W&F 2007/4

Nach dem Brüsseler EU-Gipfel …

von Albert Fuchs

im Juni dieses Jahres und zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft unter Angela Merkel waren nicht nur verkappte Regierungspostillen voll des Lobes. So zollte bspw. Joschka Fischer der Kanzlerin Respekt und Anerkennung; sie könne zu Recht stolz sein auf das Erreichte; habe sie doch mit vollem Einsatz gekämpft, sei ein hohes Risiko eingegangen und habe gewonnen. Andere schrieben der Kanzlerin zu, von einer tiefen europäischen Überzeugung angetrieben zu sein, oder wiesen u.a. darauf hin, dass sie jeden Gipfel akribisch vorbereite und durch eine »absolut egofreie«, zielorientierte Verhandlungsführung zu einem konzilianteren Klima beitrage. Der »sanften Gewalt« der von ihr ausgelösten neuen europäischen Dynamik könnten die Bremser und Zweifler sich nicht entziehen.

Gewiss, auch die sprichwörtliche NormalbürgerIn, deren Eindruck vom Agieren der Kanzlerin im Wesentlichen auf deren TV-Auftritten beruht, wird den Gegensatz zu dem aufdringlichen Macht-Gehabe des Basta-Kanzlers der Vorgängerregierung zu schätzen wissen. Frau Merkels Umfragewerte sprechen augenscheinlich eine deutliche Sprache. Es tut der Anerkennung eines Stilwechsels keinen Abbruch, wenn man sich von diesem Wechsel nicht blenden lässt und unter Rückgriff auf die bewährte Unterscheidung von »Ton« und »Sache« das Ergebnis wie den Weg dahin kritisch bewertet.

Nehmen wir nur die vorgeblich größte Leistung der deutschen Präsidentschaft unter Merkel, die Einigung auf eine EU-Vertragsreform, auf einen »Generalvertrag« anstelle einer Verfassung. Der irische Regierungschef, Bertie Ahern, ließ wissen, etwa 90 Prozent des am Nein der Franzosen und Niederländer gescheiterten Verfassungsvertrags blieben unverändert. Und der Hauptpromotor jenes Entwurfs, der ehemalige französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing, gab zu verstehen, die Inhalte würden lediglich anders dargestellt; die Regierungen hätten sich auf kosmetische Operationen verständigt, um Referenden in den Mitgliedstaaten zu umgehen. So bezieht sich denn auch das Mandat nicht auf den Verfassungsvertrag, sondern auf die Ergebnisse der Regierungskonferenz von 2004 – so dass (oder damit?) die engen Bezüge nicht unmittelbar auf der Hand liegen. Aber gerade der Inhalt war es, der in Frankreich und den Niederlanden in Frage gestellt wurde. Hinzu kommt, dass nur noch Regierungsexperten den Reformvertrag aushandeln sollen. Was an diesem Verfahren demokratisch sein soll, wird »top secret« bleiben. Man mag geltend machen, dass es ja nicht mehr um eine Verfassung gehe, sondern eben um einen multilateralen Vertrag zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten. Doch das bräuchte man vielleicht nicht als Etikettenschwindel zu empfinden, wenn nicht gleichzeitig die Inhalte weitestgehend unverändert blieben – darunter nicht zuletzt die hinlänglich bekannten materialen Demokratiedefizite – und wenn die Europäische Gemeinschaft nicht längst in einem Maße Staatsfunktionen übernommen hätte, das einen weiteren Schritt zur Verfassungsgebung bedingt.

Aus der Perspektive unserer Zeitschrift und erst recht im Hinblick auf den Schwerpunkt des vorliegenden Heftes erscheint besonders gravierend, dass nach wie vor keine parlamentarische Kontrolle der EU-Außen- und Militärpolitik vorgesehen ist. Diese demokratiewidrige Zumutung wird dadurch potenziert, dass gemäß Mandat für den neuen Vertrag, „das zweite Kapitel … die auf der RK 2004 geänderten Bestimmungen des Titels V des bestehenden EUV (einschließlich des Europäischen Auswärtigen Dienstes und der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich)“ enthalten soll. Damit werden ausdrücklich alle Regelungen des Verfassungsvertrags für den Militärbereich in den Reformvertrag übernommen. Einzelheiten brauchen hier nicht (nochmals) erörtert zu werden. Es sei nur darin erinnert, dass demnach auch der Europäische Gerichtshof weiterhin keinerlei Kontrollbefugnis gegenüber Exekutiventscheidungen in Fragen von Krieg und Frieden hat. In Verbindung mit einem impotenten Parlament ist das mehr als die anglo-amerikanische Act of state-Doktrin; das ist die »königliche Prärogative« pur.

Stellt man in Rechnung, dass einerseits auch die amtierende Bundesregierung die Militarisierung der EU via GASP bzw. ESVP als Schlüsselprojekt einer politischen Union betreibt und dass andererseits diese Militarisierung längst auch ohne Vertrag läuft, erscheint der eingangs gewürdigte Aktionsstil der deutschen EU-Ratspräsidentin in einem ganz anderen Licht: als raffinierte Strategie zur Durchsetzung der Wiedergeburt Europas aus dem Geist der Vorherrschaft und Gewalt – vor allem in geopolitischer Perspektive. Der Widerstand gegen diese europäische Einigungsdynamik ist mehr denn je angesagt. Die zivilgesellschaftlichen Akteure aber, die trotz alledem auf die Zähmung dieser Dynamik setzen und sich auf eine Kooperation mit den Regierenden einlassen, müssen nicht nur vor ›nützlicher Idiotie‹ auf der Hut sein, sondern auch vor Selbst-Infizierung mit dem ungebrochenen Geist vermeintlicher kultureller Überlegenheit.

Albert Fuchs

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2007/4 Europäische Sicherheitspolitik, Seite