W&F 2017/3

My mind has been under occupation

Der (türkische) Militarismus und seine Folgen

von Serdar M. Degirmencioglu

Militarismus ist für den Autor nicht nur Ursache für Kriege, sondern auch eine Doktrin, die die Herzen und das Denken der Menschen besetzt. Er erzählt, wie der Militarismus sein eigenes Denken immer mehr besetzte, und beklagt, dass sich die Zunft der Psycholog*innen diesem Thema weitgehend verweigert. Am Beispiel der Türkei schildert er auch, wie der Militarismus in das Berufsleben der Menschen eingreift und dieses zerstört.

Die Besetzung meines Denkens begann 2003, etwa zu der Zeit, als die Invasion des Irak stattfand. Am 20. März, als die Luftangriffe begannen, fuhr ich mit einem Freund aus den Vereinigten Staaten zu einem Jugend-Friedenszentrum in der Nähe von Istanbul. Seine Frau, Kinder, Eltern und alle Bekannte machten sich große Sorgen. Und sie hatten recht. Wenn ein Krieg begonnen wird, werden Menschen verletzt. Krieg bedeutet Leiden. Ihre Besorgnis hielt an, bis mein Freund wieder zurück nach Hause kam.

Einige Monate später reiste ich zur New Mexico Highlands University in Las Vegas, um an der 9. Konferenz der Society for Community Research and Action teilzunehmen. Die Invasion war in meinem Denken. Und sie war auch im Denken anderer, die sich aber nicht trauten, ihre Gedanken zu äußern. Die Diskussionen fanden woanders statt, z.B. auf den Wänden der Toilette (Degirmencioglu 2003).

Ich konnte mich während der Konferenz nicht konzentrieren und ging in ein Nebengebäude. Es war das Studierendenzentrum. Im Gebäude stieß ich auf eine Wand, die mit Briefen und Botschaften bedeckt war. Es waren die Stimmen der Kinder und Jugendlichen der Stadt. Die Botschaft war immer die selbe: „Wir lieben Dich. Wir wollen Dich zurückhaben.“ Las Vegas gehörte zu den Orten, an denen junge Männer und Frauen nicht viele Optionen hatten. Viele wurden in die Armee rekrutiert. Ihre Photos hingen überall. Ich war den Tränen nahe. Das Studierendenzentrum war leer. Meine Kollg*innen waren im anderen Gebäude. Ich war der einzige Mensch, der die Schreie der Brüder und Schwestern dieser Rekruten hörte. Ich musste diese Stimmen mitnehmen. Diese Stimmen mussten Gehör finden.

Jungen Menschen eine Stimme zu geben war mir keine unbekannte Aufgabe. Im Dezember 2000 hatte ich die Kampagne »Höre meine Stimme: Ich habe auch eine Stimme« gestartet und Kinder (6-11 Jahre) und Jugendliche (bis 18 Jahre) gebeten, Botschaften an den Ministerpräsidenten zu schicken und ihm zu schreiben, was ihnen in den Sinn kam. Der Ministerpräsident musste als oberster Regierungsrepräsentant die Meinung aller Bürger*innen berücksichtigen, auch die der jungen. Die Reaktion war überwältigend. Junge Menschen waren begierig, ihre Meinung zu Gehör zu bringen. Eine Auswahl der Botschaften, die ich erhielt, wurde später in einem Buch veröffentlicht (Degirmencioglu 2006).

Junge Menschen verdienen es, gehört zu werden. Sie verdienen die Chance, in ihren Gemeinschaften und der Gesellschaft entscheidenden Einfluss zu nehmen. Das sind die Grundbedingungen für soziale Gerechtigkeit und Frieden. Es gibt aber hohe Hürden. Eine dieser Hürden ist sicherlich der Militarismus.

Der Klang der Freiheit

Militarismus ist eine Doktrin, die Menschen nicht nur gegenüber Stimmen des Friedens taub macht, sondern auch gegenüber den Stimmen ihrer Gemeinschaft – den Stimmen von Frauen, von Kindern, von Behinderten, von Unterdrückten. Die Blockaden, die Militarismus im Denken der Menschen aufbaut, können offenkundig oder subtil sein. Aber sie sind sehr real und haben sehr ernste Folgen. Die schiere Absurdität von Militarismus spiegelt sich oft in militärischen Parolen wider, z.B. „Der Lärm, den Du hörst, ist der Klang der Freiheit.“

Ich stolperte über diesen Slogan in einem Buch, das aufzeigt, wie imperiale Pläne und der Militarismus den Irak zerstörten. Der Journalist Rajiv Chandresekaran (2007) erzählt in erschreckenden Details die Geschichte der Coalition Provisional Authority (CPA, Provisorischen Behörde der Koalition) – das war der Mechanismus zur Beherrschung des Irak. Während der Irak erledigt wurde, gab es in Baghdad täglich Presse-Briefings, um der Welt zu erzählen, dass sich das Leben in Irak jeden Tag verbessert.

