No Germans to the Front
Plädoyer für eine neue Friedensbewegung – neun Thesen
von Jürgen Link
Ein mögliches Szenario
Folgendes Szenario kann nur noch durch eine neue Friedensbewegung und/oder unvorhersehbare günstige Entwicklungen verhindert werden: Nach der Dezemberwahl zu einem gesamtdeutschen Parlament wird entweder bereits eine Große Koalition gebildet, oder aber mindestens ein informeller Stab auf der Basis einer Großen Koalition. Dieser Stab berät ein Paket von Änderungen bzw. Ergänzungen des Grundgesetzes, damit die nötige Mehrheit gesichert ist. Zu den Änderungen wird u.a. gehören, daß der Bundeswehr militärische Out-of-Area-Einsätze erlaubt werden. Als Rahmen wird mindestens die UNO genannt werden, eventuell mit einer Formulierung, die später als Öffnungsklausel interpretiert werden kann. Bereits 1991 werden dann erste deutsche militärische Einheiten in die Dritte Welt geschickt werden können. Vielleicht wird es 1991 bereits die ersten in action gefallenen deutschen Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg geben – möglicherweise bereits eine deutsche militärische Verwicklung in eine gefährliche Eskalation.
Eine folgenreiche Entscheidung
Die Wichtigkeit einer solchen Entscheidung kann überhaupt nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es handelt sich seit der Wiederbewaffnung und seit der Debatte um eine Atombewaffnung in den fünfziger Jahren um die wichtigste militärpolitische und damit wahrscheinlich überhaupt um die wichtigste politische Entscheidung der bisherigen Bundesrepublik. Die Frage der Pershings war zweifellos weniger folgenreich. Nun gibt es gegenüber Fragen von solcher Leben-und-Tod-Qualität zwei diametral entgegengesetzte Demokratie-Auffassungen. Die eine Auffassung hat die FAZ in einem Kommentar anläßlich des Tempos der Wiedervereinigung klassisch formuliert: „Die ganze Idee der repräsentativen Demokratie beruht auf der Erfahrung, daß die schwierigeren politischen Entscheidungen besser von frei gewählten Vertretern des Volkes als von den Wählern selbst entschieden werden.“ (21.3.1990, Seite 16) Dieser Auffassung liegt letztlich die Carl Schmittsche These zugrunde, daß die eigentlichen Fragen der Souveränität die Fragen des sog. »Überlebens«, darunter besonders die militärischen Fragen sind, und daß der Kreis der Diskutierenden und Entscheidenden um so mehr eingeengt und das Tempo um so mehr gesteigert werden sollte, je mehr man sich diesen Fragen nähert. Ich habe Antje Vollmers Diktum, daß das Tempo der Wiedervereinigung »unmenschlich« gewesen sei, so verstanden, daß sie die umgekehrte Auffassung von Demokratie vertritt: Je wichtiger die Frage, desto weiter der Kreis der Diskutierenden und Entscheidenden, desto ruhiger das zeitliche Tempo. Sollte das in These 1 entworfene Szenario Wirklichkeit werden, so wäre zumindest das Tempo noch viel unmenschlicher als das der Wiedervereinigung. Fazit daraus für die Meinungsbildung innerhalb des nichthegemonialen politischen Spektrums der Bundesrepublik: Ernstgenommen werden kann und muß ein Plädoyer für die Verschickung der Bundeswehr in die Dritte Welt; nicht ernst genommen werden kann ein solches Plädoyer, wenn es dabei gleichzeitig für das Szenario aus These 1 plädiert, also »aufs Tempo drücken« will und sich demnach einer breiten Debatte mit humanem Zeitrahmen widersetzt. Dieser Zeitrahmen müßte mindestens an der Debatte um Wiederbewaffnung, Atombewaffnung und Pershings orientiert sein.
