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W&F 1990/2

Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen und internationale Sicherheit

von Wolfgang Kötter

Das Regime der Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen ist bedroht; der entsprechende Vertrag befindet sich in existentieller Gefahr. Wo liegen die Ursachen für die besorgniserregende Lage? Der nachfolgende Artikel geht auf Fragen ein, die angesichts der bevorstehenden 4. Überprüfungskonferenz zum Vertrag über die Nichtweiterentwicklung von Kernwaffen (NPT) (20. August – 14. Septemper d. J. in Genf, hochaktuell sind. Die Konferenz wird die Erfüllung der Vertragsbestimmungen durch die 142 Mitglieder prüfen und Maßnahmen zur weiteren Realisierung und Stärkung der NPT beraten. Besondere Bedeutung gewinnt sie dadurch, daß es die letzte solcher Bestandaufnahmen ist, bevor 1995 vertragsgemäß eine Entscheidung über die Verlängerung des Vertrages gefällt wird.

Über den Wert oder Unwert des Vertrages über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (NPT) wird seit zwanzig Jahren kontrovers diskutiert. Die Bewertungen reichen von der Lobpreisung, es sei der erfolgreichste der je auf dem Abrüstungsgebiet abgeschlossenen Verträge1, bis dazu, daß er als ungerecht und diskriminierend verurteilt wird.2 Offensichtlich hängt es vom Standpunkt des Betrachters ab, ob das Glas »halbvoll« oder »halbleer« scheint.

Ist eine objektive Beurteilung eines so komplizierten und vielschichtigen Problems, wie es die Nichtverbreitung von Kernwaffen ist, überhaupt möglich? Wenn man davon ausgeht, daß (trotz einzelner Vorwürfe) kein einziger der gegenwärtig 142 Mitgliederstaaten den NPT erwiesenermaßen verletzt hat und kein einziger von ihnen vom Vertrag zurückgetreten ist, so ist der NPT der bisher erfolgreichste Vertrag in der Geschichte der Rüstungsbegrenzung. Die Zahl der offiziellen Kernwaffenmächte ist über die im Vertrag definierten – bis 1. Januar 1967 existierenden fünf Kernwaffenmächte – nicht hinausgegangen. Befürchtungen hinsichtlich einer schnellen Zunahme dieser Zahl um 15-20 Staaten haben sich nicht bestätigt.

Die wichtigsten Schwellenmächte jedoch, die wissenschaftlich und technologisch in der Lage wären, Kernwaffen herzustellen, gehören ihm nicht an. De facto gibt es mehrere zusätzliche Staaten, die über Kernwaffen verfügen oder sie produzieren können: Israel (60-100), Südafrika (10-20); Indien – seine Fähigkeit wurde durch eine als friedlich deklarierte Kernexplosion im Jahre 1974 nachgewiesen und reicht schätzungsweise für die Produktion von 10 bis 20 Sprengköpfen aus; Pakistan – es ist vermutlich in der Lage, 4 bis 8 Nuklearwaffen herzustellen.3

Der NPT – pro und kontra

Es stimmt, daß das Prinzip der Nichtweiterverbreitung heute zur allgemein anerkannten Norm internationalen Verhaltens geworden ist. Daran haben der NPT und das bestehende Regime der Nichtweiterverbreitung – also die Gesamtheit der Verträge, Vereinbarungen sowie weitere nationale und internationale Maßnahmen – einen wesentlichen Anteil. Die überwiegende Mehrheit der Staaten bezweifelt den militärischen Nutzen des Schritts zur Kernwaffenmacht. Politisch wäre dafür ein hoher Preis zu zahlen. Nicht zuletzt aus diesen Gründen hat bisher keine Schwellenmacht den entscheidenden Schritt – die Durchführung eines Kernwaffentests oder die offizielle Erklärung über den Besitz von Nuklearwaffen – getan.

