Neue Perspektiven nuklearer Abrüstung?
von Regina Hagen
Im Mai 2007 trafen sich in Wien die Unterzeichnerstaaten des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV). Die zwei Wochen nutzte die Diplomatengemeinschaft allerdings nicht sonderlich effektiv. »Die Mitgliedstaaten bestätigen, dass der Vertrag auf drei Pfeilern ruht: nukleare Abrüstung, nukleare Nichtverbreitung und friedliche Nutzung von Atomenergie. … Es wurde betont, dass sich Abrüstung und Nichtverbreitung gegenseitig verstärken.« Diese Sätze lassen auf kooperative und konstruktive Gespräche bei der diesjährigen NVV-Konferenz schließen, hat der NVV1 doch zum Ziel, »in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft…«.
Die Realität ist recht ernüchternd, wirksame Abrüstungsmaßnahmen blieben viel zu selten: Die Welt starrt 37 Jahren nach Inkrafttreten des Vertrags vor nuklearen Waffen, daran haben Dutzende Konferenzen nichts geändert. Und auch dieses Jahr beschränkte sich das Kernelement der Treffen, die »substantiellen Diskussionen«, auf wenige Stunden. Das ist nicht untypisch für Verhandlungen rund um den NVV. Seit 37 Jahren pendeln die »PrepComs« und »RevCons« zwischen absolutem Versagen und sensationellem Erfolg – allerdings wurden oft weit reichende Versprechen nicht einmal ansatzweise eingelöst.
PrepComs und RevCons – aber keine atomwaffenfreie Welt
»PrepCom« ist die Insider-Bezeichnung für ein Prepatory Committee meeting, eines von drei Vorbereitungstreffen für die jeweils nächste Überprüfungskonferenz des NVV. Der NVV ist das einzige multilaterale Völkerrechtsabkommen zu nuklearer Nichtverbreitung und Abrüstung. Er wird im Fünfjahresrhythmus überprüft. Seit 1997 werden in den Jahren vor der Review Conference (RevCon) zehntägige »PrepComs« abgehalten um »Prinzipien, Ziele und Wege zur vollständigen Umsetzung des Vertrags und seiner Universalität zu diskutieren und Empfehlungen an die Überprüfungskonferenz auszuarbeiten.«2 Zum Abschluss eines Überprüfungszyklus sollen die Vertragsstaaten auf der »RevCon« – die nächste ist für 2010 terminiert – Fortschritte bei der Vertragsumsetzung in den letzten fünf Jahren überprüfen und Schritte zur Stärkung und Universalisierung des Vertrags vereinbaren. Endziel des NVV ist ein »Vertrag über allgemeine und vollständige Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle« – die atomwaffenfreie Welt.
Anstelle erkennbarer Schritte zu diesem Ziel erreichte die »PrepCom« 2007 lediglich, dass es in Wien überhaupt zu Sitzungsterminen kam. Die Diplomaten konnten sich nach Vermittlung Südafrikas erst vier Tage vor Ende des Treffens auf eine Tagesordnung einigen. Das Problem scheint vordergründig banal: Der Iran hatte sich gegen die Erwähnung der »vollständigen Einhaltung des Vertrages« gewehrt und gefordert, statt dessen die »vollständige Einhaltung aller Klauseln des Vertrags« auf die Agenda zu setzen. Die »Western Group«, allen voran Deutschland für die Europäische Union, lehnte stur ab, den mit ihnen im Vorfeld abgestimmten Wortlaut zu verändern.
Tendenzen einer atomwaffenstarrenden Welt
Hinter der Wortklauberei standen allerdings nicht »pubertäre Spiele«, wie das ein jugendlicher Konferenzteilnehmer vermutete, sondern grundsätzliche Überlegungen der iranischen Regierung: Wem steht die Formulierungshoheit der Tagungsagenda zu? Wie vermeidet der Iran übermächtige Kritik an seinem Nuklearprogramm (dessen laut Vertrag einzig zulässige, nämlich »friedliche« Ausrichtung von zahlreichen Experten und Staaten in Frage gestellt wird)? Wie wird erreicht, dass (zumindest auch) die mangelnde Erfüllung der Abrüstungsverpflichtungen der »nuklearen Habenden« am Pranger steht und das »unveräußerliche Recht, … Kernenergie für friedliche Zwecke zu entwickeln« (NVV Art. VI) keinesfalls eingeschränkt wird? Das nuklear-politische Umfeld der »PrepCom« war ohnehin schon problematisch genug:
- Nach neuesten Zahlen werden weltweit noch heute 26.000 nukleare Sprengköpfe einsatzbereit oder im Vorrat gehalten. Der pakistanische Experte Zia Mian wies in Wien darauf hin, dass sich Atomwaffen und Demokratie nicht vertragen, da der Atomwaffenkomplex in jedem Staat einem Höchstmaß an Geheimhaltung unterliegt und nukleare Einsatzpläne vom demokratischen Mitwirkungsprinzip ausgenommen sind. Er verwies zudem darauf, dass das Wort »deterrence« (Abschreckung) seine Wurzel im lateinischen »terrere« hat – und das bedeutet »in Furcht und Schrecken versetzen«.