Der Faktor »Zeit«
Damit eine solche Debatte fair und lebensverpflichtet geführt werden kann, muß ferner betont werden, daß es dabei um eine Langzeit- und Grundsatzentscheidung geht wie bei der Einführung neuer Risiko-Technologien, und nicht um eine kasuistische Einzelfallprüfung. Wir würden unseren Verpflichtungen gegenüber den heutigen und künftigen deutschen Kindern absolut nicht gerecht, wenn wir meinten, dem Einsatz deutscher Truppen im UNO-Rahmen in der 3. Welt zustimmen zu können, weil wir uns einzelne sog. »saubere« Fälle ausmalen könnten wie etwa vor dem Sturz der Sandinisten einen Einsatz in Nicaragua, oder wie einen Einsatz gegen einen Staatsmann, den wir für vergleichbar mit Hitler halten. Es geht nicht um den Grad der psychologischen »Verkaufbarkeit« des ersten Einsatzes, sondern es geht um eine strukturelle Entscheidung über Einsätze nach dem Jahr 2000, deren Szenarien wir uns jetzt noch gar nicht konkret ausmalen können. Der Vorwurf der »Drückebergerei«, der gegen Thesen wie diese hier erhoben zu werden pflegt, trifft in Wahrheit jede kasuistische Begründung von Bundeswehreinsätzen. Feindbilder wie Hitler-Analogien können mehr oder weniger zutreffen. In jedem Fall ist vor ihrer funktionalen Beliebigkeit zu warnen (man denke nur an den völligen Austausch solcher Feindbilder bei den Führern des Iran und des Irak binnen kürzester Zeit). Zu entscheiden ist also nicht die Frage, ob deutsche Truppen für alle Zukunft in Eskalationssituationen der 3. Welt geschickt werden sollen. Wessen Phantasie heute nicht einmal an die eines mittleren Pentagon-Computers heranreicht, kann auf den Titel eines Realpolitikers auf keinen Fall mehr Anspruch erheben.
Das UNO-Argument
Ich habe in dem obigen Szenario als sog. »kleinstes Übel« die Festschreibung auf den Rahmen der UNO angenommen. Da alle anderen möglichen Kompromisse zwischen SPD und CDU noch viel gefährlicher wären, beschränke ich mich im folgenden auf die UNO. Wenn ich es richtig sehe, umfaßt das Pro-UNO-Argument die folgenden Teil-Argumente:
- Die UNO garantiert angeblich, daß nur sog. »saubere« Militäreinsätze gefahren werden können. Inhaltlich wird das etwa wie folgt umschrieben: Bloß Einsätze zur Unterstützung von Demokratien gegen Diktaturen; bloß Einsätze auf Bitte von Ländern der 3. Welt; bei Konflikten zwischen verschiedenen Typen von Diktaturen (das ist in der 3. Welt der Normalfall) mindestens klare Verletzungen von Völkerrecht auf der zu bekämpfenden Seite (dies der aktuelle Fall Kuwait).
- Der UNO-Rahmen garantiert angeblich, daß der Einsatz von Armeen geopolitischer Hegemonialmächte mit globaler High-Tech-Logistik und Besitz von Superwaffen (Stichwort »Weltpolizei«) deren Qualität völlig ändere: Eine Armee wie die der USA oder die des künftigen Gesamtdeutschland sei im UNO-Rahmen mit einer Armee etwa vom Typ Finnland, Schweden usw. und/oder mit einer Within-Area-Armee (Typ Ghana in Liberia) äquivalent.
- Die UNO garantiert schließlich angeblich, daß ein Eskalations-Prozeß des schrittweisen »Versumpfens« (Modell Korea und Vietnam) absolut ausgeschlossen werden könne.
(Auf »Argumente« wie das, daß »wir uns nicht drücken können«, daß »wir erwachsen werden müssen«, daß »wir Verantwortung übernehmen müssen«, daß »die Völkerfamilie uns drängt« usw. – sämtlich Umschreibungen für »Krieg« ! – gehe ich nicht ein: empfehle dazu lieber die Lektüre der Kriegs-"Fackeln« von Karl Kraus.)