Beim Presse-Briefing am 24. Februar 2004, das von CPA-Sprecher Daniel Senor organisiert wurde, stellte ein irakischer Journalist eine Frage auf Arabisch. Er wollte wissen, warum die Helikopter Tag und Nacht im Tiefflug unterwegs seien. Die Kinder hätten große Angst. Sie könnten nicht schlafen. Seine Frage richtete er an Brigadegeneral Mark Kimmitt. Der antwortete so: „Was wir den Kindern von Irak sagen würden ist, dass der Lärm, den sie hören, der Klang der Freiheit ist. Diese Helikopter sind in der Luft, um Schutz, um Sicherheit zu bieten. Ganz sicher fliegen unsere Helikopter nicht absichtlich in einer Höhe, die die Kinder des Irak irritiert. Sie sind zu ihrer Sicherheit da. Sie sind zu ihrem Schutz da. Und genau so, wie meine Frau, eine Lehrerin, den Kindern im Klassenzimmer sagt, wenn sie in Fort Bragg das Artilleriefeuer hören, sie sagt dann: ‚Kinder, das ist der Klang der Freiheit.’ Ihnen scheint diese Erklärung zu gefallen. […] Sagen sie den Kindern des Irak das gleiche, dass der Lärm der Helikopter über ihrem Kopf sicherstellt, dass sie sich keine Sorgen um die Zukunft machen müssen.“ (S. 141)

Für General Kimmit kamen Helikopter und Waffen vor Kindern. Wenn das Militär sprach, hatten Kinder zuzuhören. Wenn Helikopter flogen, hatten Kinder sich daran zu gewöhnen. Wenn Waffen abgefeuert wurden, hatten Kinder das zu mögen. Krieg und die Werkzeuge des Krieges waren eine Realität. Die Welt hatte diese Realität zu akzeptieren.

Es war klar, dass der »Klang der Freiheit« lauter war als die Stimmen der Kinder im Irak. Er war auch lauter als die Stimmen der Kinder von Fort Bragg. Und er war eindeutig lauter als die Stimmen der Schwestern und Brüder in Las Vegas, die ihre Angehörigen zurück wollten. Das ist die Wahrheit. Wenn das Militär spricht, wird es gehört. Wenn Waffen sprechen, werden sie gehört. Diejenigen, die unter dem Krieg leiden, nicht.

Militarismus ist eine Doktrin, die die Herzen und das Denken besetzt. Er verwandelt sie in Steine. Wenn junge Menschen in die Armee rekrutiert werden, leiden sie. Ihre Angehörigen leiden. Und doch geht ihr Leiden im »Klang der Freiheit« unter. Und wenn eine Armee ein Land besetzt, Irak oder ein anderes, sind die Bewohner*innen gezwungen zu leiden. Und ihre Stimmen sind viel schwerer zu hören, weil der »Klang der Freiheit« lauter ist, wenn eine Invasion oder Besatzung stattfindet. Das ist der Grund, warum 14 Jahre nach der Invasion des Irak rund um die Welt nur wenig über das Leiden der Menschen im Irak veröffentlich wird. Eines ist klar: Irak ist erledigt.

Psychologie im Dienste des Militärs

Mein Denken beschäftigt sich seither mit dem Militarismus. Die Invasion des Irak half mir dabei, die Selbstzufriedenheit in der Psychologie zu erkennen. Als ich erfuhr, dass bei der Invasion des Irak Napalmbomben eingesetzt wurden, beschäftigte ich mich mit der Geschichte von Napalm und stellte fest, dass die Psychologie die Napalmbomben vollständig ignoriert hatte. Die Welt wusste von den Leiden, die Napalm verursacht, aber die Psycholog*innen interessierten sich nicht dafür. Ich veröffentlichte meine Rechercheergebnisse in Englisch und Türkisch (Degirmencioglu 2010a; 2010b). Ich reiste zu etlichen Konferenzen auf unterschiedlichen Kontinten, um die Ergebnisse bekannt zu machen (z.B. Degirmencioglu 2012). Die Psycholog*innen hörten nicht zu.

