Nachgefragt: Syrien nach der Diktatur?
Interview mit Sophie Bischoff, Adopt a Revolution
von Maria Hartmann
Im Dezember 2024 fiel das Regime al-Assad. Eine über 50 Jahre währende Diktatur in Syrien wurde damit beendet. Zum ersten Mal seit vielen Jahren können Syrer*innen weltweit aufatmen. Viele kehren nun aus dem Exil in ihre Heimat zurück, und sei es nur für einen ersten Besuch. Aber auch solidarische Aktivist*innen, die seit über einem Jahrzehnt versuchen, die Arbeit der syrischen Zivilgesellschaft trotz Diktatur und Krieg aus dem Ausland zu unterstützen, konnten erstmals einreisen. W&F-Redakteurin Maria Hartmann hat mit ihrer ehemaligen Kollegin Sophie Bischoff von »Adopt a Revolution« im Anschluss an eine mehrwöchige Reise zu den Partner*innen in Syrien gesprochen. Das Interview gibt Einblicke in die aktuelle Lage im Land und in vorsichtige Hoffnungen einer Zivilgesellschaft auf das, was vor wenigen Wochen noch unvorstellbar war: eine Zukunft im Frieden.
W&F: Sophie, nach dem Fall des Regimes im Dezember 2024 konntest du zum ersten Mal seit 2011 nach Syrien reisen und die Partner*innen persönlich treffen. Wie geht es den Menschen vor Ort?
Sophie Bischoff: Ich hatte das große Glück, tatsächlich fast alle Vertreter*innen unserer Partnerorganisationen treffen und mir die Arbeit auch direkt vor Ort ansehen zu können.
Vor dem Zusammenbruch des Regimes im Dezember 2024 haben unsere Partner*innen eigentlich alle im zivilgesellschaftlichen Bereich gearbeitet. Fast alle haben in den Gebieten außerhalb der Regime-Kontrolle lokale Zentren – wie Nachbarschaftszentren – betrieben, mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Es sind zum Beispiel einige Frauenzentren darunter. Andere, etwa die Partner*innen in Afrin, betreiben Zentren für Dialog zwischen der lokalen kurdischen Bevölkerung und der dorthin vertriebenen Bevölkerung aus Ost-Ghouta. Diese hatten das Ziel, Handlungsmöglichkeiten für die herausfordernde Situation vor Ort gemeinsam mit der Zivilgesellschaft zu entwickeln, auch unter anderem bezüglich der Repression durch türkisch finanzierte Milizen. Sie arbeiten im Bereich politische Bildung und politisches Empowerment, aber auch ganz praktische, lebensnahe Bildung und Ausbildung. In den Frauenzentren werden etwa auch unterschiedliche Berufe gelehrt. Zudem gibt es Weiterbildungen und Sprachkurse.
Da zivile Akteure über viele Jahre wenig an der größeren politischen Situation in Syrien ändern konnten, versuchten sie zumindest im lokalen Kontext auf demokratische Prozesse einzuwirken und Empowerment von marginalisierten Gruppen zu ermöglichen. Die verschiedenen Gegebenheiten vor Ort zu navigieren bedeutete auch, unter verschiedenen de facto Machthabern zu operieren, sei es jetzt im Nordosten unter der kurdischen Selbstverwaltung, im Nordwesten unter einer Art türkischer Besatzung sowie Hai’at Tahrir asch-Scham – jetzt vielen bekannt als HTS –, oder in Sweida eben noch unter dem Regime.
Mit Blick auf die Lage der Partner*innen jetzt gerade würde ich es so einschätzen: Generell gibt es natürlich als allererstes eine riesige Freude und Erleichterung darüber, dass diese vierzehn Jahre extreme Repression und Gewalt erstmal vorbei sind. Die Menschen haben unterschiedliche Formen extremer Gewalt erfahren – in Gefängnissen oder weil sie aus Regionen stammen, die unter ständigen Bombardements des Regimes standen. Ihre Wohnviertel und Nachbarschaften wurden dem Erdboden gleichgemacht und sie wurden vertrieben. Dass endlich dieses Regime gestürzt ist – ein Traum, für den sie ja 2011 alle auf die Straße gegangen sind – ist über den Krieg hinaus ein historischer Moment: Über 50 Jahre Diktatur sind vorbei.