Die Widerlegung
An diesen drei Argumenten hängt also alles. Bessere gibt es einfach nicht. Durch diese hohle Gasse muß mithin jede lebensverpflichtete Entscheidungsfindung hindurch. Es kann nun m.E. leicht gezeigt werden, daß keines dieser drei Argumente auch nur einem halbstündigen ernsthaften Nachdenken standhält.
a) Das Legitimationsproblem
Soweit die UNO so etwas wie tatsächliche (vor allem also militärische) Souveränität ausüben kann, so weit liegt diese Souveränität bei den ständigen Mitgliedern des Weltsicherheitsrates. So lange nun der Ost-West-Gegensatz funktionierte, konnte man annehmen, daß jedesmal, wenn eine Hegemonialmacht Hegemonialpolitik unter dem Deckmantel der UNO betreiben wollte, die andere Seite aus ebenso hegemonialpolitischen Gründen ein Veto dagegen eingelegt hätte. Selbst das aber stimmte so nicht ganz: Es gab das nicht genug bedenkenswerte Menetekel Korea. Damals profitierten die USA blitzschnell von einer zeitweiligen UNO-Boykott-Politik der Sowjetunion, um ihre eigene Militärintervention von der UNO absegnen zu lassen. Dieser Präzedenzfall ist deshalb so enorm wichtig, weil er strukturelle Lehren in sich schließt. Für alle Zukunft ist es keinesfalls auszuschließen, daß in bestimmten Situationen wiederum ein Teil der UNO die UNO-Legitimität für sich beanspruchen könnte. Wer jetzt militärisch einsteigen will, wird dann in einem Chaos von kontroversen Legalitäts- und Legitimitäts-Auffassungen stecken, wobei praktisch dann die sog. »Psychologie« entscheiden wird.
Noch viel brisanter allerdings ist die Lage geworden, seit es den Ost-West-Gegensatz nicht mehr gibt. Die Integration des früheren »Ostblocks« in die westliche konkurrenzliberale Wirtschaftsordnung bei gleichzeitigem enormem wirtschaftlichem »Gefälle« hat den Osten strukturell so abhängig und erpreßbar gemacht, daß er als mögliches Korrektiv für heikle UNO-Einsätze ausfällt.
Die augenblickliche Krise um die irakische Besetzung Kuwaits hat darüber hinaus (das ist ihr einziger positiver Aspekt) bewiesen, daß schon jetzt der UNO-Sicherheitsrat bereit ist, ex post für Militäraktionen globaler Hegemonialmächte von krassestem »Weltpolizei«-Typ Blanko-Persilscheine zu erteilen, die nicht einmal symbolisch so etwas wie eine UNO-Aufsicht zur Bedingung machen. Nach dem Überfall auf Kuwait setzten sich unter rein nationalem bzw. informellem NATO-Kommando High-Tech-Armadas weniger globaler Hegemonialmächte in Marsch, deren „Logik des Krieges“ (Mitterrand) absolut nicht an die UNO gebunden ist. Die UNO hat diese „Logik des Krieges“ unter nationalem bzw. informellem NATO-Kommando aber pauschal legitimiert. Damit hat sie strukturell autonome Weltpolizei-Einsätze derjenigem Mächte legitimiert, die die nötigen High-Tech-Armadas besitzen.
Was das Argument betrifft, die UNO garantiere aber mindestens den Einsatz bloß gegen Diktaturen und ggf. für Demokratien, so brauche ich auf die konkrete Schwierigkeit der Definition von »Diktaturen« und »Demokratien« zumindest in der 3. Welt nicht ausführlich einzugehen. Wiederholt werden müßte aber wohl, daß die konkrete Stärke der Armeen verschiedener Länder (wer z.B. Flugzeugträger besitzt und wer nicht) niemals von einem globalen demokratischen Prozeß (von einer »demokratischen Völkerfamilie«) beschlossen worden ist.
