NATO First – UNO ade!?
von Alexander Neu
Im Frühjahr 2009 wird die NATO ihr 60. Jubiläumsfeier im deutsch-französischen Grenzgebiet feiern. Für den Frieden in der Welt ist das kein Grund zum Feiern: 60 Jahre NATO heißen Kalter Krieg, atomare und konventionelle Aufrüstung, Wettrüsten, Stellvertreterkriege, Blockbildung auch nach dem Kalten Krieg gegen Russland und China, imperialer Angriffskrieg und Zerschlagung Jugoslawiens, militärische Besatzungen (ehemaliges Jugoslawien und Afghanistan), die Abwicklung der UNO und OSZE. Die NATO ist wahrlich keine zivilisatorische Errungenschaft. Sie ist und bleibt eine Militärmaschinerie, die tut, was sie kann: Krieg führen und die Androhung desselben als Mittel der Politik.
Eine »Neue Weltordnung« unter US-amerikanischer Führung forderte der damalige US-Präsident George H. W. Bush am 11. September 1990 noch während der Auflösungsperiode des Ostblocks. Zu diesem Zeitpunkt wurde eine neue Epoche, die bis heute herrschende monopolare Weltordnung eingeläutet. Den Vereinten Nationen (UNO) wurde dabei eine mitwirkende Zukunft vorausgesagt. Endlich, so der Tenor, könne die UNO ihre Aufgabe als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit wahrnehmen, da sie nicht mehr oder zumindest nicht mehr so häufig durch den »Missbrauch« des Vetorechts, gemeint war die UdSSR, blockiert werde.
Diese Zukunftsperspektive der UNO wurde allerdings auf die Funktion begrenzt, den USA hinsichtlich der Umsetzung ihrer »Neuen Weltordnung« als legitimationsstiftendes Hilfsorgan zu assistieren.1 Tatsächlich ging der Gebrauch des Vetos durch das am Boden liegende Russland der Jelzin-Ära zunächst zurück: Irak/Kuwait 1990/91, Somalia 1992 und Jugoslawien 1991-1995 – alle diese Konflikte wurden im Rahmen von durch die USA oder Großbritannien eingebrachten UNO-Sicherheitsratsresolutionen behandelt, die militärische Interventionen des Westens (entweder durch die NATO oder durch einzelne NATO-Staaten) beinhalteten oder eigenmächtige Resolutionsinterpretation (beispielsweise »Flugverbotszonen« im Irak) zur Folge hatten. Dabei stießen sie im Gegensatz zu den Zeiten des Kalten Krieges auf keinen Widerstand durch die UdSSR/Russland oder China. Die Schwäche Russlands und die noch bescheidene Stärke Chinas ermöglichten es den westlichen UNO-Sicherheitsratsmitgliedern in den 1990er Jahren, ihre »nationalen Interessen« durch eine von ihnen dominierte UNO absegnen zu lassen. Unter Anwendung dieses vordergründigen Multilateralismus wurden westliche, zuvörderst US-amerikanische Interessen, als Willen der »Internationalen Gemeinschaft« der Weltöffentlichkeit verkauft. Erst im Zuge des Konfliktes in und mit der Bundesrepublik Jugoslawien 1998/1999 begann Russland wieder schrittweise eine eigene Außenpolitik aufzubauen und verhinderte, wenn auch nicht den NATO-Angriffskrieg auf die BR Jugoslawien selbst, so aber zumindest seine scheinbare völkerrechtliche Absegnung. Ähnlich verhielt es sich mit dem US-Angriffskrieg auf den Irak im Jahre 2003 – auch hier konnten die USA trotz erheblicher Nötigung gegenüber dem UNO-Sicherheitsrat, dessen ständige Mitglieder Frankreich, Russland und China nicht bewegen, dem imperialen Krieg ein scheinvölkerrechtliches Feigenblatt zu verleihen. Dies änderte jedoch nichts an der NATO- bzw. US-Terminologie, es handele sich bei beiden militärischen Maßnahmen um den Willen der Internationalen Gemeinschaft – gänzlich unbeeindruckt von der Tatsache, dass der Wille zum Angriffskrieg lediglich ein Wille der US-geführten NATO (Jugoslawien1999) und der US-geführten »Koalition der Willigen« (Irak 2003) gewesen ist.
