutalität und Intoleranz gegen andere Religionen hat er das Image des Islam aber schwer beschädigt. Wird es sunnitischen Islamisten des Mainstream gelingen, sich glaubwürdig von diesem Missbrauch ihrer Religion zu distanzieren? Können sie dem als Kalifat bezeichneten Terrorstaat eine positive, tolerante und integrative gesellschaftspolitische Vision entgegenstellen?

Viele der Protestbewegungen im Nahen Osten lassen sich mit dem unerfüllten Verlangen nach Identität, Partizipation und einer Vision erklären. Sollten moderate Islamisten keine Antworten auf diese drei Herausforderungen finden, werden sie weiter an Zulauf verlieren. Es wäre zu hoffen, dass sie (und andere politische Akteure) eine tolerante, pluralistische Identität statt ethnisch-konfessionellem Chauvinismus, inklusive Regierungen der Machtteilung statt Alleinherrschaft und realistische Perspektiven statt unerfüllbarer Visionen entwickeln könnten. Werden die drei genannten Herausforderungen nicht gemeistert, werden die Gesellschaften insgesamt verlieren: Immer mehr junge Menschen, insbesondere besser ausgebildete, werden ihren Heimatländern den Rücken kehren und auswandern. Sie entziehen damit der Region motivierte Fachkräfte, die für einen wirtschaftlichen Aufschwung dringend benötigt werden.

Die restaurierten autoritären Regime sind nicht in der Lage, die Gräben ihrer ideologisch und konfessionell gespaltenen Gesellschaften, die sie häufig selbst mit geschaffen haben, zu überbrücken. Eine Alternative könnten Modelle der Konsensdemokratie sein, in denen die verschiedenen Gruppen – inklusive moderater Islamisten – garantierte Anteile an der Macht erhalten, in großen Koalitionen zusammen regieren und sich auf Kompromisse einigen müssen. Grundlegende Gesellschaftsreformen können nur von integrativen Regierungen erarbeitet und durchgesetzt werden.

Gelingen diese Reformen nicht, werden die Zurückgebliebenen, die sich ausgeschlossen fühlen von der globalen Moderne, anfällig bleiben für die Heilsversprechen radikaler Prediger.

Anmerkungen

1) Rosiny, S. (2011): Ein Jahr »Arabischer Frühling« – Auslöser, Dynamiken und Perspektiven. GIGA Focus Nahost Bd. 12.

2) Bank, A.; Richter, T.; Sunik, A.: Durable, Yet Different – Monarchies in the Arab Spring. Journal of Arabian Studies 4(2), Juli 2014, S. 163-79.

3) Ausführlich beschreibe ich die unterschiedlichen Richtungen des Islamismus im Arabischen Frühling in: Rosiny, S. (2012): Islamismus und die Krise der autoritären arabischen Regime. GIGA Focus Nahost Bd. 2.
Zum »Islamischen Staat« siehe Rosiny, S. (2014): »Des Kalifen neue Kleider« – Der Islamische Staat in Irak und Syrien. GIGA Focus Nahost Bd. 6.

Dr. Stephan Rosiny studierte Politikwissenschaften, Neuere Geschichte und Philosophie in Frankfurt a.M. und promovierte 1997 zu »Islamismus bei den Schiiten im Libanon – Religion im Übergang zwischen Tradition und Moderne«. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA Institut für Nahost Studien und Redakteur der Publikationsreihe »GIGA Focus Nahost«.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2016/3 Politischer Islam, Seite 17–20