Noch schlimmer wurde es Mitte der 2000er Jahre, als klar wurde, dass die American Psychological Association (APA, Verband der Psycholog*innen in den USA) heimlich mit der Regierung von George W. Bush zusammenarbeitete, damit die Psychologie dem »Krieg gegen den Terror« besser zu Diensten sein kann. Pycholog*innen dienten dem Krieg (dem Militär und der CIA) im Irak, einem Land, das gleich neben der Türkei liegt.

Im November 2014 beauftragte der APA-Vorstand den Rechtsanwalt David Hoffmann von der Kanzlei Sidley Austin, eine »unabhängige Untersuchung« durchzuführen, ob es Beweise für die Vorwürfe gäbe, dass „APA an Aktivitäten beteiligt war, die eine heimliche Zusammenarbeit mit der Regierung Bush konstituieren, um im Krieg gegen den Terror den Einsatz »erweiterter« Befragungstechniken zu befördern, zu unterstützen oder zu ermöglichen.1

Die unabhängige Untersuchung mündete in einem Dokument, das als »Hoffmann-Bericht« bekannt wurde. Der Bericht bestätigte sämtliche Vorwürfe gegen die APA. Das änderte aber nichts daran, dass die Mainstream-Psychologie nicht zuhören wollte. Das galt für die USA, für Europa und für mein eigenes Land, die Türkei.

Den Militarismus ignorieren

Psycholog*innen in der Türkei interessieren sich kaum für Militarismus. In einem Land, in dem seit Langem die Wehrpflicht für Männer gilt, bedeutet das, dass die Psycholog*innen einer Erfahrung ausweichen, die Generation um Generation sämtliche junge Männer betrifft. Die Wehrpflicht ist natürlich nur ein Teil des Problems. Der Militarismus in der Türkei ist ein allgegenwärtiges und hartnäckiges Problem, da er sich mit Nationalismus und mit der republikanischen Tradition vermischt. Schulen sind von Militarismus geplagt (Degirmencioglu 2011), vermehrt in den letzten zehn Jahren. Die Regierungspartei will den jungen Menschen den Militarismus aufzwingen (Degirmencioglu 2013), aber Psycholog*innen interessieren sich nicht für die Indoktrinationskampagnen an den Schulen.

Militarismus befördert den bewaffneten Konflikt und nährt sich daran. Seit mehr als 30 Jahren hält der bewaffnete Konflikt zwischen den türkischen Regierungskräften und der kurdischen Guerilla-Bewegung an. Im Lauf der Jahre verschob sich der Konflikt von den ländlichen in die städtischen Gebiete. Jetzt gibt es eine städtische Volksbewegung der Kurden und eine Partei, die Demokratische Partei der Völker (HDP), die diese Bewegung im Parlament vertritt. Junge Menschen, die geboren wurden, nachdem der Konflikt in den 1980er Jahren begann, wuchsen in einer grausamen Welt auf. Viele kurdische Jugendliche, einschließlich meiner Studierenden, glauben nicht an Frieden. Sie denken, das ist ein verblassender Traum.

Militarismus gedeiht durch Tod, wenn Tod verherrlicht und in ein Privileg verwandelt wird. Das ist die Funktion des Märtyrertodes und der Mythen, die zu seiner Verherrlichung aufgebaut werden. In den 1990er Jahren, als bewaffnete Kämpfe zunahmen, nahm auch die Zahl von Soldaten, die in diesen Kämpfen getötet wurden, zu. Schnell wurden Beerdigungen gefallener Soldaten zum politischen Vehikel, um den Militarismus zu befördern, Hass und Rassismus zu säen und Wähler*innen zu gewinnen. Beerdigungen von Märtyrern wurden ein Thema, das jede größere Partei einbeziehen musste. Sozialwissenschaftler*innen hielten sich allerdings von dem Thema des Märtyrertods und wie er dem Militarismus dient fern. Ich beschloss, das Schweigen zu brechen, und arbeitete etwa drei Jahre lang an der Herausgabe eines Buches, das sich mit dem Märtyrertod auseinandersetzt. Das Buch (Degirmencioglu 2014) wurde in der Türkei von einem der großen Verlage gedruckt.

Politik des Todes

Ich sage es nicht gerne, aber auch der Tod beherrscht mein Denken.