Doch wird es von vielen nicht als zufällig angesehen, daß die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates identisch mit den fünf Kernwaffenmächten sind. Obwohl es mit Japan und der BRD gegenteilige Beispiele dafür gibt, wie Staaten, ohne Kernwaffen zu besitzen, ökonomisch stark und einflußreich am internationalen Leben teilnehmen können, bestehen auch Ansichten, die ein gehobenes internationales Prestige mit dem Kernwaffenbesitz verbinden und darin den erfolgversprechendsten Weg zu einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat sehen.

Eine nüchterne Analyse der gegenwärtigen Situation zwingt zu der Schlußfolgerung: Das Regime der Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen ist bedroht; der NPT befindet sich in existentieller Gefahr. Wo liegen die Ursachen für die besorgniserregende Lage?

Nichtweiterverbreitung und nukleare Abschreckung

Trotz aller nicht zu leugnender Verdienste tritt heute klar zutage: Der NPT ist gescheitert als Instrument zur Festschreibung des Status quo in einer sich verändernden Welt. So aber wurde er lange Zeit von den Kernwaffenmächten angesehen und gehandhabt (von einigen geschieht das anscheinend noch immer). Er wurde ungenügend genutzt als ein Mittel zur umfassenden Demokratisierung der internationalen Beziehungen, d.h. zur Transformierung der Welt in eine gewalt- und kernwaffenfreie Existenzform. Nur in einer solchen Welt können die Staaten ungeachtet ihrer sozialen und politischen Ordnung auf gleichberechtigter, kooperativer und gegenseitig vorteilhafter Grundlage miteinander verkehren, wobei ihre Beziehungen ausschließlich durch das Völkerrecht geregelt werden. Eine solche Ordnung fordert die Mehrzahl der nichtkernwaffenbesitzenden Staaten.

Der Grundwiderspruch des bestehenden Regimes der Nichtweiterverbreitung ist nicht darin zu suchen, daß sein zentrales Element, der NPT, an sich einen diskriminierenden Charakter hat oder daß einzelne Vertragsverpflichtungen ungenügend erfüllt werden. Er besteht im nicht gleichberechtigten, für die heutige Welt anachronistischem Sicherheitsverständnis, auf dessen Basis jahrzehntelang Nichtweiterverbreitungspolitik von den Kernwaffenmächten betrieben wurde. Damit haben sie gewissermaßen selbst den Zeitzünder unter der NPT gelegt, der, wenn er nicht entschärft wird, den Vertrag in nicht allzuferner Zeit in die Luft sprengen und das gesamte System (möglicherweise sogar im buchstäblichen Sinne) zu Asche machen wird.

Das Problem beginnt mit dem fundamentalen Mißverständnis über den zentralen Kompromiß des Vertrages. Für die Kernwaffenmächte besteht er im Tausch „Nichtweiterverbreitungsverpflichtung gegen Unterstützung bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie“. Die eigenen Kernwaffen bleiben unberührt. Die Staaten, die keine Kernwaffen besitzen, erwarten als Gegenleistung für ihre eigene Nichterwerbsverpflichtung die nukleare Abrüstung der Kernwaffenstaaten. Die gleichzeitig ungehinderte friedliche Nutzung der Kernenergie wird vorausgesetzt. Die Kernwaffenmächte betrachten die Kernwaffen als ein legitimes, unverzichtbares Element für die Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit und der internationalen Stabilität (fairerweise wird man die UdSSR spätestens seit Beginn der Umgestaltung Mitte der 80er Jahre von dieser Einschätzung ausnehmen müssen). Es ist nur zu verständlich, daß die Nichtkernwaffenstaaten dagegen den Vorwurf erheben, es handle sich um einen moralischen Doppelstandard: „Kernwaffen in unseren Händen sind gut für uns und gut für die Welt; Kernwaffen in anderen Händen sind schlecht für alle!“ Die These, Kernwaffen würden friedenserhaltend in der Ost-West-Auseinandersetzung, aber destabilisierend und kriegsgefährlich in jeder anderen Region wirken, birgt in sich einen unvereinbaren Widerspruch zwischen dem Konzept der nuklearen Abschreckung und dem Interesse an der Nichtweiterverbreitung. Dieser Widerspruch ist seinem Wesen nach antagonistisch. Es ist nur lösbar, wenn sich einer der beiden Antipoden durchsetzt. Entweder das Abschreckungskonzept bleibt als Regulator der internationalen Beziehungen weiter wirksam, dann wird die Weiterverbreitung – und zwar nicht nur der Kernwaffen, sondern ebenso auch der chemischen, modernen konventionellen Waffen und Trägermittel – zwangsläufig und unaufhaltsam sein. Oder es gelingt, die Weiterverbreitung von Waffen und -technologien zu stoppen. Dafür ist – wenn auch schrittweise und über Zwischenetappen – die Ersetzung der Abschreckung durch ein kooperatives Sicherheitskonzept unerläßliche Bedingung.