b) Der Charakter militärischer Operationen
Das zuletzt Gesagte beweist folglich auch, daß nichts, aber auch gar nichts garantiert, daß Operationen einer globalen Hegemonialmacht unter UNO-Flagge allein durch die UNO-Flagge ihre Qualität ändern und dann mit Truppen mittlerer und kleinerer Mächte bzw. mit Truppen von Within-Area-Mächten äquivalent gesehen werden können. Wenn die Bundeswehr unter UNO-Flagge eines Tages in Südamerika oder im südlichen Afrika operieren sollte, so werden diese Operationen niemals von den globalen Sonderinteressen der Hegemonialmacht Deutschland, werden niemals von ihrem exklusiven High-Tech-Potential usw. getrennt werden können. Niemals wird die Bundeswehr allein durch die UNO-Flagge zu einer finnischen oder sagen wir tansanischen oder bolivianischen Armee werden. Ihr tatsächliches Kommando wird schon aus operativen Gründen des Know-how usw. stets nur ein nationales, allenfalls ein informelles NATO-, niemals ein wirkliches UNO-Kommando sein können.
c) Was 2001 passieren könnte
Schließlich gibt es durch die UNO-Flagge auch keine Garantie gegen ein sog. »Versumpfen« vom Typ Vietnam. UNO-Einsätze finden entweder in Situationen objektiv eindeutiger Deeskalation statt (dann sind sie nicht problematisch) – oder aber in Situationen, deren objektive Eskalations- oder Deeskalations-Tendenz unklar ist – oder in Situationen mit objektiver Eskalations-Tendenz. Wiederum geht es nicht darum, über den ersten, unproblematischen Fall zu diskutieren, sondern nur über die problematischen Fälle. Für UNO-Truppen in einer objektiven Situation der Eskalation gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder sie beschränken sich auf Defensive und möglichste Passivität – dann wird ein sog. »ohnmächtiger UNO-Einsatz« gefahren, der sich an der »Heimatfront« psychologisch schwer »verkaufen« läßt. Oder sie gehen in einer solchen Situation auch unter UNO-Flagge zur Logik des High-Intensity-High-Tech-Warfare einer Weltpolizei über, d.h. u.a. zur Logik der Vergeltungsschläge vom Typ Bekaa-Ebene im Libanon (»surgical-strikes against the enemy's sanctuaries«).
Wie schon gesagt, können wir es uns m.E. nicht länger leisten, mit unserer Phantasie sogar hinter mittelstarken Computern des Pentagons oder auch der Hardthöhe herzuhinken. Deshalb hier eine kurze Simulation »2001«: In Südafrika ist mit Ach und Krach ein Kompromiß zwischen der weißen Minderheit, der Inkatha und einem Teil der ANC-Führung zustandegekommen. Dieser Kompromiß schafft die Apartheid formell ab, sichert aber der weißen Minderheit und ihren schwarzen Kollaborateuren vom Inkatha-Typ mittels eines komplizierten Systems von Vetorechten und »ethnischen« Zweiten oder Dritten Kammern de facto weiter die Hegemonie. Vor allem liegt die bewaffnete Macht weiter de facto in der Hand der weißen Minderheit und ihrer Kollaborateure. Über diesen Kompromiß, der von den globalen Hegemonialmächten voll unterstützt wird, ist es zu einer Spaltung des ANC gekommen: Ein Teil der Führung und vor allem eine großer Teil der jüngeren Generation ist zu radikal »afrikanistischen« Gruppen wie dem PAC (Pan-Africanist Congress) übergegangen. Nach Jahren des Hin und Her und der sozialen und ethnischen Spannungen steigt in ganz Afrika eine neue Welle des Nationalismus an, die auf Südafrika übergreift. Die »afrikanistischen« Strömungen werden in der schwarzen Zivilgesellschaft dominant. Es kommt zu einer bürgerkriegsähnlichen Situation. China praktiziert aus irgendeinem Grunde im UNO-Weltsicherheitsrat gerade eine Politik des leeren Stuhls. Die USA sind durch Einsätze in Südamerika und anderweit überlastet. So beschließt der Sicherheitsrat bei Stimmenthaltung Rußlands, an das die Stimme der früheren Sowjetunion inzwischen übergegangen ist, den Einsatz einer UNO-Friedenstruppe unter hauptsächlich westeuropäischer Beteiligung und deutscher Hegemonie. Die Truppe wird zunächst zwischen Zonen der