2015 wurde der Tod eine politische Strategie in der Türkei. Das geschah nach den Wahlen im Juni des Jahres. Die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) wollte die vierte Legislaturperiode in Folge die Regierung stellen. Ihr Ziel war es, eine große Mehrheit der Sitze zu erringen und Änderungen der Verfassung durchzusetzen. Letztlich sollte ein präsidiales System nach dem Vorbild der USA eingeführt werden, das Präsident Recep Tayyip Erdogan mehr Macht geben würde. Der Präsident warnte vor Chaos, wenn seine Partei keine deutliche Mehrheit erhielte.

Am 7. Juni gaben die Wähler*innen jedoch der HDP genügend Stimmen, um die 10 %-Hürde zu überwinden, eine willkürliche Sperre, die seit Langem verhinderte, dass die kurdische Bewegung im Parlament vertreten war. Als die HDP die Hürde genommen hatte, verlor die AKP ihre Mehrheit, und im Parlament entstand ein Patt. Der Präsident suchte nicht nach politischen Alternativen. Stattdessen kam eine neue Strategie zum Zug. Die Friedensgespräche zwischen der Regierung und den kurdischen Guerillakräften wurden abgebrochen. In mehreren Städten wurde eine Ausgangssperre verhängt, und die Regierung ging militärisch gegen kurdische Zivilist*innen vor. Die Demonstration brutaler militärischer Macht fand die Unterstützung nationalistischer Hardliner und derer, die an den Autoritarismus glauben. Beerdigungen von Märtyrern wurden wieder zu Ereignissen mit hohem öffentlichem Stellenwert. Führende Politiker, einschließlich des Präsidenten, drängten junge Männer, den Märtyrertod zu suchen. Der Präsident rief nach vorgezogenen Wahlen. Das Blut, das im Sommer vergossen wurde, wandelte sich am 7. November in Stimmen. Die AKP gewann die zuvor verlorene Mehrheit wieder. Ende 2015 litt die Türkei unter der »Politik des Todes«, und der Frieden rückte in weite Ferne.

Invasion meines Berufslebens

Vor diesem Hintergrund unterzeichneten mehr als tausend Wissenschaftler*innen (Academics for Peace) eine Friedenspetition und riefen die Regierung auf, die gnadenlosen Angriffe im Südosten des Landes zu stoppen, die bei den Zivilist*innen zu zahllosen Verletzten und Toten führte. Die Petition wurde am 11. Januar 2016 veröffentlicht. Die Regierung antwortete mit einer Hexenjagd. Binnen einer knappen Woche erhielten die Universitäten Anweisung, mit dem Problem »umzugehen«. Viele Nachwuchswissenschaftler*innen an privaten Universitäten wurden entlassen. Viele Wissenschaftler*innen wurden gedrängt, ihre Unterschrift zurückzuziehen. Manche erhielten Todesdrohungen. An fast allen Universitäten wurden interne Untersuchungen aufgenommen.

Vier Wissenschaftler*innen wurden verhaftet, nachdem sie die Forderung nach Frieden auf einer Pressekonferenz wiederholten. Sie wurden der »terroristischen Propaganda« bezichtigt und mehr als einen Monat in Haft gehalten. Ihrem Prozess am 22. April wohnten zahlreiche Beobachter*innen nationaler und internationaler Organisationen bei. Das Gericht wies die fingierten Vorwürfe ab.

Die Hexenjagd war Teil des Regierungsplans, um die Universitäten von kritischen Stimmen zu säubern und zum Schweigen zu bringen. In manchen Privatuniversitäten nutzte die Verwaltung die Hexenjagd der Regierung, um Hochschullehrer*innen loszuwerden, die sich kritisch über die Institution oder die Arbeitsbedingungen geäußert hatten. Die Dogus-Universität, an der ich lehrte, war eine davon. Dogus war eine profitorientierte Institution, die zur Durchsetzung der Arbeitsbedingungen ein Klima der Angst aufbaute. Ich war ein Rebell, der nicht zum Klima der Universität passte. Als Vorsitzender des Fachbereichs Psychologie leistete ich vehement Widerstand gegen unrechtmäßige und unethische Maßnahmen zur Steigerung des Profits. Die Verwaltung hegte schon lange einen Groll gegen mich. Im Jahr 2013 wurde ich bereits 40 Tage nach meiner Arbeitsaufnahme gefeuert, weil ich dagegen war, den Profit anzukurbeln. 2014 musste die Kündigung aufgrund eines Gerichtsurteils zurückgenommen werden.

