W&F 2001/1

NMD kontra ABM-Vertrag

Die Differenzen zwischen den USA und Russland

von Bernd W. Kubbig

Das Spitzentreffen zwischen Bill Clinton und Wladimir Putin am 4./5. Juni 2000 in Moskau sollte zu einem Durchbruch bei den seit langem stagnierenden Gesprächen über Änderungen des Raketenabwehr-Vertrages (Anti-Ballistic Missile Treaty, ABM) werden. Die Clinton-Administration wollte das bilaterale Abkommen von 1972 gravierend modifizieren, damit es mit ihren Plänen zur Aufstellung eines begrenzten Nationalen Abwehrsystems (National Missile Defense System, NMD) vereinbar wird. Denn der Kerninhalt des ABM-Vertrages besteht im Verbot eines solchen landesweiten Abwehrschildes. Angesichts der Raketenbedrohung aus so genannten Schurkenstaaten (die neuerdings offiziell »besorgniserregende Staaten« heißen) hielt es die alte US-Administration für geboten, ihr Territorium entsprechend zu schützen. Unter dem neuen Präsidenten dürfte das nicht anders sein.
Die neue Moskauer Führung hingegen macht sich – wie alle ihre Vorgängerinnen – das zentrale Anliegen des ABM-Abkommens zu eigen. Sie spricht sich vehement gegen das Nationale Abwehrsystem der Vereinigten Staaten aus. So konnte es nicht überraschen, dass sich auf dem Moskauer Gipfel beide Seiten unversöhnlich gegenüberstanden. Zum »Grand Bargain« kam es nicht. Dieser von der US-Regierung angestrebte »Große Tauschhandel« sah vor, dass der Kreml den Abänderungen des ABM-Vertrages zustimmt und damit sein »Ja« zum Rüstungsvorhaben der Administration gibt; im Gegenzug würde die Exekutive in Washington die von Moskau angestrebte drastische Verminderung der Nuklearwaffen akzeptieren. Statt des Raketenabwehr-Kompromisses unterzeichneten die beiden Präsidenten auf dem Gipfel nur zwei vergleichsweise bescheidene Abkommen. Das eine sieht die Zerstörung von waffenfähigem Plutonium vor; das andere ordnet die Einrichtung eines gemeinsamen Moskauer Zentrums an, in dem beide Seiten Frühwarndaten über ihre jeweiligen Raketenstarts austauschen (»information sharing«).

Der von der Clinton-Administration erhoffte bilaterale Kompromiss kam auch deshalb nicht zustande, weil ein Brief von 25 einflussreichen republikanischen Senatoren an den US-Präsidenten die Verhandlungsposition der US-Regierung in Sachen Modifikation des ABM-Vertrages desavouierte. Die Senatoren teilten ihrem Präsidenten unverblümt mit, er könne nicht damit rechnen, dass die Mehrheit der Kammer ein entsprechend ausgehandeltes Abkommen ratifizieren würde. Dieses Schreiben signalisiert nicht nur, dass in den USA das Jahr 2000 ein Wahljahr ist (am 7. November wurde nicht nur ein neuer Präsident gewählt, sondern auch ein Drittel der 100 Senatoren und alle 435 Abgeordneten).

Inhaltlich gesehen belegt das Schreiben der Senatoren, wie sehr sich Teile dieser Kammer von der Administration unterscheiden, wenn es um Konzeption und Umfang eines Raketenabwehrsystems geht. Anders als die alte Regierung, die einen zunächst begrenzten Schild anstrebte, der stufenweise ausgebaut wird, wollen einflussreiche Senatoren und ihre politischen Verbündeten im gesellschaftlichen Umfeld einen weitaus umfangreicheren Abwehrgürtel aufstellen. Unterschiedlich ist auch der Umgang mit dem ABM-Abkommen und dem Vertragspartner Russland entlang der Trennungslinie von striktem Unilateralismus versus einem an Bedingungen geknüpften Bilateralismus. Die energischen NMD-Befürworter wollen, ohne weiter mit Moskau über die Veränderungen zu verhandeln, von der im Vertragstext vorgesehenen Rückzugsklausel Gebrauch machen (in diese Richtung hat sich auch George W. Bush geäußert, der aber als Präsident sicher vorher über einen gewissen Zeitraum mit Russland verhandeln würde).1