Gleichzeitig kommt mit diesem Sturz auch viel Schmerz hoch. Einfach die Vergegenwärtigung dessen, was man alles erlitten und wen und was man alles verloren hat. Ich habe das zum Beispiel für diejenigen beobachtet, die aus Ost-Ghouta nach Idlib vertrieben wurden und jetzt zurückkehren können. Es gab viele Momente, an denen ich mit Partner*innen in ihren zerstörten Herkunftsorten stand und so viel Schmerz über diese endgültige Realisierung hochkam, wie viele in den letzten 14 Jahren für diese Befreiung ihr Leben lassen mussten. Das setzt, glaube ich, bei vielen jetzt erst so richtig ein.
W&F: Gab es besonders bewegende Momente oder auch Orte auf dieser Reise?
Sophie Bischoff: Auf persönlicher Ebene war es natürlich unglaublich toll, diese Menschen, mit denen ich zum Teil seit 2012, also seit zwölf Jahren, online im engen Kontakt bin und zusammenarbeite, zum ersten Mal persönlich treffen zu können. Viele Leute, mit denen ich schon lange zusammengearbeitet habe, haben gesagt: „Ihr gehört für uns auch dazu, zu dieser Bewegung und zu diesem Kampf um Gerechtigkeit und Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und Freiheit.“ Dieses Gefühl, über ein schlichte Projektabwicklung hinaus in der politischen Solidarität so sehr verbunden zu sein, finde ich natürlich sehr schön.
Es gab viele sehr bewegende Momente und Begegnungen – im Frauenzentrum in Idlib, im Treffen mit ehemaligen Gefangenen, die noch bis zuletzt gefoltert wurden. In manchen Zusammentreffen hatte ich das Gefühl, dass letztlich jede Person im Raum von Gewalt und Verlust betroffen ist. Auch war es bewegend, mit den Leuten in den ehemaligen Regimegebieten zu sprechen und zu realisieren, wie hoch das Level an Angst und Repression unter dem Regime gewesen ist. Ich hatte den Eindruck, in diesen Gebieten hatten Leute schon Angst, über politische Fragen auch nur nachzudenken, geschweige denn miteinander zu sprechen.
Man kann nur erahnen, was es bedeutet, wenn Leute jetzt plötzlich laut in den Cafés und auf den Straßen politische Fragen diskutieren können, selbst wenn es um kritische Fragen zu den aktuellen Machthabern der HTS geht, und zu merken: Okay, die Angst, diese krasse Angst, die dieses ganze Land Geisel gehalten hat, die ist weg! Wir können uns miteinander unterhalten, wir können uns treffen, wir können miteinander sprechen, wir können kritisieren, wir können träumen! Ich habe ein erstes Theaterstück besucht, das in Damaskus aufgeführt wurde, in einem sehr, sehr großen Saal, der brechend voll war. Dort durften kritische Sachen über das Regime gesagt werden. Die Menschen waren so ausgehungert, genau diese Dinge zu tun.
Was jetzt unglaublich wichtig ist, ist zu differenzieren zwischen denjenigen, die in Damaskus die Macht ergriffen haben und diesen Menschen, die 14 Jahre lang an ihren Prinzipien und an den Zielen ihres Aufstands und ihrer Bewegung festgehalten haben – und dafür auch im Kleinen und im Lokalen immer weitergearbeitet haben. Diese Menschen gilt es jetzt zu unterstützen und eben nicht in einer internationalen Linken oder internationalen Gemeinschaft erneut den Fehler zu machen, sie im Stich zu lassen.
W&F: Wie gehen die Partner*innen jetzt mit der politischen Situation um und wie bewerten sie die aktuellen Entwicklungen?
Sophie Bischoff: Für viele von unseren Partner*innen ist die Machtübernahme von HTS natürlich nicht ideal. Jene, die im Nordwesten Syriens leben, haben ja zum Teil schon die letzten Jahre unter HTS gearbeitet. Sie haben das in einer oppositionellen Haltung getan und da auch Repressionen durch HTS erlitten und Konflikte mit ihnen ausgehandelt. Das führt aber auch dazu, dass sie die neuen Machthaber gut kennen und auch wissen, wie man mit ihnen umgeht und sich als Zivilgesellschaft gegen sie zur Wehr setzt, wenn mögliche Repressionen bevorstehen. Da haben sie Erfahrungen gesammelt.