Die Universitätsverwaltung setzte am 18. Januar 2016, eine Woche nach der Friedenspetition, eine Untersuchung in Gang. Ich wurde vom Vorsitz entbunden, damit die Verwaltung Marionetten an den Fachbereich bringen konnten. Im März versuchte der Dekan, mich daran zu hindern, in Kairo eine Keynote-Speech zu geben. Als das misslang, kürzte er die Vergütung, die ich für die Übernahme zusätzlicher Lehrveranstaltungen erhielt. Als nächstes verhinderte die Verwaltung, dass ich zu einer Konferenz in die USA reisen konnte.

Ich rechnete damit, Mitte Juni, unmittelbar nach den Abschlussprüfungen, gefeuert zu werden. Ich ging davon aus, dass die Verwaltung diese Gelegenheit nutzen würde, mich ohne Abfindungszahlung loszuwerden – auch ein Weg, die Profite zu steigern. Aber die Verwaltung reagierte schneller: Ich wurde am 29. April entlassen. Als Rechtsgrundlage verwiesen sie auf eine Vorschrift, die es ermöglichte, öffentliche Angestellte zu entlassen, die am Arbeitsplatz offen politische Propaganda betrieben. Das traf auf meinen Fall nicht zu, aber das war egal. Die Verwaltung nutzte die anhaltende Hexenjagd als Vorwand, damit die Studierenden und die anderen denken sollten, der Druck der Regierung habe zu meiner Entlassung geführt. Im Mai reichte ich Klage gegen die Universitätsverwaltung ein, wohl wissend, dass das Verfahren dieses Mal vermutlich schwieriger werden würde. Selbst wenn ich die Klage gewinnen und meine Entlassung abgewiesen werden sollte, hatte sich das Blatt gewendet. Universitäten in der Türkei sind nun unter Besatzung, und mein Berufsleben in der Türkei ist wohl vorbei.

Universitäten unter Besatzung

Die Regierung leitete ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen die »Academics for Peace« ein und übergab den Fall einem berüchtigten Staatsanwalt. Da kein Verbrechen vorliegt, gibt es keine Beweise. Die Staatsanwaltschaft beschloss, durch inkriminierende Fragen Beweise zu schaffen. Der Plan war, alle diejenigen, die die Petition unterzeichnet hatten, in die Polizeistationen einzubestellen. Die Wissenschaftler*innen würden persönlich und einzeln vorsprechen, 14 Fragen beantworten und sich so selbst belasten.

Allerdings beschlossen wir kollektiv, keine dieser Fragen zu beantworten. Eine Gruppe junger, engagierter Anwält*innen begann, uns pro bono zu beraten. Um die Einschüchterungsstrategie umzukehren, traten unsere Anwält*innen auf den Plan. Jede*r einzelne Wissenschaftler*in wurde beim Gang zur Polizei anwaltlich begleitet. Jede*r einzelne Wissenschaftler*in gab an, dass sie/er gefordert habe, Frieden zu schaffen, und dass dies unter die Meinungsfreiheit fällt. Die Polizeibeamten mussten mit »copy and paste« arbeiten: Die Aussagen waren identisch. Der Plan des Staatsanwalts geriet so zur Lachnummer. Keine einzige Frage wurde gestellt. Keine einzige Frage wurde beantwortet. Das wurde durch gemeinschaftliche Anstrengungen ermöglicht, durch die Solidarität von Wissenschaftler*innen und Anwält*innen.

Die Situation verschlechterte sich nach dem 15. Juli 2016, als ein misslungener Putschversuch es der Regierung erlaubte, Sonderbefugnisse zu erlangen. Zuerst wurden sämtliche Universitätsdekane im Land aufgefordert, sofort zurückzutreten. Dieser Schritt sollte Furcht verbreiten. Die Botschaft war laut und eindeutig: Das Regime hatte die volle Kontrolle über die Universitäten, und es fand eine Säuberung statt. Bald wurde der Notstand erklärt, und 15 Universitäten wurden wegen angeblicher Verbindung zur Gülen-Bewegung über Nacht geschlossen. Die Studierenden, die an diesen Universitäten eingeschrieben waren, wurden zu akademischen Waisen. Wissenschaftler*innen und Verwaltungsangestellt wurden über Nacht arbeitslos.