Diese einleitend aufgezeigte reale Entwicklung oder Abwicklung der UNO unter den Bedingungen einer monopolaren Weltordnung, bei der die einzige Supermacht mit mehr oder minder großer Unterstützung von Vasallenstaaten (NATO-Verbündete und »Koalition der Willigen«) eine neue, eine US-amerikanische Weltordnung installieren will, weicht gefährlich von den eigentlichen und friedenspolitisch erforderlichen Pflichten, Aufgaben und Aufgabenverteilung zwischen der UNO als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit und ihren Mitgliedsstaaten sowie anderen regionalen Regierungsorganisationen wie der NATO als Verteidigungsbündnis ab. Im Folgenden soll die eigentliche Funktion der UNO als Sicherheitskollektiv, die der NATO als Verteidigungskollektiv sowie die realen Entwicklungen skizziert werden. Abschließend wird auf den aktuellen Stand der Diskussion und das gefährliche Wunschdenken über die künftige Gestaltung internationaler Politik aus Sicht US-amerikanischer Politikeliten eingegangen.
UNO – Das globale System gegenseitiger kollektiver Sicherheit
Die UNO wurde als institutionalisiertes Interaktions- und Konfliktregulierungsforum gegründet, um der Staatenanarchie und der ihr inhärenten Tendenz zu Kriegen ein Ende zu bereiten: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen – Fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat (…)“2 Die Akzeptanz der UNO-Mitgliedsstaaten – die Schrecken des Zweiten Weltkrieges noch klar vor Augen, wie die Präambel der UNO-Charta unterstreicht –, das ius ad bellum als Angriffsvariante an den UNO-Sicherheitsrat zu delegieren – ihm also das Gewaltmonopol treuhänderisch zu überantworten (Art. 24 UNO-Charta) und somit für die Sicherheit der Mitgliedsstaaten auch unter Zuhilfenahme militärischer Mittel Sorge zu tragen (Art. 42 – 47 UNO-Charta) – sollte eine neue, auf die Friedensverpflichtung angelegte Epoche des Völkerrechts und somit eine qualitative Veränderung der internationalen Politik bedeuten. Doch die zunächst vielversprechende Gründung der UNO mit ihrer weitreichenden Kompetenz als Kollektiv gegenseitiger Sicherheit mit global wirkendem Gewaltmonopol wurde von Anfang an überschattet durch machtpolitische Erwägungen. Diese machtpolitischen Momente fanden selbst in der UNO-Charta ihren Niederschlag und schaden der UNO bis heute eher als sie ihr nutzen, da sie die rechtlich-normativ sicherheitspolitisch zentrale Relevanz der UNO durch mangelnde politische und materielle Unterfütterung aufweichen:
Bereits bei der Gründung der UNO wurde deutlich, dass die UNO-Gründerstaaten – entgegen ihrer ausdrücklichen Verpflichtung (Artikel 43-47 UNO-Charta) – keine Bereitschaft zeigten – und diese bis dato nicht an den Tag legen –, der UNO eigene militärische Kapazitäten zur Verfügung zu stellen, um diese zu befähigen, ihre Aufgabe der Gewährung kollektiver Sicherheit gerecht werden zu können. Um dennoch der UNO den Anschein eines global wirksamen Sicherheitskollektivs zu verleihen, wurden zwei Ersatzklauseln (Art. 48 und Art. 53 Abs. 1) formuliert, die es dem UNO-Sicherheitsrat erlauben, einzelne Staaten oder regionale Einrichtungen mit deren Einverständnis „unter seiner Autorität in Anspruch“ zu nehmen.
Die Gründerstaaten traten zwar das ius ad bellum in der Angriffsvariante an die UNO ab, behielten sich allerdings dessen Verteidigungsvarianten vor. Das „naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ wurde Bestandteil der UNO-Charta (Art. 51). Zwar soll dieser Norm in der Logik eines funktionierenden Sicherheitskollektivs nur eine rückversichernde und somit substituierende Qualität für den Fall zukommen, dass die UNO nicht fähig oder willens ist, einem angegriffenen Staat zur Hilfe zu eilen und seine Sicherheit wiederherzustellen. Jedoch ließen die realpolitischen Momente des Kalten Krieges, die damit einhergehende Institutionalisierung zweier sich gegenüberstehender kollektiver Verteidigungsbündnisse (Warschauer-Pakt und NATO) sowie die sich gegenseitig blockierenden Supermächte im UNO-Sicherheitsrat, der UNO keinen Freiraum, um tatsächlich kollektive Sicherheit materialisieren zu können. Vor diesem Hintergrund ist die eigentlich nur als Rückversicherung gedachte Norm des „naturgegebenen Rechts zur Selbstverteidigung“ in der politischen Realität zur vorrangigen Norm aufgestiegen.
