W&F 2011/3

NATO – Abschreckung ohne Atomwaffen?

von Wilbert van der Zeijden und Susi Snyder

Bei der Diskussion um das neue Strategische Konzept der NATO waren die weitere Stationierung nicht-strategischer (taktischer) Atomwaffen der USA in Europa und die Zukunft der nuklearen Teilhabe besonders strittig. Besonders Deutschland machte sich für einen Abzug der Waffen stark, während Frankreich vehement auf den status quo pochte. Insider bestätigten, dass bei dem Gipfeltreffen in Lissabon im November 2010 buchstäblich bis zur letzten Minute um einen Wortlaut gerungen wurde, dem alle 28 Mitgliedstaaten der NATO zustimmen konnten. Da inhaltlich kein Konsens möglich war, wurde zu einer Notlösung gegriffen: Die taktischen Atomwaffen sollen bei einer umfassenden Überprüfung des gesamten Verteidigungs- und Abrüstungsdispositivs der NATO mit auf den Tisch. Und das Ergebnis, der »Defense and Deterrence Posture Review«, soll beim nächsten NATO-Gipfel im Mai 2012 in Chicago verabschiedet werden.

Im März 2011 stellte die niederländische Organisation IKV Pax Christi ihren Bericht »Withdrawal Issues«1 vor, der darlegt, dass die Mehrheit der NATO-Mitgliedsländer den Vorschlag unterstützen, die letzten taktischen Atomwaffen aus Europa abzuziehen. Bei den Recherchen für den Bericht besuchten die AutorInnen vor dem Lissabonner Gipfeltreffen jede einzelne NATO-Botschaft in Brüssel, um folgendes herauszufinden:

Wodurch sehen die Länder in den nächsten Jahren ihre Sicherheit am meisten bedroht?

Was sind die wichtigsten Bedrohungen für das Bündnis insgesamt?

Wie passen die taktischen US-Atomwaffen in das Bild, und denken sie, dass diese Waffen in Europa stationiert bleiben sollten?

Der Bericht »Withdrawal Issues« analysiert die Positionen der einzelnen Länder und räumt dabei mit alten Mythen auf. Die AutorInnen zeigen auf, dass 24 der 28 Mitgliedstaaten einen Abzug der taktischen Atomwaffen aus Europa unterstützen oder zumindest nicht kategorisch ablehnen. Nur drei Länder (Frankreich, Ungarn und Litauen) äußerten die Hoffnung, dass die Atomwaffen in Europa verbleiben. Die überwältigende Unterstützung für eine Zukunft ohne US-Atomwaffen in Europa wird allerdings von den Mitgliedsländern an einige Voraussetzungen geknüpft.

Zum einen sollten geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um negative Auswirkungen des Abzugs auf die Solidarität und den Zusammenhalt im Bündnis zu vermeiden. Es sollten neue Formen gefunden werden, die transatlantische Verbindung zu stärken. Und sollte die alte (nukleare) Lastenteilung beendet werden, so sollten neue Formen der Lastenteilung an ihre Stelle treten. Zum anderen befürworten die meisten Länder den Vorschlag, dass vor einer Entscheidung über den Abzug der US-Atomwaffen Russland zusagen soll, ebenfalls taktische Atomwaffen abzurüsten oder hinter den Ural zu verlegen. Schließlich räumen alle Länder ein, dass die französischen Vorbehalten ernst genommen werden müssen, und sei es nur, weil Frankreich andernfalls einen Konsens blockieren könnte.

Fokussierte Debatte, verhärtete Positionen?

Im Großen und Ganzen wurde »Withdrawal Issues« positiv aufgenommen. Sowohl Diplomaten als auch zivilgesellschaftliche Experten sagten häufig, dass der Bericht dabei hilft, die Debatte auf Schlüsselthemen zu fokussieren: Lastenteilung, Zusammenarbeit mit Russland und der Umgang mit dem französischen Widerstand gegen einen Abzug .

Die auffälligste Stelle im Bericht – eine Karte, aus der die unterschiedlichen Positionen der Länder zu dieser Frage ersichtlich werden2 – wurde besonders kontrovers diskutiert. Es werden nur ganz selten Karten veröffentlicht, die die Haltung einzelner NATO-Länder zu bestimmten Themen grafisch aufbereiten. Und nun gar zu einem so strittigen Thema! NATO-Mitarbeiter und –Diplomaten legen großen Wert darauf, dass Meinungsdifferenzen im Bündnis nicht nach außen dringen. Daher kam es manchen sehr ungelegen, dass die offensichtlichen Spannungen nun visualisiert wurden. Häufiger allerdings hörten wir aus der NATO, dass der Bericht die Debatte im Hauptquartier bzw. in den Hauptstädten der NATO angeregt oder überhaupt erst in Gang gebracht hat. Einige Vertreter nationaler Außenministerien berichteten, dass sie den Bericht und diesbezüglich Fragen von Parlamentariern bekamen. Infolge des Berichts wurde der Ruf nach offenen und transparenten nationalen Debatten und nach einer demokratischen Kontrolle des einst hoch geheimen Arrangements lauter.

Ein Blick nach vorn: Zusammenarbeit mit Russland

Die Schwierigkeiten der NATO, sich im Konsens auf eine Nuklearpolitik und das entsprechende Dispositiv zu einigen, spiegelt sich im »Strategischen Konzept« vom November 2010 wider. Wo es um die taktischen Atomwaffen geht, bleibt der Text vage und lagert das Thema aus: auf den Defense and Deterrence Review, der bis zum NATO-Gipfel 2012 abgeschlossen sein soll.

