W&F 2017/4

Nobelpreis gegen Doppelmoral

von Jürgen Nieth

Friedensnobelpreisträger 2017 ist ICAN, die vor zehn Jahren gegründete Anti-Atomwaffen-Initiative »International Campaign to Abolish Nuclear Weapons«. In ihr arbeiten über 450 Friedensgruppen aus über 100 Ländern zusammen. Im Juli 2017 wurde der von ICAN initiierte Verbotsvertrag, der u.a. Herstellung, Besitz, Einsatz und Lagerung von Atomwaffen verbietet, in New York von 122 Ländern beschlossen. Nicht dabei waren die Atommächte und die NATO-Staaten, unter ihnen auch Deutschland. „Vorbild für Ican waren andere Abrüstungsverträge: Zum Beispiel das internationale Übereinkommen zum Verbot von Landminen oder die Verträge zum Verbot von Streumunition oder chemischen Waffen.“ (Spiegel Online, 6.10.17)

Atomare Gefahr gewachsen

In der Begründung zur Preisvergabe sagte die Komitee-Vorsitzende, Berit Reiss-Abderson, die Organisation werde für „ihre bahnbrechenden Bemühungen“ gewürdigt, ein Verbot nuklearer Waffen zu erreichen. ICAN mache auf die „katastrophalen humanitären Folgen jeden Gebrauchs von Atomwaffen“ aufmerksam, und „Wir leben in einer Welt, in der die Gefahr, dass Nuklearwaffen eingesetzt werden, größer ist, als es lange war.“ (BZ, 7.10.17) Das Nobelpreiskomitee weist weiter darauf hin: „Einige Staaten modernisieren ihre Arsenale, und es besteht die realistische Gefahr, dass weitere Länder auf nukleare Waffen setzen, wie beispielsweise Nordkorea.“ Es fordert die Atommächte auf, „ernsthafte Verhandlungen“ über die Vernichtung von rund 15.000 Atomwaffen in aller Welt zu starten (Handelsblatt online).

Laut FAZ (7.10.17) „pfiffen es die Spatzen von den Dächern, dass angesichts der Spannungen auf der koreanischen Halbinsel das Nobelkomitee in diesem Jahr jemanden auszeichnen könnte, der sich für atomare Abrüstung stark macht“. Und die BZ (7.10.17) sieht in der Preisvergabe „eine Ohrfeige für die Waffennarren von Washington bis Pjöngjang“.

Für Spiegel Online ist der Friedensnobelpreis 2017 „vielleicht auch der Versuch, einen Fehler zu korrigieren. Vor acht Jahren hat das Nobelkomitee die Auszeichnung an Barak Obama vergeben – und dies in erster Linie mit dessen Vision einer Welt ohne Atomwaffen begründet. Was der US-Präsident […] anschließend tat, war jedoch deutlich weniger idealistisch als seine berühmte Prager Rede von 2009. Jetzt also hat das Nobelkomitee den Friedenspreis an echte Idealisten verliehen.“

Pro und contra

Als Gegner der Nobelpreisvergabe zeigt sich Josef Joffe in der ZEIT (12.10.17): „»Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter« – diese grausame Wahrheit, die ebenfalls jeder kennt, hat der Welt den längsten Frieden aller Zeiten beschert. Unterstellen wir, die Verschrottung [der Atomwaffen] gelänge. Die Welt würde nicht sicherer werden. Das Tabu wäre weg, das Risiko konventioneller Kriege würde hochschießen.“ Kein Wort dazu , wie oft wir in den Jahren des Kalten Krieges an der Schwelle eines alles vernichtenden Atomkrieges gestanden haben und wie viele verheerende konventionelle Kriege es in den letzten 70 Jahren gab – von Korea über Vietnam, Balkan, Irak, Afghanistan bis Syrien, um nur die größten zu nennen?

Auch für Torsten Kraul (Welt, 7.10.17) gibt es „Für die Atomwaffe […] gute Argumente, Kim Jong-un ist eines davon, und zwar ein sehr wirksames – viel wirksamer als ein Nobelpreis an eine Organisation.“

Und für die NZZ (7.10.17) hat sich in den letzten Jahren offensichtlich nichts verändert: „So schön ein für alle verbindlicher Vertrag wäre – dem beschriebenen Szenario ist die gegenwärtige keineswegs perfekte Weltordnung vorzuziehen. Sie gibt einem atomar bewaffneten Amerika die Möglichkeit, als Garant für Sicherheit und Frieden zu wirken, ob in Ostmitteleuropa gegenüber Russland, in der Golfregion gegenüber Iran oder in Ostasien gegenüber Nordkorea.“ Die »keineswegs perfekte Weltordnung« ist für Spiegel Online immerhin Anlass, von der Gefahr zu sprechen, „dass ein ahnungs- und verantwortungsloser US-Präsident namens Donald Trump die Welt in einen Atomkrieg mit Nordkorea twittert“.

Ähnlich sieht das die SZ (7.10.17): „Die eigentliche Nachricht ist, dass der amerikanische Präsident just im gleichen Augenblick den einzigen Weg zur Eindämmung der nuklearen Gefahr zertrampelt und zerstört. Der Hüter eines der größten Nuklearpotenziale auf der Welt ignoriert in einem gefährlichen Moment der Geschichte alle Lehren aus der Vergangenheit und treibt Schindluder mit seiner Macht. Er zerreißt das Nuklearabkommen mit Iran und sendet die verheerende Botschaft in die Welt: Der Präsident im Weißen Haus selbst ist der irrationale Akteur, er ist der Hasardeur, vor dem es sich zu schützen gilt.“

Spagat der Bundesregierung

„Warum unterschreibt die Bundesregierung nicht das Verbot von Atomwaffen, auf das sich 122 andere Staaten im Sommer geeinigt haben?“, fragt die FAS (8.10.17) und zeigt Verständnis: „Das hat mit Gründen zu tun, die das Friedensnobelpreiskomitee traditionell gering schätzt, ohne die es aber keinen Frieden gäbe: Sicherheit, Verantwortung, Realismus.“ Kein Verständnis zeigt dafür Bernd Pickert. Er schreibt in der taz (7.10.17): „Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik hatte Deutschland die Verhandlungen eines internationalen Abrüstungsvertrages boykottiert. Den 1997 verabschiedeten Ottawa-Vertrag zur Ächtung von Landminen – ebenfalls eine aus der globalen Zivilgesellschaft entstandene Initiative und klares Vorbild von Ican – hatte Deutschland noch im selben Jahr unterzeichnet und schnell ratifiziert.“

Auch Damir Fras zieht in der BZ (7.10.17) eine kritische Bilanz: Die Bundesregierung vollführte „einen besonders breiten Spagat […] Sie gratulierte den Preisträgern am Freitag und erklärte, Deutschland unterstütze das Ziel einer atomwaffenfreien Welt. Zugleich aber sagte eine Regierungssprecherin, die Notwendigkeit nuklearer Abschreckung bestehe fort, solange es Staaten gäbe, die Atomwaffen als militärisches Mittel ansähen. Eine konsequente Haltung zu einer existenziellen Bedrohung der Menschheit sieht anders aus. Der Ausdruck Doppelmoral passt an dieser Stelle ganz gut.“

Zitierte Presseorgane: BZ – Berliner Zeitung, FAS – Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, Handelsblatt-online, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, Spiegel Online, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – die tageszeitung, Welt, Die ZEIT

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/4 Eingefrorene Konflikte, Seite 4