Versuche, Abschreckung und Nichtweiterverbreitung miteinander in Einklang zu bringen, stützen sich auf zwei Grundprämissen:

  1. Die nukleare Abschreckung sei im Ost-West-Konflikt unverzichtbar, weil die Kernwaffen seit 45 Jahren den Frieden bewahrt haben;
  2. die nukleare Abschreckung würde in der Dritten Welt aus einer Vielzahl von Gründen nicht funktionieren. Da das Auftauchen von Kernwaffen hier destabilisierend wirken und die Gefahr eines Kernwaffenkrieges enorm erhöhen würde, ist die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen auch in diesen Regionen oberstes Gebot.4

Die zweite These wird bis auf wenige Ausnahmen, die eine Weiterverbreitung von Kernwaffen auch in der Dritten Welt für stabilisierend halten, allgemein geteilt. Kritisch zu überprüfen wäre allerdings die erste Behauptung, und zwar nicht so sehr aus historischem Interesse, als vielmehr, um daraus die erforderlichen Schlußfolgerungen für die Gegenwart und die Zukunft zu ziehen. Natürlich kann es keine eindeutige Widerlegung der friedenserhaltenden Rolle der Abschreckung geben. Wenn sie versagt, wird niemand mehr da sein, um diesen Beweis zu führen oder entgegenzunehmen.

Die Existenz von Kernwaffen hat in den vergangenen Jahrzehnten in der Krieg-Frieden-Frage zweifellos eine erhebliche Rolle gespielt. Waren es aber wirklich die Kernwaffen an sich, die den Frieden erhalten haben? War es nicht vielmehr die Erkenntnis, wie unermeßlich die Verluste wären und wie groß die Gefahr der Selbstvernichtung ist? Kernwaffen haben gewissermaßen als Denkhilfe gewirkt: sie haben dem gesunden Menschenverstand Geltung verschafft, der erkennt, daß andere – ökonomische, politische, kulturelle und auch moralische – Werte höher stehen als alles, was mit dem Risiko des Selbstmords zu gewinnen wäre. Gleichgültig, ob es die Berlinkrise, der Koreakrieg, die karibische Krise oder der Vietnamkrieg waren, letzten Endes wurde immer aus politischem Kalkül, in nüchterner Kosten-Nutzen-Analyse, dank dem Selbsterhaltungstrieb und – immer auch mit einer gehörigen Portion Glück – auf den Nuklearkrieg verzichtet und eine friedliche Lösung erreicht.

Um wieviel mehr stellt sich heute die Frage: Kann sich die Menschheit, jetzt und in Zukunft, eine derart selbstmörderische »Denkhilfe« noch leisten? Kann sie die Last dieser Verantwortung tragen? Haben in der Realität nicht schon längst andere Faktoren als die Kernwaffen die Abschreckungs- und Selbstabschreckungsfunktion übernommen? Als derartige Faktoren wären zu nennen:

  1. die allgemeine Kriegsunverträglichkeit moderner Industriegesellschaften (es würde nicht nur zerstört werden, was erobert, sondern auch, was verteidigt werden soll);
  2. vielfältige wechselseitige Abhängigkeiten in wirtschaftlicher, ökologischer, kultureller u.a. Hinsicht und die daraus erwachsenden gemeinsamen Interessenfelder;
  3. Lernprozesse in westlichen Staaten und nicht zuletzt die zur Erneuerung drängenden Veränderungen in den östlichen Staaten.