Regierungskontrolle und Zonen stationiert, in denen die Resistenz dominiert (sog. Zonen des »Befreiten Azania«). Die »Bild«-Zeitung malt einen Führer der Resistenz-Seite als „irrsinnigen Gorilla “ („der King-Kong von Kap“ o. ä. und natürlich als „Weltterroristen Nr. 1“ aus. Es kommt zu einem blutigen Anschlag auf deutsche UNO-Truppen, dessen Hintergrund unklar ist, der aber von »Bild« usw. dem »Irren« in die Schuhe geschoben wird. Nun steht die entsprechende Bundesregierung »psychologisch« unter »Zugzwang«. Es geht dann angeblich darum, ob „wir“ als Weltmacht „in Afrika und der ganzen 3. Welt unser Gesicht verlieren“. Die Bundesregierung beschließt unter Druck der Südafrikanischen Regierung, den USA und der »Bild«-Stimmung einen „major surgical retaliation strike“ gegen angenommene »sanctuaries«, die vom MAD angeblich zweifelsfrei ausgemacht wurden. Dabei werden Hunderte schwarzer Frauen und Kinder getötet. Auf der azanischen Seite wird von nun an vom »German Massacre« und den »German Kid Killers« gesprochen, und eine »Logik des Krieges« zwischen »Deutschland« und den schwarzafrikanischen Massen Azanias beginnt.
Die Folgen der Weltwirtschaftsentwicklung
Nach diesem möglichst konkreten Szenario noch eine strukturelle Einschätzung. Es gibt tendenziell zwei mögliche Entwicklungen des Nord-Süd-Konflikts. Die optimistische geht davon aus, daß die nächsten Jahre einen weltweiten Wirtschaftsaufschwung sehen werden, der das Gefälle auch der Länder des Ostens und Südens gegenüber den reichen Weltmächten erheblich verringern würde. Die früheren Ostblockländer und die sogenannten Schwellenländer würden etwa den Lebensstandard Spaniens (Normalitätsklasse 2) erreichen und die meisten armen Länder würden den Rang von Schwellenländern (Normalitätsklasse 3) erreichen. Selbst bei diesem Szenario werden sich allerdings Krisen vom Typ Irak-Iran, Irak-Kuwait u.ä. kaum verringern. Vielmehr dürften Separatismus-Krisen in der Ex-Sowjetunion und anderswo hinzukommen. Besonders häufig könnten Krisen vom Irak-Typ eintreten, weil gerade Schwellenländer in einer konkurrenzliberalen Weltwirtschaftsordnung strukturell leicht in die Schere zwischen dem Aufstieg zur Normalitätsklasse 2 und dem Absinken zur Normalitätsklasse 4 geraten können. Sie werden dann strukturell zur Anwendung militärischer Macht versucht. Sehr viel düsterer sieht das Szenario aus, wenn man keinen nennenswerten Take-off-Effekt bei der Mehrzahl der Gebiete des alten Ostblocks und der 3. Welt annimmt. Es werden dann die Gelegenheiten für Weltpolizei-Einsätze, und zwar mit und ohne UNO, nicht ab-, sondern zunehmen. Die UNO-Einsätze werden dann ferner tendenziell eher zunehmend heiklen Charakter annehmen.
Realistische Risiko-Szenarien
Ich fasse zusammen: Man kann und muß die Entscheidung, der Bundeswehr via UNO die Tür zur 3. Welt zu öffnen, als langfristige Grundsatzentscheidung erster Ordnung betrachten und nicht als kasuistische Opportunität. Diese Entscheidung ist daher einer Entscheidung über die Einführung neuer Risiko-Technologien politisch gesehen analog. Wie würde ein Experte angesehen, der im Falle der Einführung der Gen-Technologie bloß schöne Sachen ausmalte und kein einziges realistisches Risiko-Szenario auch bloß diskutierte? Ich habe hier keineswegs GAU-Szenarien diskutiert – die könnten noch viel, viel schlimmer aussehen. Ich habe versucht, etwa die Szenarien-Zone mittlerer Wahrscheinlichkeit anzugeben. Aber selbst wenn wir die Wahrscheinlichkeit für Szenarien wie das südafrikanische »bloß« mit 10%, ja bloß mit 5% einschätzten, müssen wir gerade als Realisten UNO-Einsätze der Bundeswehr strikt ablehnen. Einzig und allein die Null-Lösung schützt wirklich vor unkalkulierbaren Eskalations-Risiken. Einzig durch grundsätzlichen Verzicht auf Out-of-area-Einsätze, einschließlich UNO-out-of-area-Einsätze, kann Deutschland glaubhaft so etwas wie eine Deeskalations-Macht werden.