Mit beiden Rechtsnormen und der Wirkkraft der politischen Praxis wurde im Prinzip der Sinn der UNO als global wirkendes Sicherheitskollektiv ad absurdum geführt. Obschon es von Beginn an deutlich war, dass in dem staatenzentrierten internationalen System die UNO keine eigenständige Akteursqualität erhalten würde, sondern ihre Handlungsfähigkeit immer nur durch die sie tragenden Staaten herleiten konnte und kann, widerspricht dieser Status als Exekutivorgan aus normativer und struktureller Perspektive nicht der Möglichkeit, sie zur Gewährung kollektiver Sicherheit zu befähigen. Dass die UNO aber derart an der kurzen Leine geführt wird, ist der politischen Motivation der Staaten geschuldet, deren visionäre Kraft trotz der Erfahrungen des zweiten Weltkrieges eben nicht über die Ebene eines bloß staatenzentrierten Weltbildes hinausreicht. Das Festhalten an einem derartigen Weltbild indiziert den bloß instrumentellen Charakter der UNO vor allem für die Großmächte. Bezeichnenderweise wurde im Entwurf des Weißbuchs der deutschen Bundesregierung im Jahre 2006 die Funktion der UNO wie folgt formuliert: „Die einzigartige Bedeutung der Vereinten Nationen besteht darin, einen notwendig werdenden Einsatz militärischer Gewalt mit der völkerrechtlichen Legitimität zu versehen.“ 3
NATO – Ein Verteidigungsbündnis mit weltweiter Berufung
Die NATO ihrerseits stellte ursprünglich und gemäß ihrem Statut, dem Nordatlantikvertrag, ein institutionalisiertes Verteidigungskollektiv dar, dessen Zweck (Präambel & Art. 5) ausschließlich die gemeinsame bündnisterritoriale Abwehr potentieller Angriffe durch Drittstaaten gewesen ist. Nach dem Ende der bipolaren Weltordnung „drohte die NATO allerdings Opfer ihres eigenen Erfolges“ zu werden, wie allenthalben den sicherheitspolitischen Diskursen der transatlantischen Fangemeinde zu entnehmen war. Diese neue Situation beförderte die NATO samt umfassendem Mitarbeiterapparat in Brüssel jedoch in eine Identitätskrise. Anstatt sich mangels verteidigungspolitischer Notwendigkeiten aufzulösen, drängte und drängt die hochgerüstete Militärmaschinerie nach neuen Aufgaben, jenseits der klassischen Landes- und Bündnisverteidigung, um dem transatlantischen Bündnis eine neue sinnstiftende Identität zu verleihen. Hierbei erfreut sie sich der tatkräftigen Unterstützung einer nach wie vor den außen- und sicherheitspolitischen Diskurs dominierenden transatlantisch orientierten und ergebenen politischen Elite.
Noch 1991 verabschiedete sie zunächst das neue »Strategische Konzept«, um sich der Notwendigkeit ihrer Fortexistenz zu versichern. Darin artikulierte sie bereits ein neues diffuses Bedrohungsszenario wie „Terrorismus“, „Waffenproliferation“ oder die „Unterbrechung des Flusses vitaler Ressourcen“, welches den künftigen Aktionsradius jenseits der bisherigen Territorialverteidigung schon erahnen ließ.4
Die NATO empfahl sich der UNO als militärischer Arm (gemäß Art. 53 Abs. 1 UNO-Charta) in den Bürgerkriegswirren des auseinanderfallenden Jugoslawiens. Schon bald manifestierte sich aber ein mangelnder Unterordnungswillen des Bündnisses unter das globale Sicherheitskollektiv UNO und die faktische Übernahme bzw. Ablösung der UNO-Blauhelmmission ab 1994/95 durch eigenmächtiges NATO-Handeln.5
Im April 1999 verabschiedete die NATO ein »Neues Strategisches Konzept«. Darin wurde die „Autorität“ des UNO-Sicherheitsrates bei der Ausführung militärischer Operationen geltend gemacht.6 Allerdings rückte man mit weiteren Erklärungen diese „Autorität“ in einen breiten Interpretationsansatz: Das Bündnis werde „bei der Erfüllung seines Ziels und seiner grundlegenden Sicherheitsaufgaben (…) die friedliche Beilegung von Streitigkeiten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen anstreben“.7 Die Wortwahl „anstreben“ bedeutet jedoch keine definitive Unterordnung, sondern lediglich, »wenn möglich mit, wenn nötig ohne UNO«, womit die Gültigkeit des UNO-Gewaltmonopols fortan den Opportunitätserwägungen der US-geführten NATO untergeordnet wurde.