»Withdrawal Issues« soll die Diskussionen über den Review mit Fakten füllen und beeinflussen. Der Bericht bestätigt, dass in Bezug auf Russland »Gegenseitigkeit« das wichtigste Anliegen ist. Und genau da steckt der Prozess momentan in einer Sackgasse. Die NATO sagt, sie zieht die taktischen Atomwaffen nur dann aus Europa in die USA ab, wenn Russland »auch etwas gibt«. Russland sagt, dass es erst dann über seine eigenen taktischen Atomwaffen reden will, wenn die USA ihre Atomwaffen aus Europa abgezogen haben. Die USA sagen im Wesentlichen, dass sie zu einem Abzug bereit sind, aber nur, wenn es darüber in der NATO einen Konsens gibt. Die größte Herausforderung besteht also in den nächsten Monaten darin, die »Gegenseitigkeitsschleife« Russland-NATO-USA aufzubrechen.

Die USA hatten sich im Vorfeld des Lissabonner Gipfeltreffens bei der Diskussion um die taktischen Atomwaffen zurückgehalten. Jetzt wollen sie aber offensichtlich die Führung wieder selbst übernehmen. Anlässlich der Ratifizierung des neuen START-Vertrags schrieb Präsident Obama dem Senat, dass er „nach Konsultationen mit den NATO-Partnern, aber spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten des neuen START-Vertrags“ mit Russland Verhandlungen über taktische Atomwaffen aufnehmen will. Die Fristsetzung ist klar: Die europäischen Bündnispartner haben ein Jahr, um ihre internen Differenzen über taktische Atomwaffen zu lösen.

Im April 2011 legten Deutschland, die Niederlande, Norwegen und Polen gemeinsam ein so genanntes »Non-paper« vor.3 Dieses inoffizielle und von zehn europäischen NATO-Mitgliedern unterzeichnete Arbeitspapier ist ein erster Versuch der Europäer, sich der Herausforderung zu stellen. Das »Non-paper« befasst sich vor allem mit der Frage, wie die NATO mit Russland in einen kooperativen und wechselseitigen Austausch eintreten kann, von gegenseitigen vertrauensbildenden Maßnahmen bis hin zu einem Abkommen über die Verringerung oder den Abzug von taktischen Atomwaffen auf beiden Seiten. Die vorgeschlagenen Schritte sind eher bescheiden oder sogar rein symbolisch. Das besondere daran ist, dass es Deutschland und anderen Befürwortern eines Abzugs zum ersten Mal gelungen ist, sich mit eher ablehnenden Ländern wie Ungarn auf eine gemeinsame Position zu einigen.

Allerdings werden einige der größten Hürden, die Russland angehen, in dem »Non-paper« gar nicht angesprochen. Zum ersten: Warum sollte sich Russland überhaupt darauf einlassen? Russland behauptet, dass es seine taktischen Atomwaffen nicht wegen der taktischen Atomwaffen der NATO vorhält, sondern um der überwältigenden konventionellen Überlegenheit der NATO etwas entgegenzusetzen. Das »Non-paper« gibt keine Antwort auf die längst bekannte Forderung, dass die USA zunächst ihre Atomwaffen aus anderen Ländern abziehen müssen, wie das die Russen bereits in den 1990er Jahren getan haben, und erst dann Verhandlungen über das Thema möglich sind. Es ist kaum anzunehmen, dass die NATO Russland dazu überreden kann, auf diese klare Vorgabe zu verzichten.

Zum zweiten: Was hat die NATO vor, wenn sich die Russen nicht auf Gegenseitigkeit einlassen? Es könnte als Vorwand dienen, die taktischen US-Atomwaffen in Europa zu lassen, das ändert aber nichts daran, dass diese Waffen überflüssig und überaltert sind. Außerdem hat Deutschland entschieden, die Trägerflugzeuge für die US-Atomwaffen auszumustern, so dass die nukleare Teilhabe der NATO unabhängig von einem Konsens der NATO in den nächsten zehn Jahren faktisch zu einem Ende käme, auch ohne Schritte Russlands.

Der Knackpunkt ist klar: Wenn es Sinn der ganzen Übung ist, Russland zur Aufgabe eines Teils oder des kompletten Arsenals an taktischen Atomwaffen zu bewegen, verhindert die NATO mit der Aufrechterhaltung ihres eigenen taktischen Atomwaffenarsenals in Europa just Bewegung von russischer Seite. Stattdessen muss die NATO den Mut aufbringen, auf die Kalte-Krieg-Logik zu verzichten, derzufolge beide Seiten immer symmetrisch abrüsten müssen. Es braucht deutliche Signale an Russland, dass die NATO sich auch ohne taktische Atomwaffen sicher fühlt und Russland einlädt, diesem Beispiel zu folgen.

Anmerkungen

1) Susi Snyder und Wilbert van der Zeijden (2011): Withdrawal Issues. What NATO countries say about the future of tactical nuclear weapons in Europe. IKV Pax Christi; NoNukes.nl. Eine deutsche Kurzfassung des Berichts mit etlichen Grafiken wurde von der Pressehütte Mutlangen erstellt und steht unter pressehuette.de/ImBlick%202_2011.pdf.

2) Aus technischen Gründen konnte die Karte in W&F nicht abgedruckt werden.

3) Non-paper submitted [to NATO Secretary General Rasmussen] by Poland, Norway, Germany and the Netherlands on increasing transparency and confidence with regard to tactical nuclear weapons in Europe, 14. April 2011. Das Papier wurde bei der NATO-Außenministertagung in Berlin vorgelegt.

Wilbert van der Zeijden ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Nuclear Disarmament-Programm von IKV Pax Christi (Niederlande). Susi Snyder leitet das Programm. Übersetzt von Regina Hagen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2011/3 Soldaten im Einsatz, Seite 51–52