Am 1. September wurde ein Regierungsdekret erlassen, durch das mehr als 50.000 Angestellte des öffentlichen Dienstes ihre Stelle verloren, darunter 2.356 Wissenschaftler*innen. Zu letzteren gehörten mehr als 40 Mitglieder der »Academics for Peace«.

Während die Säuberungen täglich weitergehen, ist das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit verschwunden. Die Säuberungen führen zur Auflösung der Universitäten, der Schulen und des Glaubens an die Demokratie. Die Hoffnung für Frieden schwindet. Psycholog*innen, die Militarismus, soziale Gerechtigkeit und Frieden jahrelang ignorierten, sind jetzt mit dem bevorstehenden Kollaps der Universitäten, ihrer heimatlichen Basis, konfrontiert.

Politik der Dämonisierung

Seit dem gescheiterten Putschversuch herrscht in der Türkei der Ausnahmezustand, der alle drei Monate verlängert wird. Wenn eine Regierung den Ausnahmezustand erklärt, Sonderbefugnisse erlangt und per Dekret regiert, gibt es für diese Regierung keinen Grund, diese Machtbefugnisse aufzugeben und den Ausnahmezustand aufzuheben. Wenn eine Regierung nahezu die totale Kontrolle erlangt, d.h. das Parlament, das Rechtswesen, die Massenmedien und die Kommunalverwaltungen kontrolliert, gibt es für diese Regierung kaum einen Grund, sich an die Verfassung, die bestehenden Gesetze oder die Menschenrechte zu halten. So eine Regierung bewegt sich rasch Richtung Totalitarismus.

An diesem kritischen Punkt ist es vielleicht hilfreich, sich an den Fall Paraguay zu erinnern, wo sich Alfredo Stroessner 1954 als Diktator etablierte und die Macht 35 Jahre lang behielt, bis 1989. Als er an die Macht kam, erklärte er den Ausnahmezustand und verlängerte diesen während seiner gesamten Diktatur alle drei Monate. Seine Herrschaft war für Paraguay eine Katastrophe. Diese historische Lektion lehrt uns, dass die Entwicklung der Türkei hin zum Totalitarismus unvermeidlich ist. Angesichts der Fakten und des Verfassungsreferendums vom April 2017 kann das jetzige Regime in der Türkei kaum anders denn als Diktatur bezeichnet werden.

Wenn die totale politische Kontrolle in Reichweite ist, sieht sich ein diktatorisches Regime sozusagen genötigt, jegliche Opposition auszuschalten und so die Hindernisse auf dem Weg zum Totalitarismus zu beseitigen. Dementsprechend hat das jetzige Regime der Türkei sich sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch für den Militarismus entschieden. Sämtliche oppositionellen Medien gerieten in den Fokus, und die Türkei wurde zum Land mit der höchsten Zahl inhaftierter Journalist*innen. Die Regierung behauptet, diese Journalist*innen seien Verräter*innen, Spion*innen (d.h. Feinde). Die Feinde sind überall. Es können Journalist*innen sein oder Führungspersonen und Abgeordnete der HDP, die vom Volk gewählt wurden, oder Demonstrant*innen auf der Straße. Sie alle verdienen, im Gefängnis zu sein oder schlimmer.2

Die Feindrhetorik ist beabsichtigt. Recep Tayyip Erdogan, der Präsident der Turkei, nutzt absichtlich jede Gelegenheit, einen Feind zu erfinden. Ziel ist die Polarisierung der Öffentlichkeit. Der Feind ist überall, in der Türkei und außerhalb. Die Öffentlichkeit muss sich daher entscheiden, ob sie hinter dem Feind oder hinter der Regierung steht (also ihm).3 Der Feind sind ausländische Mächte, der Feind sind Russland, die Niederlande, Deutschland – der Feind ist jeder, den das Regime als Feind ansieht. Und der Feind kann nach Belieben der Regierung wechseln.