Aber sie vertrauen eben Ahmad Sharaa nur bedingt, weil sie ihn schon aus Idlib kennen. Trotzdem versuchen sie, konstruktiv zu sein. Sie sagen: Wir müssen jetzt irgendwie zusammenarbeiten. Ihnen geht es in erster Linie jetzt erst mal darum, einen Beitrag zur Stabilität zu leisten und dazu, dass jetzt der Aufbruch gelingt. Dafür müssen sie auch mit den aktuellen Machthabern kooperieren, dabei aber eben auch ganz genau hingucken: Wenn diese neuen Machthaber Dinge tun, die ihnen nicht gefallen, dann muss die Zivilgesellschaft reagieren. Ihrer Überzeugung nach fühlen sie sich ein Stück weit verantwortlich dafür, ein nach vorn gerichtetes Korrektiv der aktuellen Machthaber zu sein. Sie sind vorsichtig optimistisch, dass in allen Teilen des Landes Menschen wirklich diese Chance nutzen wollen, ein neues und demokratisches Syrien aufzubauen.
Aber gerade aus der Erfahrung im Umgang mit HTS höre ich von der Zivilgesellschaft als zentrale Forderung, jetzt aktiv eingebunden werden zu wollen in die politischen Prozesse. Unsere Partner*innen haben Zweifel, ob die aktuellen Machthaber das proaktiv ausreichend tun werden. Etwa soll es eine nationale Vorbereitungskonferenz für die Bildung einer Übergangsregierung geben, an der zivile Akteur*innen aus allen Bereichen der Gesellschaft teilnehmen können oder auch die Bildung eines Verfassungskomitees. Diesbezüglich gibt es einfach große Fragezeichen: Wer wählt aus, wer an dieser Konferenz teilnimmt? Darf das die Regierung in Damaskus bestimmen? Oder sollte es nicht eher so sein, dass die einzelnen Orte und die einzelnen politischen Gruppierungen im Land ihre Vertreter*innen selbst dorthin senden? Und werden sie langfristig wirklich mit einbezogen in diese Transitionsphase in Syrien? Es besteht auf jeden Fall viel Angst davor, ausgeschlossen zu werden. Die Zivilgesellschaft erwartet genau an dieser Stelle vom solidarischen Ausland, Unterstützung zu erfahren, damit das nicht so einfach passieren kann.
W&F: Was macht die syrische politisch engagierte Zivilgesellschaft gerade ganz konkret?
Unter den Partner*innen ist das Bedürfnis groß, sich untereinander zu treffen, sich auszutauschen mit Leuten aus den anderen Regionen, die jetzt die letzten zehn Jahre komplett isoliert voneinander existiert haben. Wir sind zum Beispiel mit Partner*innen aus Idlib und aus Afrin gemeinsam zu anderen Partner*innen nach Sweida gefahren. Das ist aktuell ein wesentlicher Teil der Arbeit: Vernetzung, Austausch und Dialog. Gemeinsam zu versuchen, Barrieren und auch Vorurteile, die in den letzten Jahren entstanden sind, aufzubrechen und an der Versöhnung zu arbeiten.
Gerade die zivilgesellschaftlich engagierten Menschen haben große Lust, endlich diesen Austausch zu haben. Sie sehen es als ihre Verantwortung an, in diesen Fragen von Dialog und Versöhnung die Vorreiter*innen zu sein und darüber hinaus gemeinsame politische Forderungen aus der Zivilgesellschaft zu formulieren – basierend auf den Werten, die sie seit 2011 in ihrer Bewegung vorantragen. Das gilt besonders für jene Aktivist*innen aus dem Nordwesten, die bereits Erfahrungen in dieser Arbeit haben sammeln können und die ihr Wissen nun an Menschen aus den anderen Regionen weitergeben möchten.
Bei solchen Zusammentreffen werden dann Fragen diskutiert wie: Wie stelle ich mir eine Verfassung vor? Wie möchte ich in diesem Staat leben? Was ist Rechtsstaatlichkeit? Welche Rechte habe ich? Wie kann die Dezentralisierung Syriens aussehen? Das alles konnte ja in den Regimegebieten nicht besprochen werden.
W&F: Auch wenn Assad gestürzt ist, schweigen die Waffen noch nicht im ganzen Land. Was kannst du uns zur Situation im Nordosten sagen?
Sophie Bischoff: Im Generellen schienen mir auf meiner Reise durch das Land erstmal die allermeisten unendlich erleichtert, dass dieser Albtraum unter dem Regime von Assad endlich vorbei ist.