- In jedem einzelnen Atomwaffenstaat wird das Arsenal an Atomsprengköpfen und/oder Trägersystemen (überwiegend Raketen), teilweise auch die dafür nötige Infrastruktur, umfassend modernisiert. Selbst Kofi Annan beklagte kürzlich die »nukleare Wiederaufrüstung«.
- Atomwaffen kommt in den militärischen Doktrinen wieder eine stärkere Bedeutung zu; sogar der Ersteinsatz gegen Nicht-Atomwaffenstaaten steht wieder zur Diskussion.
- Die NATO beharrt auf der nuklearen Teilhabe; US-Atomwaffen sind in sechs europäischen Ländern, darunter auch Deutschland, stationiert.
- Die Überprüfungskonferenz von 2005 war ein totales Fiasko; die wegweisenden – und völkerrechtlich verbindlichen – Beschlüsse von 2000 werden von der Regierung Bush als irrelevant abgetan; die diskriminierende Praxis (einige Länder dürfen Atomwaffen besitzen, alle anderen müssen darauf verzichten) wird von zahlreichen Ländern 37 Jahre nach Inkrafttreten des Vertrags zunehmend kritisch bewertet; die Glaubwürdigkeit und (ohnehin schon fragile) Stabilität des Vertragsregimes ist massiv in Frage gestellt.
- Nukleare Abrüstung ist von der weltpolitischen Agenda verschwunden. Selbst die existierenden bilateralen Verträge zwischen den USA und Russland sind entweder kaum das Papier wert (Bush-Putin-Abkommen von 2002), stehen vor dem Auslaufen (START I in 2009) oder drohen Opfer der jüngsten Raketenabwehrdebatte zu werden (Mittelstreckenvertrag von 1987). Vorsichtig hoffnungsfroh stimmt lediglich die kürzliche Einigung von Bush und Putin in Kennebunkport, über die Nachfolge von START I Gespräche zu führen.
- Immer deutlicher ist erkennbar, dass mit der Verbreitung der zivilen Atomenergie die Zahl der (virtuellen) Atomwaffenstaaten weiter steigt. Da helfen auch Zusagen zur Entwicklung »proliferationsresistenter« Atomreaktoren nicht viel weiter. Insbesondere das Vorhaben des Iran, einen eigenständigen Brennstoffzyklus aufzubauen, erweckt großes Misstrauen. Für viele Staaten – neben Japan und Frankreich vor allem solche aus dem blockfreien Lager – stellt das die Kernenergienutzung aber keinesfalls zur Disposition. Momentan sinnt fast ein Dutzend arabische Länder über die Einführung von Atomenergie nach. Dabei betragen schon jetzt die weltweiten Vorräte an waffentauglichem Spaltmaterial mehr als 1.000 Tonnen bei hoch angereichertem Uran und etwa 500 Tonnen bei abgetrenntem Plutonium. Letzteres stammt zu einem erheblichen Teil aus der zivilen Atomenergienutzung und reicht für viele tausend Sprengköpfe aus.
- Ärger verursacht auch die Paraphierung des USA-Indien-Abkommens, mit dem die USA Indien faktisch als Atomwaffenstaat anerkennen und ihre Absicht kundtun, den südasiatischen Staat in Zukunft mit Nukleartechnologie und -material zu beliefern. Das Abkommen widerspricht etlichen internationalen Vereinbarungen und Rüstungsexportkontrollmechanismen, allerdings versprechen sich manche dadurch Handelsvorteile.
Substantielle Gespräche oder substantielle Vorschläge?
Redlich nutzten die Delegierten die verbliebenen drei Tage. Der Debatte hat die Zeitnot – der PrepCom-Vorsitzende schrieb einen engen Zeitplan und knappe Redezeiten vor – nicht geschadet. Statt langer Exkurse gaben die Diplomaten fokussierte Statements, ausführliche Versionen (Working Papers) wurden wie üblich schriftlich eingereicht.3 Die »substantiellen Diskussionen« befassten sich mit nuklearer Abrüstung, Vertragsüberprüfung, Atomenergie, Spaltmaterialien, Atomtests, Sicherheitsgarantien, atomwaffenfreien Zonen, dem Nahen Osten, der Vertragsmaschinerie und -stärkung und – dem Lob auf die NGOs.
