BICC, HSFK, IFSH, INEF (Hrsg.) (2023): Noch lange kein Frieden. Friedensgutachten 2023. Bielefeld: transcript. ISBN: 978-3-8376-6801-8, 144 S., 15 € (print)/ Open Access (digital).
„Noch lange kein Frieden“ – unter diesem Titel bietet das neue Friedensgutachten (FGA) der deutschen Friedensforschungsinstitute BICC, HSFK, IFSH und INEF einen Lagebericht des aktuellen Konfliktgeschehens, das sich auf dem höchsten Niveau seit Ende des Ost-West-Konflikts befindet. Das Gutachten zeigt auf, welche Handlungsspielräume die deutsche Politik angesichts der multiplen Krisen und Herausforderungen wie Kriegen, Pandemie, Klimawandel und zunehmender politischer Polarisierung hat, um Resilienz sowohl in Deutschland als auch in konfliktbetroffenen Ländern des Globalen Südens zu fördern.
Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine fordert die Stellungnahme der Herausgeber*innen eine sinnvolle Doppelstrategie aus einer kontinuierlichen (militärischen, politischen und ökonomischen) Unterstützung der Ukraine und der gleichzeitigen Vorbereitung einer späteren Verhandlungsinitiative inklusive einer internationalen Kontaktgruppe (S. 6), wobei sie die Wichtigkeit glaubwürdiger Sicherheitsgarantien für die Ukraine betont. Angesichts der immer wieder in offenen Briefen oder auf Demonstrationen geäußerten Forderungen nach einem Ende der militärischen Unterstützung für die Ukraine und sofortigen Verhandlungen ist diese klare Forderung und Positionierung vonseiten führender deutscher Friedensforschungsinstitute notwendig und wichtig. Die Stellungnahme liefert eine kompakte und dem aktuellen Forschungsstand entsprechende Erklärung mit, warum – zu diesem Zeitpunkt und unter den aktuellen Bedingungen – Verhandlungen und vor allem eine Einstellung der militärischen Unterstützung der Ukraine keineswegs zu Frieden führen würden.
Im diesjährigen Fokuskapitel nehmen die Autor*innen die proklamierte »Zeitenwende« unter die Lupe und buchstabieren aus, was eigentlich eine echte Zeitenwende bedeuten müsste, die nicht nur verteidigungspolitisch verstanden werden dürfte, sondern Frieden und nachhaltige Entwicklung zusammendenken und sich auch in einer entsprechend grundlegenden Änderung in der Klimapolitik und Entwicklungspolitik niederschlagen müsste. Vor dem Hintergrund der Gefahr, dass das Sondervermögen zu einem deutlichen Ausbau der deutschen Rüstungsindustrie führen dürfte, empfehlen die Autor*innen, eine restriktive Rüstungsexportpolitik gesetzlich festzuschreiben, die zwar die Selbstverteidigung von Ländern ermöglicht, nicht aber rein wirtschaftlich oder machtpolitisch motivierte Waffenexporte. Die Autor*innen weisen darauf hin, dass ein Aufholen inmitten von Krisen, nachdem „der notwendige soziale und ökonomische Wandel in Deutschland drei Jahrzehnte lang verschleppt wurde“ (S. 30), gesellschaftliches Konfliktpotenzial birgt und insbesondere die aktuelle restriktive Fiskalpolitik den sozialen Frieden in Deutschland gefährdet. Solle es mit der Zeitenwende ernst sein, müsse die Bundesregierung einem Glaubwürdigkeitsverlust im Globalen Süden entgegenwirken, indem sie eine klimapolitische Vorreiterrolle einnimmt, Menschenrechte von Flüchtenden wahrt und bei westlichen Interventionen auf die Einhaltung völkerrechtlicher Normen achtet. Dazu gehöre auch, der erklärten feministischen und werteorientierten Außenpolitik Taten folgen zu lassen, etwa durch härtere Sanktionen gegen das Regime im Iran und eine Einstufung der Revolutionsgarden als Terrororganisation (S. 70, S. 8).
In fünf weiteren Kapiteln widmet sich das Friedensgutachten (1) der Rolle von (z.B. dschihadistischen) Milizen und von Militärfirmen in bewaffneten Konflikten, mit einer hilfreichen Einordnung der Wagner-Gruppe, die in afrikanischen Konflikten als private Militärfirma und im Ukraine-Krieg als regierungsnahe Miliz auftritt, und entwickelt Vorschläge zur Regulierung und Kontrolle solcher nichtstaatlicher Akteur*innen im Rahmen von Sicherheitssektorreformen, durch Lizenzierungs- und Registrierungssysteme und eine freiwillige Verpflichtung von Staaten, nur mit international zertifizierten Unternehmen zusammenzuarbeiten. Es nimmt (2) Verwundbarkeit angesichts multipler Krisen und Resilienzstrategien, insbesondere im Globalen Süden, unter die Lupe; mahnt (3) eine Neuausrichtung der Rüstungspolitik an und betont die Notwendigkeit, Strategien zu entwickeln, um gefährlicher Desinformation entgegenzuwirken; setzt sich (4) mit der ökonomischen Entflechtung von Handelspartnern auseinander und erklärt am Beispiel deutscher Interdependenzen mit China, wie Verflechtung politisch gestaltet werden sollte. Es nimmt (5) politische Polarisierung in Krisenzeiten und die Gefahren von Verschwörungserzählungen als „Radikalisierungsbeschleuniger“ (S. 134) in den Blick und bekräftigt die Notwendigkeit der Förderung der Resilienz demokratischer Gesellschaften gegenüber antidemokratischen Ideologien und Desinformation, unter anderem mithilfe der dauerhaften Förderung von Beratungs- und Bildungsprogrammen, wie sie etwa das Demokratiefördergesetz vorsieht (S. 139). Auch vor dem Hintergrund der sehr umstrittenen Reaktion Bayerns, Protestierende der Letzten Generation in Präventivhaft zu nehmen, nehmen die Autor*innen die politisch Verantwortlichen in die Pflicht, nicht „leichtfertig mit historisch uninformierten Vergleichen wie einer ‚Klima-RAF‘ [zu] hantieren“, „Unworte wie ‚Klimaterroristen‘ [zu] kreieren“ (S. 133) und politischen Protest nicht zu kriminalisieren.