Das militärische Ungleichgewicht in der UNO
Diese Rede scheint hart und niemand mag sie hören. Warum eigentlich nicht? Ich glaube aus einem einfachen Mißverständnis heraus: Praktische PolitikerInnen meinen offenbar häufig, die prinzipielle Ablehnung militärischer UNO-Einsätze in der 3. Welt für die Bundeswehr wäre mit so etwas wie einer »Anti-UNO-Haltung« äquivalent. Diese Verdrehung wird gerade von Vertretern des linken SPD-Flügels wie Norbert Gansel suggeriert. Es handelt sich um eine plumpe Verdrehung: Gerade umgekehrt leidet die demokratische Tendenz der UNO unter dem ungemeinen militärischen Ungleichgewicht zugunsten der nördlichen High-Tech-Weltpolizeimächte. Dieses strukturelle Ungleichgewicht, das jeder wirklichen Deeskalation des Nord-Süd-Konflikts diamentral entgegensteht, würde durch einen Einstieg der Bundeswehr nur noch weiter erhöht. Es wäre also ein Beitrag zur wohlverstandenen, gerade auch militärischen Stärkung der UNO als einer demokratischen Völkerfamilie, die diesen Titel nicht bloß als Witz führen würde, wenn eine Hegemonialmacht wie das wiedervereinte Deutschland das Gewicht der mittleren und kleineren Mächte sowie der jeweiligen Within-Area-Mächte bei konkreten Krisenfällen durch seine Abstinenz stärken würde.
Für eine Anti-Eskalationspolitik
Zum Schluß noch ein letztes Szenario, diesmal ein utopisches, ein vom Prinzip Hoffnung geschriebenes: Hier und heute fassen einige grüne Politikerinnen und Abgeordnete den Mut, explizit auch UNO-Einsätze der Bundeswehr abzulehnen und überall, bis hin zum Bundestag selbst, explizit dagegen zu argumentieren. Sie einigen sich auf eine entsprechende Anti-Eskalations-Erklärung als gemeinsame Basis. Daraus entsteht eine neue Friedensbewegung, die sich so schnell wie die damalige Anti-Pershing-Bewegung stärkt und verbreitert. Unter dem Druck dieser Bewegung einigt sich die gesamte Grüne Fraktion auf die Anti-Eskalations-Erklärung. Sie vollbringt Wunder von Mut und Einsatz, Wunder von Verleugnung jeder Drückebergerei, um einzelne Abgeordnete der CDU, FDP und SPD zu überzeugen. Da setzt natürlich die Peitsche der Fraktionsdisziplin ein: die Zweidrittelmehrheit für das Paket zur Grundgesetz-Änderung soll durchgepeitscht werden, z.B. mit Rücktrittsdrohungen führender Politiker. Und da gelingt es den Frauen, erfolgreich die »Strick-Taktik« »eine links, eine rechts« anzuwenden: für jede SPD-Politikerin, die sich der Grundgesetzänderung widersetzt, wird eine CDU-Politikerin gewonnen und umgekehrt, so daß immer klar ist: das Links-rechts-Gleichgewicht wird durch die neue Friedensbewegung nicht verschoben. Keine von der CDU und keine von der SPD fällt ihrer Fraktion in den Rücken, weil auf der Gegenseite exakt genau so viele für die Beibehaltung des Grundgesetzes in diesem Punkte sind. Und so geschieht das Wunder: Die Zweidrittelmehrheit gerät kippt! Deutschland hat seine Lektion aus 2 Weltkriegen tatsächlich doch noch gelernt.
Jürgen Link ist Hochschullehrer für Germanistik an der Univ. Düsseldorf.