Aber natürlich gilt eine wichtige Einschränkung, weil im Nordosten des Landes die Türkei nach wie vor militärisch aktiv ist. Für die Bevölkerung dort ist die Situation noch nicht auf diese Art und Weise »geklärt« und eben noch kein friedlicherer Zustand erreicht. In der Bevölkerung, die ja nicht nur kurdisch, sondern auch arabisch ist, gibt es viele Fragezeichen und Ängste, wie die Einigung zwischen der Selbstverwaltung, den SDF und den aktuellen Machthabern in Damaskus am Ende ausfallen wird. Ob sie es schaffen werden, sich auf politischer Ebene auch zu einigen. Das haben die Leute aus dem Nordosten, die ich getroffen habe, alle sehr stark betont. Laut denen, mit denen ich aus dem Nordosten gesprochen habe, braucht es eine Einigung und es braucht eine Einbindung dieser Region in den Aufbau des gesamten Syriens. Gleichzeitig müsste sichergestellt werden, dass es bestimmte Garantien und Zusicherungen von Rechten gibt.
Das betrifft aber nicht nur die Bevölkerung im Nordosten, sondern gilt eigentlich für viele Teile der Bevölkerung Syriens. Die Stimmen, die ich vernommen habe, haben immer betont, dass man sich jetzt zusammenschließen und eine gemeinsame Lösung finden müsse, die für alle Bevölkerungsteile in Syrien gut ist und nicht langfristig einzelne Regionen nur über ihre eigenen Geschicke verhandeln. Doch dafür müssen auch erst einmal die Waffen schweigen.
W&F: Was hast du für die politische Zukunft Syriens auf deiner Reise beobachtet? Welche Wünsche und Bedarfe gibt es? Welche Forderungen werden laut?
Was den Leuten Sorgen macht, sind die Sicherheitslage und die Stabilität. Es gibt ein Sicherheitsvakuum, ein Machtvakuum! HTS hat nicht die personelle Kapazität, etwa in der Polizei, wirklich flächendeckend in Syrien Sicherheit herzustellen. Das gilt auch für so banale Dinge wie Kleinkriminalität. Überfälle, bei denen Leuten nachts auf der Straße das Geld abgenommen wird, oder Einbrüche. Also Dinge, die dann gar nichts mit dem Politischen zu tun haben. Hier wünschen sich viele Menschen größere alltägliche Sicherheit.
Trotzdem ist es faszinierend, dass es eben bisher sehr wenige Übergriffe von unterschiedlichen Bevölkerungsteilen aufeinander gibt und dass offensichtlich die meisten Syrer*innen gerade ein großes Interesse daran haben, dass das Land jetzt nicht abrutscht in weitere bewaffnete Konflikte oder gar eine von Rache geprägte Unsicherheit. Daher haben viele Menschen immer wieder angemerkt, dass sie hoffen, dass diese Sicherheit und relative Stabilität weiter halten.
Darüber hinaus haben viele Leute auch klar benannt, dass die militärische Einmischung von dritten Akteuren in der Region in Syrien aufhören muss. Dass der Iran momentan keine Präsenz mehr in Syrien hat, macht viele schon sehr glücklich. Man wünscht sich das auch in Bezug auf etwa die Türkei und auf Israel. Und man hofft, dass keiner der regionalen Player – Türkei, Iran oder die Golfstaaten – hinsichtlich der Einflussnahme auf HTS die Oberhand gewinnen wird. Viele meiner Gesprächspartner*innen hoffen auf ein Kräftegleichgewicht, in dem am Ende die breite Bevölkerung Syriens für sich selbst frei entscheiden kann.
Was ich sehr oft gehört habe – und was ich nach 14 Jahren Krieg, mit all den wirtschaftlichen Entbehrungen, sehr bewegend fand: Viele Leute haben zu mir gesagt, ihr größter Wunsch sei die Herstellung einer Rechtsstaatlichkeit in Syrien. Gesetze, die durchgesetzt werden; Gesetze, vor denen alle Menschen gleich sind. Das ist schon beeindruckend.
Mit das zentralste Thema ist natürlich trotzdem die wirtschaftliche Situation. Dazu gehört natürlich die Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien, um Bewegung in die Wirtschaft zu bringen, Materialien ins Land zu bringen und den Menschen neue Perspektiven auch wirklich in ihrem Alltag zu eröffnen. Mit der Aufhebung der Sanktionen muss aber trotzdem weiter eng beobachtet werden, ob die aktuellen Machthaber tatsächlich in einen demokratischen Prozess überleiten. Viele Menschen in allen Landesteilen leben unter der Armutsgrenze. In den letzten Jahren gab es eine riesige Perspektivlosigkeit und eher immer den Gedanken, vielleicht doch ins Ausland gehen zu können und der Armut zu entfliehen. Eine Frau meinte zu mir, es sei das erste Mal in ihrem Leben, in dem sie es für möglich hält, vor Ort eine lebenswerte Zukunft für sich und ihre Kinder zu finden, die sie irgendwie mitgestalten kann – ohne dass alle spätestens zum Studieren ins Ausland müssen.