Aus alledem ergibt sich immer zwingender die Schlußfolgerung: eine zeitgemäße alternative zur nuklearen Abschreckung ist eine umfassende Sicherheitspartnerschaft auf gleichberechtigter, kooperativer und gegenseitig vorteilhafter Grundlage. Sie ist nicht nur eine potentielle Möglichkeit, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Nichtweiterverbreitung ein kategorischer Imperativ.

Die Menschheit befindet sich im Umbruch

Die Tatsache, daß die Gefahr der Weiterverbreitung modernster Waffen und Militärtechnologien zu einer globalen Herausforderung von menschheitsbedrohender Dimension geworden ist, zeigt, daß eine historische Fehlentwicklung in der Menschheitsgeschichte stattgefunden hat und noch weiter stattfindet. Sie hat zur folgenschweren Nichtübereinstimmung zwischen der Herausbildung von Weltproduktivkräften, einer internationalisierten Wissenschaft, Technik und Technologie einerseits und überholten gesellschaftlichen Strukturen auf nationaler und internationaler Ebene andererseits geführt.

Die Tatsache, daß die Beziehungen von Menschen und Gesellschaften untereinander unzureichend demokratisch sind, reproduziert einen willkürlichen Umgang und eine destruktive Verwendung von Wissenschaft und Technik. Der militärische Mißbrauch von Wissenschaft und Technik wie auch die Weiterverbreitung von Waffen und Militärtechnologien sind ein direkter Ausdruck des Auseinanderklaffens zwischen der materiellen und der sozialen Entwicklung der Menschheit. Die Welt befindet sich in einer dramatischen Umbruchsituation.

Die Globalisierung der Reproduktionsbedingungen der Menschheit im Gefolge fortschreitender Internationalisierung der Produktivkräfte und aller Seiten des gesellschaftlichen Lebens verändert grundsätzlich die Prioritäten. Klassen- und Systemgegensätze werden relativiert, gemeinsame existentielle Herausforderungen an die Menschheit treten in den Vordergrund. Das Aufkommen der Kernwaffen vor fünfundvierzig Jahren signalisierte den tiefen Einschnitt im Dasein der Menschheit. Die Kernwaffen haben alles verändert, bis auf eins – unser Denken!5

Das sagte Einstein, und erst ein halbes Jahrhundert später beginnen wir diesen Satz zu begreifen. Eine andere Warnung, die erst kürzlich ausgesprochen wurde, lautet: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben (Michail Gorbatschow beim Besuch in der DDR aus Anlaß ihres 40. Jahrestages). Auch das Problem der Weiterverbreitung von Kernwaffen ist weder durch wissenschaftlich-technische Restriktionen noch durch administrativ-juristische Zwänge zu bannen. Dies kann nur auf politischem Wege gelingen, durch eine radikale Demokratisierung der internationalen Beziehungen und durch umfassende nukleare Abrüstung. Was jedoch die nukleare Abrüstung betrifft, so wurden zehn bis fünfzehn wichtige Jahre verloren. Das Ausbleiben durchgreifender Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens und der nuklearen Abrüstung hat wesentlich mit dazu beigetragen, daß die Weiterverbreitung von Kernwaffen, von Waffen generell heute eine für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit außerordentlich akute Frage geworden ist. Wir stehen wahrscheinlich vor einem Dilemma: Flickschusterei kann das Problem nicht lösen, weil es nur die Symptome, nicht aber die Ursachen behandelt. Erforderlich sind historische Visionen und strategische Konzepte. Dafür aber läuft die Zeit davon.

Was ist zu tun?