Im Vergleich dazu war die alte Administration konzessionsbereiter. Ihre Verhandlungspositionen sind dem angesehenen Fachblatt »Bulletin of the Atomic Scientists« zugespielt worden, das sie veröffentlichte. Es handelt sich dabei um die »Talking Points«, die höchst wahrscheinlich US-Delegationsleiter John Holum auf der Arbeitsebene seinem russischen Gesprächspartner Juri Kapralow im Januar 2000 präsentierte. Dieses US-amerikanische Dokument ist aus mindestens drei Gründen außerordentlich aufschlussreich: Inhaltlich ermöglicht es eine Analyse der US-Positionen und der Streitpunkte zwischen Washington und Moskau, wie sie bisher in so detaillierter Form nicht möglich war. In politischer Hinsicht zeigen die »Talking Points« des US-Delegationsleiters, wie moderat die Haltung der Clinton-Administration im Vergleich zu den weiter reichenden Vorstellungen der erzkonservativen Befürworter war. Normativ gesehen vermitteln die Unterlagen in bisher beispielloser Weise, wie problematisch selbst die »relativ« gemäßigte Haltung der alten US-Regierung aus einer an Rüstungskontrolle orientierten Perspektive ist. Diese Verhandlungspositionen waren im Großen und Ganzen auch für den Moskauer Clinton/Putin-Gipfel relevant.

Die Raketenabwehrpläne der Clinton-Administration verändern den Charakter des Abkommens fundamental, machen sie doch den Rüstungskontrollvertrag, der der Raketenabwehr enge Fesseln anlegte, zu einem Rüstungsmanagement-Abkommen. Auf der Grundlage der »Talking Points« bleiben demgegenüber die russischen Positionen blass. Denn was aus dem Dokument nicht hervorgeht, ist die von Moskau favorisierte beträchtliche Verminderung der atomaren Gefechtsköpfe auf 1500. Auf einen entsprechenden Vorschlag ist die US-Regierung nicht eingegangen. Russlands Verhandlungsposition war dadurch gekennzeichnet, dass es über den ABM-Bereich hinausgehende Vorschläge zur gemeinsamen Bekämpfung der Proliferation präsentierte.

Der inhaltliche Dissens, der in den »Talking Points« einen breiten Raum einnimmt, läuft auf die Frage hinaus, inwieweit die Abwehrpläne der Clinton-Administration die nukleare Zweitschlagsfähigkeit Moskaus perspektivisch untergraben. Dies war für die russische Führung die Gretchenfrage. Das genannte Dokument setzt sich mit den von Moskau genannten sicherheitspolitischen Aspekten auseinander; die statuspolitische Dimension (Russlands kontinuierliches Interesse daran, zumindest auf atomarem Gebiet Weltmacht zu bleiben), werden in den »Talking Points« nicht angesprochen. Mit der in Zweifel gezogenen Zweitschlagsfähigkeit der russischen Nuklearstreitkräfte sind die folgenden Aspekte verbunden:

  • Die grundsätzliche Frage, inwieweit die nukleare Abschreckungslogik, in deren Rahmen der ABM-Vertrag entstand, die atomare Politik beider Seiten auch nach dem Ost-West-Konflikt anleitet. Hier ist relevant, dass beide Seiten trotz der fundamentalen weltpolitischen Veränderungen und der verminderten Rolle der Nuklearwaffen in puncto Militärstrategie, Zielplanung und operative Fähigkeiten noch völlig dem System der »wechselseitigen gesicherten Zerstörung« (Mutual Assured Destruction, MAD) aus der Zeit des Ost-West-Konflikts verhaftet sind. Die »Talking Points« von US-Delegationsleiter John Holum zementieren die nukleare Abschreckung dadurch auf einem außerordentlich hohen Niveau, dass der russischen Seite nahegelegt wird, ihr Nuklearpotenzial auf 1500 bis 2000 Sprengköpfe auszurichten. Dies soll sicherstellen, dass Russland das von den Vereinigten Staaten geplante NMD-System zu durchdringen vermag. Folgt Moskau diesem Rat, so wird der Aufbau des US-amerikanischen Schirms gerade nicht zur „nuklearen Rüstungsverminderung durch NMD&147; führen, die die Abwehrbefürworter beständig beschwören.
  • Die Plausibilität von Erstschlagsszenarien und die Moskau nahegelegten militärischen Reaktionen auf ein umfassendes Abwehrsystem der Vereinigten Staaten. In krisenstabilitätspolitischer Hinsicht ist problematisch, dass die US-Delegation Russland nahelegt, sein strategisches Nukleararsenal weiterhin in ständiger Alarmbereitschaft zu halten. Eine Strategie des »launch on warning« soll Moskau befähigen, seine Nuklearwaffen abzufeuern, bevor sie durch US-Raketen vernichtet werden könnten. So wenig plausibel ein solches Erstschlagsszenario sein mag: Die Gefahr von nicht autorisierten oder versehentlich abgeschossenen Raketen als Reaktion auf einen fälschlich gedeuteten Raketenangriff bleibt bestehen – oder erhöht sich sogar angesichts des in schlechtem Zustand befindlichen russischen Frühwarnsystems.
  • Die Vorhersehbarkeit (predictability) der NMD-Pläne mit dem Ziel, für Russland Erwartungsstabilität herzustellen und Vertrauen zu schaffen/die Ausbruchsgefahr der USA aus einem begrenzten Nationalen Abwehrsystem. Moskau misst die Ausbruchsgefahr Washingtons aus einem begrenzten NMD-System an dem Ausbaupotenzial, das die Vereinigten Staaten bei ihren Radar- und Sensorkapazitäten anstreben. Den derzeitigen NMD-Plänen der Clinton-Administration zufolge ist für die Phase II die Dislozierung von 24 mit Infrarot-Sensoren ausgestatteten Satelliten im Weltraum vorgesehen. Damit entsteht zusammen mit den fünf umgerüsteten Frühwarnradars und dem möglichen Bau einer weiteren Radaranlage in Südkorea eine technologische Infrastruktur, die den Sprung von einem begrenzten zu einem umfassenden Raketenabwehrsystem in relativ kurzer Zeit ermöglichen dürfte. Russland sieht ebenfalls mit Sorge, dass die USA anstreben könnten, den Nationalen Abwehrgürtel mit den geplanten regionalen Abwehrsystemen (Theater Missile Defense, TMD) zu verknüpfen. Einer Studie der Ballistic Missile Defense Organization im Pentagon vom 1. Juni 1999 zufolge können die für NMD-Zwecke eingesetzten Radaranlagen die weit reichenden (Navy Theater Wide) Abwehrwaffen dazu befähigen, strategische Potenziale Russlands zu zerstören. Die Clinton-Administration plante die Aufstellung von mehr als 600 solcher seegestützten Abfangsysteme. Die im Brief der 25 republikanischen Senatoren vom 17. April 2000 zum Ausdruck kommenden Vorstellungen, die über die Abwehrpläne der Clinton-Administration weit hinausgehen, unterstreichen, dass die von Russland verlangte Vorhersehbarkeit nicht gewährleistet ist.

Auf dem Moskauer Gipfel (und auch danach) wurde deutlich, dass die US-Regierung ihrem russischen Vertragspartner nicht glaubwürdig versichern konnte, dass ihre NMD-Pläne ausschließlich eine Antwort auf die begrenzten Raketenfähigkeiten »besorgniserregender Staaten« wie Nord Korea, Iran und Irak sind. Moskau fürchtet weiterhin, dass die USA mittel- und langfristig fähig und willens sind, ein Nationales Verteidigungssystem aufzubauen, das die Vergeltungsfähigkeit der russischen Nuklearstreitkräfte in einem unannehmbaren Ausmaß einschränkt. Zu den inhaltlichen Gegensätzlichkeiten kommen politisch-taktische Erwägungen. Das politische System der USA ist im Wahljahr 2000 im Übergang begriffen, während der frisch gewählte russische Staatspräsident nicht unter unmittelbarem Zeitdruck steht. Durch einen auf dem Moskauer Juni-Gipfel voreilig erzielten Kompromiss wäre Putin Gefahr gelaufen, mit Clintons Nachfolger bereits im nächsten Jahr neu verhandeln zu müssen.

Russland muss sich jedoch darauf einstellen, dass die neue US-Administration das Nationale Raketenabwehrprojekt noch stärker vorantreiben wird. Die oben herausgearbeiteten Unstimmigkeiten können sich noch verschärfen. Dies wirft die Frage auf, ob Russland dann eher bereit sein wird, einen Kompromiss zu akzeptieren oder aber, ob es mit verstärkten Gegenmaßnahmen bei den Nuklearwaffen reagiert, um den US-Schild durchlöchern zu können. Letzteres liefe auf ein erneutes Wettrüsten hinaus. Wie der (möglicherweise nur vorübergehend) beigelegte Richtungsstreit zwischen Verteidigungsminister Sergejew und Generalstabschef Kwaschnin belegt, sind die russischen Ressourcen begrenzt. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass Moskau sich aus sicherheits- und statuspolitischen Gründen dafür entscheidet, zu nuklearen Mehrfachsprengköpfen zurückzukehren. Dies wäre das Ende des START II-Vertrages, der diese Technologie verbietet – die Folgen für das gesamte Rüstungskontrollgebäude wären unübersehbar.