Um es kurz zu machen: klare Leseempfehlung für alle friedenspolitisch Interessierten, die im aktuellen Geschehen den Überblick nicht verlieren wollen. Das FGA liefert eine hilfreiche Einordnung zu Trends im Konfliktgeschehen in den verschiedenen Themenschwerpunkten sowie aktueller Debatten und formuliert auf Grundlage dieser Analyse klare Handlungsempfehlungen an politische Entscheidungsträger*innen, wie Deutschland sich in den verschiedenen Bereichen positionieren sollte.
Angesichts der vielen Krisen, mit denen man problemlos weitere Friedensgutachten befüllen könnte, ist die Auswahl der Themen gut gelungen. Weitere friedenspolitisch relevante Themen wären der voranschreitende gender backlash in den USA und vielen anderen Ländern, der mit einer massiven Verschlechterung der Rechte von Frauen, queeren Minderheiten und insbesondere trans Personen einhergeht; im Hinblick auf gesellschaftliche Resilienz in Deutschland wären zum Beispiel (rassistische) Polizeigewalt und antimuslimischer Rassismus wichtige Themen, die ein FGA adressieren sollte.
Das FGA ist ein echtes wissenschaftliches Gemeinschaftsprojekt, das von internen Diskussionen und Aushandlungsprozessen lebt. Die insbesondere im Zuge des Kriegs gegen die Ukraine manchmal von außerhalb der Wissenschaft geäußerte Kritik, Friedensforscher*innen würden nur regierungsnahe Positionen wiedergeben, ist aus der Innenperspektive geradezu absurd und der Realität wissenschaftlichen Arbeitens in Deutschland fern. Noch größere Transparenz könnte solcher Kritik aber entgegenwirken und das FGA im Übrigen auch methodologisch stärken, wenn nämlich die Autor*innengruppen ihre unterschiedlichen Positionalitäten, disziplinären Hintergründe und theoretischen Standpunkte im Sinne einer größeren Reflexivität explizit thematisieren würden. In diesem Zuge böte sich auch an, darauf zu achten, die Teams in jeder Hinsicht diverser zu gestalten – und so, um nur ein Beispiel zu nennen, die aktuelle Ungleichgewichtung von circa 2/3 Autoren gegenüber 1/3 Autorinnen zu überwinden.
Hierbei sollte es vor allem um einen größeren Pluralismus der Perspektiven gehen: Eine wirkliche Leerstelle besteht in der Nichtbeachtung der Bedeutung von Geschlechterverhältnissen und konstrukten für Konfliktursachen und geschehen, auf die das FGA, mit Ausnahme der Proteste im Iran, nicht eingeht. Dabei wäre zum Beispiel beim Phänomen des Dschihadismus eine Diskussion der Geschlechterbeziehungen in den jeweiligen Gesellschaften und militarisierter Männlichkeiten als Konfliktursachen wichtig. Ebenso wäre eine Betrachtung von gender als zentralem Feindbild in den Narrativen der Rechtspopulist*innen und zum Teil auch der Verschwörungsszene notwendig.
Eine explizitere Offenlegung der normativen Standpunkte der Autor*innen wäre zudem hilfreich, um als Leser*in die Analysen und Empfehlungen besser einordnen zu können, wenn etwa Chinas Vorgehen gegenüber Taiwan als potenzielles Problem für die „wertegebundene“ (S. 104, 118) deutsche Außenpolitik genannt wird, Chinas Umgang mit den Uiguren – der vermutlich tatsächlich keine große Rolle für den deutschen Umgang im Handel mit China spielen dürfte – aber nicht thematisiert wird. Oder wenn die Kontinuitäten kolonialer Machtverhältnisse, die ja in der Außen- oder Entwicklungspolitik weiter eine Rolle spielen, in deren Besprechung im FGA nicht erwähnt werden.
Angesichts des ohnehin schon sehr knappen Umfangs des FGA wäre eine reflexive Diskussion und Beschreibung der Positionalitäten und normativen Standpunkte der Autor*innen sicherlich eine Herausforderung. Allerdings wäre dies nicht nur wissenschaftlich gewinnbringend, sondern vielleicht auch darüber hinaus für Leser*innen hilfreich, um die Analysen und Empfehlungen besser einordnen zu können, weil es noch klarer nachvollziehbar machen würde, wie genau akademische Wissensproduktion inklusive der Entwicklung von Empfehlungen stattfindet.
Dr. Patricia Rinck forscht und lehrt an den Universitäten Bielefeld und Duisburg-Essen, ist INEF-Mitglied und war 2022 im Autor*innenteam des damaligen Friedensgutachtens.