Nordirland – Jahrhundertkonflikt am Ende?
Interview mit Mari Fitzduff
von Mari Fitzduff und Corinna Hauswedell
Nach 25 Jahren Bürgerkrieg deutete sich Mitte der Neunzigerjahre eine Wende an: politische Verhandlungen mit allen Beteiligten, eine vielversprechende Vereinbarung 1998 – das Good Friday-Abkommen, der Friedensnobelpreis für John Hume und David Trimble als Repräsentanten der beiden Lager und dann doch immer wieder neue Probleme, Blockaden.
Vier Wochen nach Durchführung des folgenden Interviews ein hoffnungsvolles Ende der »no guns – no goverment«-Sackgasse: Am 2. Dezember wurde nach 27 Jahren britischer Herrschaft die Macht an eine nordirische Regionalregierung mit gleichberechtigter Beteiligung von ProtestantInnen und KatholikInnen übertragen, die politische Verwirklichung des Abkommens kann beginnen und mit ihr der Abrüstungsprozess.
Nach den Ursachen des Konflikts, seinen Mustern und den Lösungsstrategien fragte Corinna Hauswedell die Direktorin von INCORE, Mari Fitzduff.
Hauswedell: Wo sehen sie die Gründe dafür, dass nach über 25 Jahren Bürgerkrieg in der Mitte der Neunzigerjahre ein Neuanfang möglich wurde?
Fitzduff: Als der Bürgerkrieg 1969 ausbrach, war die soziale und kulturelle Ungleichheit zwischen den beiden nordirischen Communities, den Katholiken und Protestanten, riesengroß. Weil diese Ungleichheiten in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren nicht schnell genug aufgegriffen und verändert wurden, sind wir in diesen schrecklichen Krieg hineingeraten, der über 3.000 Menschen das Leben gekostet hat. Doch seitdem haben sich viele Dinge grundlegend verändert.
Vor 1969 war die Mehrheit der katholischen Kinder schlecht oder sogar unterernährt, die Protestanten hatten überall die führenden Positionen. In den 70er-Jahren begann ein langsamer Prozess des Eindringens der Katholiken in den Business-Sektor und in Positionen des öffentlichen Lebens. Eine inzwischen fast drei Jahrzehnte währende neue Gesetzgebung sichert den Katholiken inzwischen grundsätzlich den gleichen Zugang zu allen Positionen in Nordirland. So konnte sich das 1969 bei der katholischen Minderheit vorherrschende Grundgefühl der Ausgrenzung und Zurückweisung von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wandeln. Ein weiterer Faktor war das vor 1969 vorherrschende Klima kultureller Enteignung: Der offizielle Gebrauch der irischen Sprache war untersagt, keine irische Straßennamen erlaubt, es gab keine irischen Schulen. Vieles hat sich seither verändert. Wenngleich die katholische Bevölkerung noch immer von der Langzeitarbeitslosigkeit überproportional betroffen und in den öffentlichen Berufen unterrepräsentiert sind.
Der andere große Faktor für die Veränderung war die in der Mitte der 80er-Jahre wachsende Überzeugung, dass die Probleme militärisch nicht zu lösen waren. Und zwar von beiden Krieg führenden Parteien in einer gewissen zeitlichen Kohärenz. Beispielhaft dafür sind Frank Kitson, ein führender Vertreter der britischen Armee in Nordirland, der den Krieg gegen die Taktik der IRA nicht mehr für gewinnbar hielt und etwas später seitens der IRA Leute wie Gerry Adams, die begannen, das Primat der Politik gegenüber den Waffen ins Feld zu führen.
Sie haben einige der internen Akteure und Bedingungen für die beginnende Veränderung genannt. Welche Rolle spielten äußere Faktoren bzw. die internationale Wahrnehmung des Konfliktes für die Situation in Nordirland?