Die Suche nach Antworten beginnt mit zwei alternativen Fragestellungen:

  1. Ist der NPT in der bisher vorwiegend gehandhabten Weise als Verweigerungs- und Schadensbegrenzungsmittel überhaupt noch ein angemessenes Instrument zur Regulierung internationaler Angelegenheiten in der heutigen Welt? Sollte er nicht umgehend durch ein umfassendes Sicherheitssystem abgelöst werden, das die nukleare Abrüstung als integrales Element einschließt?6

Oder die gegensätzliche Frage:

  1. Bestünde eine realistische Haltung nicht gerade darin, wenn man die De-facto-Existenz zusätzlicher Kernwaffenstaaten anerkennen würde, wenn man mit der Weiterverbreitung von Kernwaffen leben lernte und Maßnahmen ergriffe, um mit ihr zu überleben? Solche Maßnahmen wären dann z.B. folgende:

    • verbesserte Kommunikation durch »heiße Drähte«, Vereinbarungen über Prozeduren zur Risikoverminderung, Konfliktverhütung und zum Krisenmanagement zwischen neuen bzw. potentiellen Kernwaffenstaaten;
    • gegenseitige Verpflichtungen zum Nichtangriff auf nukleare Anlagen;
    • Vereinbarungen über die Nichterstanwendung von Kernwaffen;
    • Kernwaffentestverzicht u.a.7.

Liegt die Antwort überhaupt in einem Entweder-Oder? Besteht sie nicht vielmehr darin, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen? Wahrscheinlich wäre ein Verzicht auf den NPT, bevor eine tragfähige Alternative gefunden ist, für niemanden von Nutzen. Allerdings müssen unverzüglich und zielstrebig Maßnahmen ergriffen werden. Sonst wäre – so scheint es – der NPT nicht zu retten.

Wie könnten derartige Maßnahmen aussehen?

  1. Mehr als vier Jahre sind seit dem Gorbatschow-Plan zur Beseitigung aller Kernwaffen bis zum Jahre 2000 vergangen. Vor zwei Jahren unterbreitete Indien das Programm zur nuklearen Abrüstung bis zum Jahre 2010. Wäre es nicht höchste Zeit, eine multilaterale Arbeitsgruppe – in welcher Form auch immer, z.B. als UN-Expertengruppe oder als Ad-hoc-Komitee der Genfer Abrüstungskonferenz u.a. – zu bilden, die sich mit der Erarbeitung eines globalen Konzepts zur nuklearen Abrüstung, einschließlich einer möglichen Kontrollfunktion der IAEA, befaßt?
  2. energisch und ergebnisorientiert muß der weltweite Dialog im Rahmen der UNO über die Gestaltung umfassender Sicherheit fortgesetzt werden. Die 44. UN-Vollversammlung nahm im Konsens eine gemeinsam von der UdSSR und den USA initiierte Resolution (44/21) zur Rolle der UNO bei der Festigung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit an. Das sollte als ermutigendes Zeichen gewertet und durch konkrete Schritte materialisiert werden. Skeptischer allerdings stimmt, was bisher von amerikanischer Seite darüber zu hören ist, welchen Preis an nuklearer Abrüstung man für das Überleben des NPT zu zahlen bereit ist.8 Es bleibt zu hoffen, daß in dieser Hinsicht das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.
  3. Der Trend zur Weiterverbreitung von Waffen – nuklearer, chemischer und anderer – wird sich ohne eine friedliche und dauerhafte Lösung der regionalen Konflikte und Spannungen nicht aufhalten lassen. Schwerpunkte bilden der Nahe und der Mittlere Osten, der Süden Afrikas, Südasien und Lateinamerika. Im Vordergrund muß das Bemühen stehen, das Interesse der betreffenden Staaten am Kernwaffenbesitz zu verringern. Die hauptsächlichen Interessen sind a) die eigene nationale Sicherheit (wie auch immer definiert) und b) die Erlangung eines Großmachtstatus (global bzw. regional). Also muß bei diesen Ursachen angesetzt und konstruktiv gehandelt werden. Versuche der Isolierung und Ausgrenzung z.B. Israels und Südafrikas sind bisher erfolglos geblieben. nun sollten alle Möglichkeiten geprüft werden, um diese Staaten durch Einbindung in das Regime der Nichtweiterverbreitung zu einer Kurskorrektur zu bewegen.
  4. Was ist auf dem Gebiet der nuklearen Abrüstung, realistisch betrachtet, in nächster Zeit zu erwarten und was kann darüber hinaus getan werden?