W&F: In Deutschland wird die Übergangsregierung, mit dem HTS-Anführer Ahmad Sharaa an der Spitze, auch sehr skeptisch diskutiert. Wie siehst du diese Übergangsregierung?
Sophie Bischoff: Also die Übergangsregierung unter Jolani alias Ahmad Sharaa und der HTS beobachte ich ja schon seit langem. Dadurch, dass wir mit Partnerorganisationen aus Idlib zusammenarbeiten, die HTS und deren de facto Regierung dort sehr kritisch gegenüberstanden, haben wir das sehr eng verfolgt. Wir haben ab 2020 einen Wandel in der Identität und auch in dem Verständnis von Herrschaft in der HTS beobachtet. Das hat sich insofern ausgewirkt, als dass etwa die Repression von HTS deutlich abgenommen und man sich eben weg von der dschihadistischen Miliz hin zu einer Administration bewegt hat.
Es hat vielleicht auch damit zu tun, dass es in Idlib von Beginn an viel Backlash gegen die Versuche der HTS gab, bestimmte islamistische Vorstellungen im Alltag der Menschen durchzusetzen. Es gab in Idlib zum Beispiel ungefähr ein halbes Jahr eine Sittenpolizei. In der sehr diversen Gesellschaft in Idlib, diesem Melting Pot aus verschiedensten Oppositionellen und Binnenvertriebenen, hat das nie richtig greifen können. Interessanterweise folgte auf den Widerstand von Seiten der HTS eher eine Anpassung der Strategie. HTS vollzieht also schon länger einen Kurswechsel.
Meiner Meinung nach sehen wir jetzt die Fortsetzung davon in ganz Syrien. Ich denke, Ahmed Sharaa hat sich weg entwickelt von Jolani, dem Dschihadisten, hin zu Ahmed Sharaa, dem Syrer, der ein Staatsprojekt verfolgt. Seine Politik ist extrem pragmatisch. Wie wir gehört haben und was auch berichtet wird: Die geschäftsführende Regierung in Damaskus versucht momentan, allen Gruppen Zusicherungen zu machen – sei es jetzt bestimmten ethnischen oder konfessionellen Gruppen oder sei es eben der säkularen Schicht der Bevölkerung. Auch die Betonung demokratischer Prozesse ist wichtig, da hier die gesellschaftliche Angst sehr groß ist. Sharaa fährt derzeit eine Politik, in der er eigentlich allen Leuten sagt, was sie hören möchten, und ihnen das zusichert.
Aber die große Frage dabei ist natürlich: Wie will er all diese Zusicherungen tatsächlich umsetzen? Da sind es eben bisher einfach nur leere Worte. Genau solche Anlässe wie diese nationale Konferenz werden dann noch mal genauer zeigen, inwiefern er diese ganzen Zusicherungen dann auch einlöst!
Ich finde aber auch, dass das, was die Regierung gerade umsetzt, nicht unbedingt falsch ist. Sie haben bestimmte Prioritäten: Zum einen eben Sicherheit und Stabilität in Syrien, denn es ist klar, wenn jetzt irgendwas eskaliert, dann rutscht das Land ab in die nächste Kriegsepisode. Zum anderen stehen die internationalen Beziehungen im Zentrum mit dem Ziel, dass die Sanktionen aufgehoben werden und der Wiederaufbau relativ schnell beginnen kann. Dass die Regierung unter Ahmed Sharaa genau auf diese Punkte fokussiert, das macht einen natürlich irgendwie vorsichtig optimistisch, dass sie relativ rational und nicht rein ideologisch handeln werden.
W&F: Aus anderen Quellen weiß ich, dass die Transitionsmaschinerie sich langsam in Gang setzt, von Entwaffnungsprogrammen über die Sicherung von Beweismaterial bis hin zur internationalen Akquise von Geldern für den Wiederaufbau. Was steht da jetzt primär auf der Agenda und was sind die größten Herausforderungen?