Während die Diplomaten sich in Pendeldiplomatie und Schuldzuweisungen übten, führten die NGOs ihr geplantes Programm unbeirrt durch. Vom täglichen »Morgenratschlag«, dem anschließenden Briefing mit einer eingeladenen Länderdelegation über hochkarätig besetzte Panels, informative Events mit Vorlesungscharakter, hitzige Debatten bei Podiumsdiskussionen, Filmaufführungen und eine Ausstellung zu Atomtests im Pazifik bot die Zivilgesellschaft über 40 verschiedene Veranstaltungen an. Den 400 registrierten Diplomaten standen in der ersten Woche 300 NGO-Delegierte gegenüber, darunter mehr als fünfzig Jugendliche. 18 NGO-Vertreter ergriffen in einer offiziellen Session der Diplomaten das Wort und spornten die Staatsvertreter mit Informationen und Vorschlägen zu nuklearer Abrüstung an.
Die NGOs boten aber nicht nur Masse sondern auch Klasse. Hierzu gehörte die Vorstellung einer überarbeiteten Version des von NGOs bereits 1996 ausgearbeiteten Entwurfs für eine Nuklearwaffenkonvention (NWK). Der Text beschreibt Schritte in eine atomwaffenfreien Welt u.a. mit folgenden Elementen:
- Vollständige Offenlegung sämtlicher nuklearer Waffen, Anlagen und Materialien sowie der Trägersysteme,
- Verbot der Entwicklung, Erprobung, Herstellung, Lagerung, Weitergabe, des Einsatzes und der Drohung mit einem Einsatz von Atomwaffen,
- phasenweite Vernichtung sämtlicher Atomwaffenarsenale,
- umfassende Verifikation der Abrüstung und Aufbau einer entsprechenden Überprüfungsbehörde,
- Vorgaben zur nationalen Umsetzung der Konvention,
- Vorschlag für den Aufbau einer internationalen Agentur zur Förderung erneuerbarer Energien, um so die zivile Nutzung von Atomenergie sukzessive auslaufen zu lassen.
Costa Rica zeigte sich so überzeugt vom Arbeitsergebnis der NGOs, dass es das komplette Dokument kurzerhand als offizielles Arbeitspapier einreichte.4 Begründung: »Der Modellentwurf zeigt auf, dass nukleare Abrüstung möglich ist und dass es keinen Grund gibt, mit Verhandlungen länger zu warten.«
Ein weiteres Projekt ist das »Model Nuclear Inventory« der internationalen Projektgruppe »Reaching Critical Will« (RCW).5 Anstatt lediglich Transparenz über Arsenale, Materialien, Anlagen, Doktrinen, Nichtverbreitungs- und Abrüstungsmaßnahmen einzufordern, führen die Autorinnen anhand von Informationen aus öffentlich zugänglichen Quellen eine Bestandsaufnahme für die 44 Staaten durch, die nukleare Leistungs- oder Forschungsreaktoren betreiben (also die tatsächlichen und »virtuellen« Atomwaffenstaaten). RCW fordert die Staaten damit heraus, ihrerseits Offenheit herzustellen. Denn daran führt kein Weg vorbei: Ein Mangel an Transparenz führt zu mangelndem Vertrauen, und das ist gekoppelt mit dem fehlenden politischen Willen der größte Stolperstein auf dem Weg zur atomwaffenfreien Welt.
Anmerkungen
1) Der Text des NVV steht unter http://www.atomwaffena-z.info/glossar.php?alpha=N&auswahl=Nichtverbreitungsvertrag.
2) Mit »Universalität« ist gemeint, dass sämtliche Staaten der Erde dem Vertrag beitreten sollen. Momentan hat der Vertrag 189 Mitgliedstaaten; nicht dazu gehören die (inoffiziellen) Atomwaffenstaaten Indien, Pakistan und Israel, und sie können gemäß Vertragstext nur als Nicht-Atomwaffenstaaten beitreten. Der Vertrag erkennt China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA als Atomwaffenstaaten an. Nordkorea hat seine Mitgliedschaft 2003 gekündigt; die Erfolge der Sechs-Parteien-Gespräche über die Rückabwicklung des nordkoreanischen Atomwaffenprogramms werden über den künftigen Vertragsstatus des Landes mitentscheiden.
3) Sämtliche offiziellen Konferenzdokumente finden sich unter http://www.un.org/NPT2010/documents.html.
4) Der – vorläufig nur englisch verfügbare – Text steht als Kapitel 2 des Buches Securing Our Survival unter http://www.inesap.org/books/securing_our_survival.htm. Der Vertragsentwurf sowie das Buch wurden geschrieben von Experten der IPPNW, der IALANA und von INESAP (Ärzte-, Juristen- bzw. Wissenschaftlervereinigungen für die atomwaffenfreie Welt). Die NWK von 1996 gibt es auch in deutsch unter http://www.inesap.org/pdf/mNWC_German.pdf.
5) Das Model Nuclear Inventory steht unter http://www.reachingcriticalwill.org/about/pubs/Inventory07.html.
Regina Hagen ist Koordinatorin des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) und Mitglied im W&F-Redaktionsteam.