    • Dringend erforderlich scheint eine qualitativ neue (möglichst gemeinsam erarbeitete) Bedrohungsanalyse der NATO und der Warschauer Vertragsorganisation. Sie muß davon ausgehen, daß ein Nuklearkrieg, ja jeglicher Krieg gegeneinander, unter keinen Umständen gewonnen oder geführt werden kann. Auf dieser Grundlage müßte es, als ein erster Schritt, möglich sein, sich zunächst über eine nukleare »Minimalabschreckung« und die dafür erforderlichen Potentiale zu verständigen. Als Folge würden sich mit großer Wahrscheinlichkeit neue Spielräume für gemeinsame, aber auch für einseitige nukleare Abrüstungsmaßnahmen eröffnen.
    • Die Aussichten für eine Übereinkunft über eine einschneidende Reduzierung der strategischen Offensivwaffen der UdSSR und der USA noch im Jahre 1990 scheinen erfolgversprechend. Das Zustandekommen einer entsprechenden Vereinbarung wird eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg der 1990 stattfindenden 4. Überprüfungskonferenz zum NPT bilden.
    • Das vollständige und allgemeine Verbot der Kernwaffenversuche wird vielerorts als eine vorrangige Forderung zur Erhaltung des NPT erhoben.9 In absehbarer Zeit ist ein solches Verbot angesichts der weiterhin ablehnenden Haltung der USA jedoch nicht zu erwarten.10 Bestimmte Zwischenetappen, so z.B. eine stärke- und zahlenmäßige Begrenzung, könnten möglich sein. Zweifelhaft bleibt jedoch, ob sie von den Nichtkernwaffenstaaten als ausreichender Fortschritt akzeptiert werden.
    • Eine überfällige Entscheidung ist die Modifizierung der negativen Sicherheitsgarantien der Kernwaffenmächte gegenüber den Nichtkernwaffenstaaten. Unter Berücksichtigung der bekannten Folgen eines Kernwaffenkrieges, besonders des »nuklearen Winters«, sollte es möglich sein, gegenüber den nichtkernwaffenbesitzenden Staaten eine generelle Nichtanwendungsversicherung abzugeben und diese in einer gemeinsamen völkerrechtlichen Vereinbarung zu formulieren. Damit wäre einer langjährigen Forderung der Nichtkernwaffenstaaten entsprochen.
  5. Schließlich taucht die Frage auf: Was können und sollten die beiden deutschen Staaten tun, um den NPT zu stärken und die internationale Sicherheit zu stabilisieren? Noch vor einem Jahr wäre die Antwort »nichts Besonderes« für viele akzeptabel gewesen. Sind doch beide Mitglieder des Vertrages (die DDR sei 1969, die Bundesrepublik seit 1975), keiner hat seither das Verlangen nach eigenen Kernwaffen geäußert. Jeder der beiden deutschen Staaten ist in seinem jeweiligen Bündnis – NATO bzw. Warschauer Vertrag – eingebunden, und beide sind durch das KSZE-Vertragswerk vielfältig in die bestehende europäische Ordnung integriert.

Seit jedoch die deutsche Vereinigung in rasantem Tempo voranschreitet und schon bald ein einheitliches Deutschland in der Weltpolitik agieren wird, sind neue Unwägbarkeiten entstanden. Nicht nur die unmittelbaren Nachbarstaaten fragen mit Besorgnis, wie verhindert werden kann, daß Deutschland erneut zu einer Bedrohung für den Frieden und die internationale Sicherheit werden könnte. Richtete sich die Aufmerksamkeit zunächst auf die endgültige Anerkennnung der polnischen Westgrenze, so ist bald abzusehen, daß auch die weitere Haltung der neuen Großmacht zum Besitz von Kernwaffen von der internationalen Staatenwelt gespannt verfolgt werden wird.