Eine Analogie, die von Erdogan wieder und wieder herangezogen wird, hat mit Verstecken zu tun. Das sind Unterschlupfe der Feinde der Türkei, und es scheint, die Türkei ist voll von ihnen. Die »Versteck«-Analogie wurde ursprünglich genutzt, um die bevorstehende Verfolgung der Gülen-Anhänger anzukündigen. Die Regierung war stark und entschlossen, „in die Verstecke“ der Gülen-Anhänger zu marschieren. So sagte Erdogan, der damals Ministerpräsident war, 2014: „Also, heute ist der 30. März. Was haben sie gesagt? Sie sagten ‚Chaos nach dem 25. März’. Stimmt. Wir sahen das Chaos. Was war dieses Chaos? Dieses Land bekam die Gelegenheit, die Verräter zu sehen, die das Außenministerium abhörten und Verrat begingen, indem sie sich in die nationale Sicherheit dieses Staates und der Menschen einmischten. Das war ihr Chaosplan. Ich habe seit Monaten gesagt, ‚Wir werden in ihre Verstecke marschieren’.“4

Ursprünglich war die Analogie auf Gülen-Anhänger beschränkt. Später wurde sie auch für andere verwendet, besonders für die kurdischen Guerilleros, die als Bestien dargestellt wurden, die sich in Höhlen verstecken. Die Regierung war stark und entschlossen, in die Höhlen zu marschieren, wo auch immer diese sein mögen.

Ihre Kraft bezieht die »Versteck«-Analogie natürlich aus den inhärenten Bestien. Das Regime will seine Feinde als Untermenschen, als »häßliche Ungeheuer« darstellen, die es verdienen, eliminiert zu werden. Sie verdienen nichts Besseres, weil sie per Definition »Untermenschen« sind.

Diese Strategie wurde schon von vielen anderen eingesetzt, und sie ist sehr gefährlich: „Schau zurück auf einige der tragischsten Episoden der menschlichen Geschichte, und Du wirst Worte und Bilder finden, die Menschen ihre grundlegenden menschlichen Eigenschaften absprechen. In der Nazi-Zeit stellte der Film »Der ewige Jude« Juden als Ratten dar. Im Genozid von Ruanda nannten Hutu-Offizielle Tutsis ‚Kakerlaken’, die ausgemerzt werden müssten.“ 5

Die Geschichte liefert uns viele Fälle, in denen die Porträtierung politischer Gegner als Untermenschen die Lizenz zum Töten lieferte. In der Türkei war und ist das so. Die Seiten der Online-Medien, z.B. YouTube, sind voll von Videos, in denen Guerilleros misshandelt, gefoltert oder schlicht exekutiert werden. Und dazu muss man gar keiner Guerilla-Truppe angehören. Jeder, der für »einen von denen« gehalten wird, verdient diese Behandlung. Die Titel und Kommentare solcher Videos verweisen oft auf »Untermenschen«, die eliminiert werden. Die Leichen verdienen keinen Respekt und werden daher als »Kadaver« bezeichnet. Einen Guerillero zu töten, heißt »einen Kadaver auf seine Kappe zu nehmen« usw.

Die Propaganda wird nicht einmal im Ramadan unterbrochen, der doch ein Monat der Brüderlichkeit und des Friedens sein soll. Am 7. Juni 2017 ergriff der Präsident der Türkei das Wort bei einem Fastenbrechen, das von hochrangigen Angehörigen der Sicherheitskräfte organisiert wurde. Unter Verweis auf diejenigen, die im Juli 2016 an dem Putschversuch beteiligt waren, sagte er, diese verdienten mehr als eine Gefängnisstrafe: „Wenn“, sagte er, „diese Terroristen jemals ihre Strafe abgesessen haben und aus dem Gefängnis spazieren, wird die Öffentlichkeit sie strafen: Sie werden ihnen ins Gesicht spucken und sie in der Spucke ertränken.“6

Wer immer noch nicht versteht, was in der Türkei passiert, dem sollten diese Worte genügen. Der Präsident der Türkei ist der Richter, die Geschworenen und der Staatsanwalt in einer Person. Er weiß, wer schuldig ist, wer ein Terrorist ist, wer ein Feind ist. Er weiß auch, wie der Gerechtigkeit Genüge getan werden kann. Er hat kein Problem, zum Lynchen durch Spucken aufzurufen, und es wäre ihm egal, wenn aus dem Spucken etwas Drastischeres würde. Er weiß, dass Dehumanisierung ein geistiges Schlupf­loch ist, das es zulässt, dass Menschen anderen Menschen Leid antun.

Die Türkei ist eindeutig auf Crash­kurs, und die Seele des Landes wird korrumpiert zugunsten von Hegemonie und Tyrannei. Was in der Türkei passiert, ist so ungeheuerlich, so surreal, dass es sich anfühlt wie ein grauenhaft militaristischer Film, der in Endlosschleifen sinnloses Töten zeigt. Aber es ist kein Film. Es ist keine Animation. Die Türkei befindet sich mitten in der Tragödie, die jeden Tag schlimmer wird.