Sophie Bischoff: Die derzeitigen Machthaber fahren da einen sehr klaren Diskurs: Es darf jetzt keine Rache geben, wir müssen eine neue Seite im Buch der Geschichte aufschlagen und auf dieser neuen Seite müssen wir eben auch Leute einbinden, die unter dem Regime gearbeitet haben. Auch jene, die vielleicht sogar Regime-Unterstützer*innen waren, die sich aber auf einer Ebene von Menschenrechtsverbrechen nichts zuschulden haben kommen lassen. Sharaa fährt hier interessanterweise nicht eine Politik, wie wir sie im Irak nach 2003 gesehen haben, mit Ent-Baathifizierung, sondern genau die gegenteilige Strategie: Beamt*innen etwa sollen eigentlich einfach ihre Arbeit fortsetzen.
Das wirft natürlich sofort auch die Frage auf, wie dann mit dem Thema »Mitverantwortung« umgegangen werden soll, denn ein nachhaltiger Frieden in Syrien wird nicht möglich sein, ohne dass es einen umfassenden Aufarbeitungsprozess gegeben hat. Werden etwa »Haupttäter*innen« von schweren Verbrechen in nicht allzu ferner Zukunft vor Gericht gestellt? Derlei Fragen werden die Gesellschaft noch viele Jahre begleiten.
Eine weitere große Herausforderung für diesen Übergangsprozess ist auch, dass letztendlich der gesamte Staatsapparat auf Korruption und auf verrotteten Institutionen aufbaute. Es gibt einen riesigen Beamtenapparat, den es so gar nicht braucht – einfach, weil das Regime über die gezielte Platzierung von Beamt*innen Loyalität erkauft hat. Für die neuen Machthaber ist es jetzt sehr schwierig, mit dieser Situation »sozialverträglich« umzugehen. Diese Leute in den Ministerien und der Verwaltung, die wissen zum Teil gar nicht so richtig, was ihre Aufgabe ist. Gleichzeitig würde es viel sozialen Unfrieden stiften, wenn man jetzt im großen Stil Leute entlässt. Die Reformierung dieses maroden Staatsapparates wird eine riesige Herausforderung werden.
Eine weitere gigantische Aufgabe wird der Wiederaufbau sein. Wir sind durch Städte gefahren, in denen kilometerweit Wohngegenden in Grund und Boden gebombt wurden. Wenn man dort ist, wird klar: Da ging es nicht um die Bekämpfung von irgendeiner Opposition, sondern es sollte sichergestellt werden, dass da wirklich niemand mehr zurückkehren kann. Viele Orte sind richtige Geisterstädte, da ist niemand mehr. Erst wurden sie zerbombt und als das Regime sie dann erobert hatte, wurde wirklich alles, was sich irgendwie zu Geld machen ließ, rausgetragen: Jede Art von Metallen, Dächer, Fenster, Türen, die Wasserleitungen, die Stromleitungen. Es braucht auch massive Anstrengungen, diese Orte irgendwie wieder bewohnbar zu machen. Das ist auch mit Blick auf die ganzen Vertriebenen wirklich wichtig – etwa für die Bevölkerung, die jetzt immer noch in den Camps in Idlib sitzt. Auch da gibt es in der Bevölkerung viele Ängste, mit wie viel sozialer Gerechtigkeit dieser Wiederaufbau dann wirklich vonstattengehen wird und welche Player das machen werden. Woher kommt das Geld? Passiert das im Interesse der Menschen, die aus diesen Orten kommen oder übernehmen einfach irgendwelche Investor*innen das Geschehen?
Ich glaube, all diesen Herausforderungen einigermaßen angemessen zu begegnen ist eine riesige Mammutaufgabe, aber eine die für eine nachhaltig friedliche Zukunft Syriens absolut unerlässlich sein wird. Hier müssen wir auch von außen weiterhin solidarisch hinsehen und unterstützen, wie ich schon sagte: Syrien darf nicht erneut vergessen werden.
W&F: Sophie, ich danke dir sehr für deine wertvollen Eindrücke und dieses Interview.
Das Interview wurde am 15. Januar 2024 aufgezeichnet und spiegelt den entsprechenden Wissensstand wider.
Sophie Bischoff ist Geschäftsführerin der deutsch-syrischen Menschenrechtsorganisation Adopt a Revolution. Sie hat Arabistik, Geschichte und Soziologie studiert und leitet seit 2013 die Kommunikation mit den Projektpartner*innen in Syrien. Auf ihrer vierwöchigen Reise durch Syrien traf sie diverse zivilgesellschaftliche Organisationen unter anderem in Idlib, Homs, Afrin, Azzaz, Swaida und Damaskus.