Die beiden deutschen Staaten haben die Gelegenheit, auf der bevorstehenden NPT-Überprüfungskonferenz und im Hinblick auf die für 1995 anstehende Entscheidung über die Verlängerung des Vertrages ein deutliches Zeichen zu setzen. In einer gemeinsamen bzw. in getrennten, aber inhaltlich gleichgerichteten Stellungnahmen sollte verbindlich erklärt werden, daß beide deutsche Staaten sich jetzt und in einem künftigen geeinten Deutschland an den Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen gebunden fühlen.

Insbesondere sollten sie sich verpflichten, auch weiterhin:

  • keine Kernwaffen zu produzieren, zu erwerben oder die Kontrolle über sie anzustreben (Artikel II);
  • bei der Gestaltung der internationalen Kooperation zur friedlichen Nutzung der Kernenergie, einschließlich des Handels mit Kernmaterial, Ausrüstungen und Technologien, nicht zuzulassen, daß Kernenergie aus friedlichen Anwendungsgebieten für Kernwaffen verwendet wird (Artikel III) und
  • aktive Bemühungen für die Einstellung des nuklearen Wettrüstens, die nukleare Abrüstung sowie die allgemeine und vollständige Abrüstung unter strikter internationaler Kontrolle zu unternehmen (Artikel VI).

Eine derartige Versicherung wäre geeignet, vorhandenes Mißtrauen gegenüber der deutschen Wiedervereinigung abzubauen und die anderen Staaten zu versichern, daß ein vereintes Deutschland nicht zu einer Bedrohung, sondern zu einem Element der Stabilität, der Stärkung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit werden will.

Die Aufrechterhaltung der internationalen Sicherheit erfordert ein effektives Regime der Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen. Auf längere Sicht kann es jedoch nur erhalten werden, wenn seine Stärkung einhergeht mit der Schaffung von Bedingungen, die ein solches Regime überhaupt überflüssig machen. Die einzige Chance für das Überleben des NPT liegt in der Anerkennung der Tatsache, daß seine Lebensdauer ohnehin begrenzt ist. Um die verbleibende Zeit zu nutzen, muß ein radikal neues Denken her und muß unverzüglich konstruktiv gehandelt werden. Der einzig zuverlässige Weg zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Kernwaffen besteht in ihrer völligen Beseitigung.

Anmerkungen

1) Vgl. Interview mit der USA-Vertreterin Kathleen Bailey, in: Disarmament Newsletter, New York, October 1989, S.4. Zurück

2) Vgl. Interview mit dem Ständigen Vertreter Indiens bei den Vereinten Nationen, C.R. Gharekhan, a.a.O., S. 8. Zurück

3) Siehe L.S. Spektor, New players in the nuclear game, Bulletin of the Atomic Scientists, Chicago, January/February 1989. Zurück

4) Siehe K. Kaiser, Non-proliferation and nuclear deterrence, Survial, London, March/April 1989. Zurück

5) O. Nathan/H. Norden, Einstein on Peace, New York 1980, S. 376. Zurück

6) Dies ist ein Hauptanliegen des von Indien vorgeschlagenen Programms zur Befreiung der Welt von Kernwaffen bis zum Jahre 2010, UN-Dokument A/S-15/12. Zurück

7) Siehe L.S. Spector. The Undeclared Bomb, Cambridge, Massachusetts 1988; siehe auch derselbe, Nonproliferation – After the Bomb Has Spread, Arms Control Today, Washington, December 1988. Zurück

8) Siehe Erklärung des USA-Vertreters Lehmann im 1. Komitee der 44. UN-Vollversammlung, UN-Dokument A/C.1/44/PV.5. Zurück

9) Siehe V. Goldanski/W. Dawydow, Über die Abwendung der horizontalen Weiterverbreitung der Kernwaffen, Gesellschaftswissenschaften, Moskau, Nr. 3/1989. Zurück

10) Siehe Interview mit der USA-Vertreterin Kathleen Bailey a.a.O. Zurück

Dr. Wolfgang Kötter ist Dozent an der Sektion Völkerrecht und internationale Politik an der Hochschule für Recht und Verwaltung in Potsdam. Zugleich ist Dr. Kötter Konsultant des UNO-Sekretariats in Fragen NPT.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1990/2 1990-2, Seite