Im Umfeld des Gipfels bot Präsident Clinton an, den geplanten Anti-Raketenschild mit den Verbündeten und anderen »zivilisierten Staaten« zu teilen. Diese Offerte weckt diesseits des Atlantiks (etwa in der Bundesregierung) die Hoffnung auf den Zugang zu US-amerikanischer Spitzentechnologie – oder, negativ formuliert, die Angst, bei einer Nichtbeteiligung den Anschluss an diese zu verlieren. Derartige Erwartungen einer partnerschaftlich fairen wie finanziell lukrativen Teilhabe an einem zentralen Hochtechnologie-Projekt der USA im Militärbereich erwiesen sich bereits während der SDI-Debatte in der Ära Reagan als illusorisch. Die Aufträge, die an nicht-US-amerikanische Firmen ergingen, blieben insgesamt »peanuts«. Die restriktiven gesetzlichen Rahmenbedingungen gelten im Großen und Ganzen heute auch noch. Der technologiepolitische Protektionismus der Vereinigten Staaten ist eine Variante des gegenwärtig im Bereich Sicherheit vorherrschenden US-Unilateralismus.

Angesichts der Gefahr eines neuen Rüstungswettlaufs, der über Russland hinaus China erfassen dürfte und damit zu einer Kettenreaktion in Asien führen könnte, sollte die Bundesregierung allein (besser noch im europäischen Konzert) gegenüber Washington darauf hinwirken, dass ein NMD-System – wenn es denn nicht verhindert werden kann – so begrenzt wie möglich bleibt. Ohne sein begründetes Nein zu einem kontinentalen Abwehrsystem aufzugeben, müsste Berlin als suboptimale Variante darauf drängen, dass dem russischen Interesse an einer Erwartungsstabilität durch vertraglich zugesicherte Restriktionen Rechnung getragen wird. Ein modifiziertes Abkommen sollte deshalb die einzelnen Phasen des NMD-Aufbaus konkret festlegen.

Derartige Forderungen sind für die europäischen Staaten wichtig, aber nicht ausreichend um sich als seriöse Akteure zu positionieren. Insbesondere Dänemark und England können sich nicht einerseits für die Erhaltung des ABM-Abkommens aussprechen, wenn sie andererseits der Umrüstung der US-Radaranlagen in Thule und Fylingdales zustimmen (sie müssen technologisch verbessert werden, damit sie im Rahmen des Nationalen Raketenabwehrschirms funktionstüchtig sind). Die europäischen Regierungen sollten vielmehr beide Länder ermutigen, ihre Position als Trumpfkarte gegenüber den USA einzusetzen, um den wichtigsten Bündnispartner zu abrüstungsfreundlicheren Positionen zu bewegen.

Die europäischen Staaten – und darunter Deutschland – werden in Washington, aber auch in Moskau und Beijing, nur dann Gehör finden, wenn sie nicht nur vor einem Rüstungswettlauf warnen, sondern auch mit glaubwürdigen und machbaren Initiativen zur Bekämpfung der Proliferation auftreten. Hierfür enthält die Berliner Erklärung zu NMD vom 25. Mai 2000 wichtige Punkte mit einem beträchtlichen Ausbaupotenzial. Ein modernisiertes Konzept kooperativer Rüstungskontrolle, das sich vom Ziel der gemeinsamen Minimierung von Bedrohungen sowie vom Primat der Politik anleiten lässt, könnte mit Iran als Modellfall umgesetzt werden.

Mit einem solchen »Diplomatie Zuerst!«-Ansatz könnte die Europäische Union mit Blick auf den Dezember-Gipfel in Nizza ihre Visionen eines stärkeren Europa auf einem wichtigen Politiksektor pragmatisch Wirklichkeit werden lassen. Führende europäische Politiker wie Jacques Chirac, Hubert Védrine und Joschka Fischer hätten so Gelegenheit, den deutsch-französischen Motor jenseits bloßer Rhetorik anzuwerfen und Europa mit einem »Diplomatie Zuerst!«-Konzept zu einem seriösen und sichtbaren Akteur zu machen.

Anmerkungen

1) Der Artikel basiert auf einer umfangreicheren Veröffentlichung vom Oktober 2000 (HSFK-Report). Er wurde am 20. November abgeschlossen. Aufgrund der Probleme mit der Stimmauszählung in Florida konnte deshalb die Entscheidung über den neuen Präsidenten der USA nicht mehr berücksichtigt werden.

Dr. Bernd W. Kubbig ist Projektleiter in der HSFK. Er koordiniert die US-Forschung und das Internet Programm »Raketenabwehr International« (www.hsfk.de/fg1/proj/abm).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2001/1 Von SDI zu NMD, Seite