Auch eine weitere Formulierung, die zwar sehr eng an die UN-Charta Art. 24 Abs. 1 angelehnt ist, zielt auf eine Relativierung des UNO-Gewaltmonopols zu Gunsten der NATO: Das »Strategische Konzept« erwähnt eine „primäre Verantwortung“ statt eine „Hauptverantwortung“ (Art. 24 Abs. 1 UN-Charta) der UNO für die „Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“.8 Ein Differenzierungsversuch beider Begriffe mag zunächst ein wenig theoretisch und irrelevant wirken. Betrachtet man indes den realpolitischen Kontext, dass nämlich das »Strategische Konzept« exakt zu jenem Zeitpunkt verabschiedet wurde, als die NATO Jugoslawien ohne UNO-Segen bombardierte, so gewinnt die Interpretation der Formulierung „primäre Verantwortung“ doch an Konturen: Sie wird als eine Art Reserveverantwortung der NATO für die Wahrung kollektiver Sicherheit für den Fall interpretiert, dass die UNO ihre Funktion gemäß den Erwartungen des Westens nicht gerecht wird – sprich die Verabschiedung entsprechender UNO-Sicherheitsratsresolutionen, die sämtlichen interessengeleiteten Vorhaben der NATO ein völkerrechtliches Deckmäntelchen verleihen. Dabei darf natürlich nicht übersehen werden, dass die Ignoranz gegenüber dem Völkerrecht und der UNO kein Privileg der die NATO dominierenden USA ist. Auch die europäischen Staaten zeichnen sich immer stärker durch einen eklatanten Völkerrechtsnihilismus aus – sei es innerhalb der NATO oder der EU.
Die in Art. 24 UN-Charta gewählte Formulierung der „Hauptverantwortung“ bedeutet hingegen nicht, dass den Staaten eine Reserveverantwortung für die Wahrung der kollektiven Sicherheit dergestalt zugewiesen wird, dass diese im Falle einer Handlungsblockade des UNO-Sicherheitsrats per Veto die Verantwortung und das Handeln der UNO eigenmächtig substituieren dürften. Der Vetomechanismus ist nicht bloß eine fixe Idee gewesen, damit die Russen die USA »ärgern« können (und umgekehrt). Das Veto-Instrument hatte während der Ost-West Konfrontation eine mächtebalancierende Funktion und hat unter der derzeitigen weltpolitischen Konstellation zumindest die Funktion, westlicher Gewaltpolitik nicht auch noch permanent eine scheinbare völkerrechtliche Legitimität zu verleihen. Die Interpretation einer zulässigen Reserveverantwortung für einzelne Staaten oder regionalen Organisationen erschließt sich definitiv nicht aus dem Kontext der UN-Charta, da dies das Veto-Instrument im Besonderen und das UNO-System im Allgemeinen noch mehr als bislang – wie bereits oben ausgeführt – ad absurdum führte. Zwar wird die Regelung sicherheitspolitischer Probleme gemäß Art. 52 UN-Charta auch subsidiären Strukturen eingeräumt, jedoch nur unter explizitem Ausschluss militärischer Maßnahmen (Art. 53 UN-Charta).