Militarismus zerstört akademische Freiheit

Während ich diesen Text abschließe, ist mein Denken von unterschiedlichen Kräften besetzt, von Kräften, von denen ich mir wünschte, dass sie nie existierten. Auch der Tod besetzt mein Denken. Es fand eine Invasion meines Berufslebens statt, und die Universitäten, denen ich so viel Zeit gewidmet habe, stehen unter Besatzung. Mein Heimatland wird erledigt.

Ich empfehle, dass Sie meine Worte ernst nehmen. Wenn Militarismus vorherrscht, ist die akademische Freiheit zum Verschwinden verdammt. Psycholog*innen müssen den Frieden ernstnehmen, um ihres Berufs willen, wenn nicht sogar um des Gemeinwohls willen.

Anmerkungen

1) American Psychological Association (o.J.): ­Report of the Independent Reviewer and Re­lated Materials. apa.org/independent-review/.

2) Turkey seeking up to 142 years in jail for co-head of pro-Kurdish opposition party. Deutsche Welle, 17.1.2017; dw.com.

3) “Gün, Mücadele ve Zalimlerin Üzerine En Sert Sekilde Gitme Günüdür”. Türkiye Cumhuriyeti, 16.3.2016; tccb.gov.tr.

4) FULL TEXT: Turkish PM Erdogan’s post-election »balcony speech». Hürriyet Daily News, 31.3.2014; hurriyetdailynews.com.

5) Resnick, B.: “They’re not even people”: why Eric Trump’s dehumanizing language matters – The psychology of what happens when we think our opponents are less than human is troubling. Vox, 7.6.2017; vox.com.

6) “Türkiye’yi Tacize ve Tehdide Yeltenenler, Bunun Bedelini Öder”. Türkiye Cumhuriyeti, 7.6.2017; tccb.gov.tr.

Literatur

Chandrasekaran, R. (2007). Imperial Life in the Emerald City – Inside Baghdad’s Green Zone. London: Bloomsbury Publishing.

Degirmencioglu, S.M. (2003). Impressions from the Biennial. The Community Psychologist, Vol. 36, No. 3, S. 27.

Degirmencioglu, S.M. (2005) Sesimi Duyun – Benim de Sesim Var. Ankara: Kök Yayincilik.

Degirmencioglu, S.M. (2006). Hear My Voice – I, too, have a voice. Dialogue on Participation, No. 3, S. 9.

Degirmencioglu, S.M. (2010a) The psychology of napalm – Whose side are psychologists on? Journal of Critical Psychology, Counselling and Psychotherapy, Vol. 10, No. 4, S. 196-205.

Degirmencioglu, S.M. (2010b) Napalm düstügü yeri yakar – Psikoloji kimin yaninda? Elestirel Psikoloji Bülteni, No. 3-4, S. 46-66.

Degirmencioglu, S.M. (2011). Militarism all over schools in Turkey. Broken Rifle, No. 88.

Degirmencioglu, S.M. (2012). Psychology of napalm – Why do psychologists avoid burning issues? International Congress of Psychology, Cape Town, South Africa.

Degirmencioglu, S.M. (2013). Young people in Turkey besieged by militarism – Past and pres­ent. In: Everett, O. (ed.): Sowing Seeds – The Militarization of Youth and How to Counter it. London: War Resisters’ International, S. 71-78.

Degirmencioglu, S.M. (ed.) (2014): “Öl Dediler”, Öldüm – Türkiye’de Sehitlik Mitleri. Istanbul: Iletisim Yayinlari.

Serdar M. Degirmencioglu (serdardegirmencioglu@gmail.com) war bis zu seiner Entlassung im April 2016 Professor für Entwicklungs- und Gemeindepsychologie an der Dogus-Universität in Istanbul. Seitdem war er Gastwissenschaftler an der American University in Cairo, der University of Macerata and L’Université libre de Bruxelles. Seine letzten Bücher befassen sich mit Tabus (z.B. dem Märtyrertod) und vernachlässigten Themen (z.B. profitorientierten Universitäten, psychologischen Auswirkungen von privater Verschuldung). Zur Zeit ist er Mitglied des Exekutivausschusses der »Society for the Study of Peace, Conflict, and Violence: Peace Psychology«.
Dieser Artikel wurde Anfang Juni 2017 fertiggestellt.
Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/3 Ressourcen des Friedens, Seite 39–43