Insgesamt verweisen sowohl das »Neue Strategische Konzept« als auch die politische Praxis auf eine »Neue NATO«, die sich nicht mehr als klassisches Verteidigungsbündnis unter der Maßgabe eines eng gefassten Verteidigungsbegriffs, der Landes- und Bündnisverteidigung, oder dem geltendem UNO-Völkerrecht untergeordnet verstanden wissen will. Die »Neue NATO« definiert sich über einen geographisch entgrenzten Verteidigungsbegriff und erhebt – unter Beibehaltung des Begriffs „Verteidigungsbündnis“ – im Ergebnis die Allianz zu einem globalen Interventionsbündnis neben und über der UNO ohne völkerrechtliche Legitimation. Dennoch kann es sich die US-geführte NATO derzeit noch nicht leisten, auf das UNO-Völkerrecht zu verzichten und die UNO-Institution komplett zu versenken – zu stabilitätsprojizierend ist das geltende Völkerrecht immer noch und das auch im Sinne der NATO. Sie wird auf absehbare Zeit nicht befähigt sein, ihre imperialen Weltordnungsvorstellungen auch durch eigene allgemeinverbindliche Rechtsnormen den übrigen Staaten aufzunötigen, um damit einen repressiven Ordnungsrahmen zu schaffen. Irak und Afghanistan zeigen die Möglichkeiten und Grenzen imperialer Gewaltpolitik auf. Des Weiteren sind erste Anzeichen einer gegenläufigen Tendenz, nämlich einer beginnenden Erosion der monopolaren Weltordnung durch die Herausbildung neuer Kraftzentren, den so genannten BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China), zu beobachten, die am UNO-Völkerrecht festhalten wollen.9 Der russisch-georgische Krieg im August 2008 ist – neben dem unmittelbaren Anlass des Konflikts: der Überfall Georgiens auf Südossetien – auch im Kontext der sich verschiebenden Machtverteilung hin zu einem multipolaren Koordinatensystem zu interpretieren: Russland hat unter Anwendung militärischer Mittel dem westlichen Expansionsdrang erstmals die Grenzen aufgezeigt. Angesichts dieser Entwicklungstendenz einer sich langfristig abzeichnenden Multipolarisierung der internationalen Politik einerseits, jedoch der mittelfristigen Aufrechterhaltung der globalen Hegemonialstellung der NATO andererseits, wird der instrumentelle Umgang der NATO mit der UNO gemäß der Formel, wenn möglich mit, wenn nötig ohne UNO auf absehbare Zeit das bestimmende Muster westlicher Machtordnungspolitik – auch unter einer US-Administration Obama – bleiben. Noch sind die BRIC-Staaten zu schwach, um die NATO-Staaten zur Einhaltung des Völkerrechts zu zwingen.
NATO auf der Suche nach neuer Legitimationsquelle
Vor dem Hintergrund des Auflösungsprozesses der monopolaren Weltordnung, der damit einhergehenden Erfordernis der Einbindung weiterer Vasallen über den euro-atlantischen Raum hinaus, um den sich anbahnenden Multipolarisierungsprozess aufzufangen, zumindest aber zu verlangsamen sowie die mangelnden Legitimationsgrundlagen für militärische Machtprojektionen aufgrund fehlender UNO-Sicherheitsresolutionen vor Augen, wird in der politischen Klasse der USA ein neues »multilaterales« Projekt in verschiedenen Facetten und unter diversen Titeln wie »Bund der Demokratien«, »Liga der Demokratien« oder »Konzert der Demokratien« unter Führung der Mutter aller Demokratien diskutiert.10
Alle diese Bezeichnungen verdeutlichen, dass es sich im Kern um eine Assoziation (»Bund«, »Liga«), mindestens aber Kooperation (»Konzert«) von demokratisch verfassten Staaten gemäß westlichem Verständnis handeln soll. Die Assoziations- oder Kooperationsebene soll über den euro-atlantischen Raum hinausgehen, d.h. auch »demokratische Staaten« einbinden, die nicht Mitglied der transatlantischen Militärallianz sind, und parallel zur UNO wirken oder sie gar ersetzen. Das Ziel ist es, eine alternative Legitimationsquelle für westliche Interventionen militärischer und nicht-militärischer Art zu formen. Die legitimatorische Herleitung einer »notwendigen Intervention« soll nicht mehr den Charakter einer moralischen Legitimation hinsichtlich eines verwerflichen Zustandes oder Prozesses (beispielweise angeblicher Völkermord oder Terrorismus) oder eine völkerrechtlich-institutionelle Legitimation (Zustimmung des UNO-Sicherheitsrates oder der Mehrheit der UNO-Generalversammlung) besitzen, da sie argumentionsaufwändig und unzuverlässig sind. Vielmehr soll es sich um eine permanente moralische Legitimationsquelle, sozusagen um eine institutionalisierte Moral, handeln, die sich aus der demokratischen Verfasstheit der Staaten ableitet.11 Der dahinterstehende Gedanke greift auf die politische Ideenlehre des Liberalismus zurück, wonach demokratisch verfasste Herrschaftssysteme über moralische Legitimität verfügten, hingegen nicht-demokratisch verfasste Herrschaftssysteme keine innere Legitimität für sich ableiten könnten – somit autoritäre und diktatorische Regime folgerichtig auch keine internationale Legitimität geltend machen könnten, da ihnen die innere, die demokratische Legitimation fehle.
Dieser theoretische Ansatz ist nicht neu, sondern stellt eine Neuauflage der Rechtsfigur des »bellum iustum« (»Gerechter Krieg«) in der Tradition des mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin dar. Aquin formulierte drei Kriterien für die Rechtmäßigkeit der Kriegsführung: Das Vorhandensein eines »legitimen Herrschers« (autoritas principis), einer »rechten Absicht« (recta intentio) und eines »gerechten Grundes« (iusta causa).
Der »Bund der Demokratien« oder ähnliche zwischenstaatliche Assoziationsformen stellt sich in seinem Selbstverständnis bzw. im Verständnis seiner Protagonisten als weltweit einzigartig legitime Herrschaftsinstanz im Gegensatz zu den illegitimen, weil autoritären Staaten dar. Die »rechte Absicht« hinsichtlich der Führung militärischer und nicht-militärischer Interventionen leitet sich kontinuierlich aus der moralischen Legitimität als Demokratien ab, da demokratische Staaten per se keine bösen Absichten hegen. Den »gerechten Grund« für Interventionen gegen nicht-legitime Staaten, liefern diese ebenfalls per se, da sie undemokratisch verfasst sind.
Es bleibt festzuhalten, dass eine erfolgreiche Umsetzung eines solchen binären – in seinem Wesen »demokratisch«-imperialistischen – Projektes zur Gestaltung der internationalen Politik die internationale Staatengemeinschaft erneut in eine gefährliche Bipolarität zwischen vermeintlichen »good guys« (demokratische Staaten gemäß westlichem Verständnis) und ebenso vermeintlichen »bad guys« (autoritäre Staaten gemäß westlichem Verständnis) spalten würde.12
Die Institutionalisierung eines so ambitionierten imperialen Projekts ist allerdings angesichts der Interessenheterogenität allein innerhalb der »demokratischen Staatenwelt« auch langfristig eher unwahrscheinlich. Näherliegend ist die Herausbildung einer »Koalition der Willigen« unter Leitung der US-geführten NATO, deren Formalisierungsgrad nur unwesentlich über der Qualität einer ad hoc-Koalition stehen wird. Für die UNO bedeutet dies auch weiterhin nichts Gutes, sie wird ihr instrumentelles Nischendasein auf absehbare Zeit fortführen.
Anmerkungen
1) Woit, Ernst: Kolonialkriege für eine »Neue Weltordnung«, http://www.sicherheitspolitik-dss.de/autoren/woit/ap6402ew.htm [download 26. Juli 2008].
2) Präambel der Charta der Vereinten Nationen.
3) Weißbuch – Entwurf – http://www.geopowers.com/Machte/Deutschland/doc_ger/vorl._WB_2006.pdf, S.35. [download 14. August 2006].
4) The Alliance’s New Strategic Concept, Rom 1991, http://www.nato.int/docu/basictxt/b911108a.htm.
5) Nassauer, Otfried u.a. (1994): NATO, Peacekeeping, and the United Nations, http://www.bits.de/ [download 26.Juli 2008].
6) »Das Strategische Konzept des Bündnisses« (1999). Washington: Absatz 31.
7) Ebd.: Absatz 11.
8) Ebd.: Absatz 15.
9) UNO aus russischer Sicht von zentraler Bedeutung, http://de.rian.ru/world/2000715/114026768.html [download 24. Juli 2008].
10) Rudolf, Peter: Ein Bund der Demokratien: Amerikas neuer globaler Multilateralismus?, SWP-Aktuell, Berlin, April 2008.
11) Paech, Norman: Auf Bush folgt der demokratische Imperialismus, in: Freitag 27, 04.07.2008.
12) Kagan, Robert: Russland und China betrachten den Westen als feindlich, Interview in: SpiegelOnline, 16. Juli 2008, http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,druck-566165,00.html.
Dr. Alexander Neu ist Politologe, Referent für Sicherheitspolitik der Bundestagsfraktion »Die Linke« und freier Journalist. Seit 2006 ist er Mitglied der W&F-Redaktion.