Der Bürgerkrieg begann in einer Zeit, in der die nationale Souveränität unangefochtene völkerrechtliche Realität war. Das Gebot der Nichteinmischung machte etwa das Eingreifen auf der Basis einer UN-Mission unmöglich. In den 70er-Jahren wuchs aber – parellel zu der Frustration auf dem britischen Mainland – auch die Furcht in der Republik Irland, dass die Gewalt aus dem Norden auf den Süden übergreifen würde und den gerade beginnenden ökonomischen Aufschwung empfindlich stören könnte. In so fern ging die erste deutlichere Einmischung von außen in den frühen 80er-Jahren von der Republik Irland aus. Sie bildete die Grundlage für eine neue Qualität der Kooperation zwischen der irischen und britischen Regierung, die ihren Niederschlag 1985 im Anglo-Irish-Agreement fand. Diese Zusammenarbeit und Kommunikation war bekanntlich nicht immer stabil über die Jahre, bildete aber schließlich einen wesentlichen Rahmen für die Friedensgespräche der 90er-Jahre. Der zweite relevante Faktor äußerer Einmischung war die sich verändernde Rolle der USA als zentraler internationaler Akteurin in den späten 80er- und frühen 90er-Jahren. Bis dahin hatten die USA – bedingt vor allem durch die starke irische Lobby – vor allem als Unterstützer des Republikanismus fungiert. Das änderte sich in dem Maße wie wirtschaftliche Förderung über die Irish Funds und andere Geldgeber zunehmend die Gebote ziviler, sozialer und ökonomischer Entwicklung auf die Tagesordnung setzte, und zwar für beide nordirischen Seiten, die grüne und die orangene. Die finanzielle Unterstützung für die militärischen Ziele der IRA ging deutlich zurück zugunsten sozialer Förderprogramme, Investoren aus den USA verstärkten den politischen Druck auf die Provisional IRA und Sinn Fein und begannen, Kontakte auch zu den Loyalisten zu entwickeln und Unionisten erfolgreich in die Wirtschaftskooperation einzubinden.
Glauben Sie, dass diese spezifische irisch-amerikanische Connection bedeutsamer war als die globalen Veränderungen am Ende des Kalten Krieges, die auch eine Infragestellung des revolutionären bewaffneten Kampfes mit sich brachten, oder handelt es sich hier um parallele Entwicklungen?
Ich denke durchaus, dass die internationalen Veränderungen im Verständnis von Nationalismus einen wichtigen Kontext auch für die nordirische Situation beschreiben, alles was sich mit der Relativierung des Souveränitätsanspruches bzw. des Nichteinmischungsgebots verbindet. Das erleben wir seit einigen Jahren in den Auseinandersetzungen um das frühere Jugoslawien, aktuell im Kosovo, in Ost-Timor und in anderen Konflikten in der Welt. Ich erinnere mich an Gespräche mit dem britischen Minister of Security in den frühen 90er-Jahren, der zwar der Republik Irland eine Rolle zugestehen wollte, aber einem diplomatischen Engagement der USA sehr skeptisch gegenüberstand…
Das hat sich mit dem Beginn der Friedensgespräche, wo die USA eine wichtige Moderationsfunktion übernahmen, geändert…
In der Tat. In diese Zeit fällt auch eine Veränderung der Art der internationalen Kontakte, die zwischen den verschiedenen revolutionären oder Guerillaorganisationen bestanden, wie zwischen der IRA, entsprechenden Gruppierungen etwa in Korsika oder im Baskenland. An die Stelle des Austausches von Militärstrategien und Informationen zur Waffenbeschaffung trat mehr und mehr ein Dialog über politische Konzepte zur Lösung der ethno-nationalen Konflikte.
Ich möchte gern noch einmal etwas weiter ausgreifen hinsichtlich der historischen Wurzeln und der Muster, die dem Nordirland-Konflikt möglicherweise zu Grunde liegen. Handelt es sich in Ihren Augen eher um das auslaufende Modell eines Jahrtausendkonfliktes oder um die allmähliche Lösung eines für unser Jahrhundert nicht untypischen Konfliktmusters?
Wir haben es mit den Spätfolgen einer kolonialen Politik zu tun, die sich insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert in Nordirland raumgreifend entwickelte und ein Muster der sozialen Separierung etablierte. Die ursprüngliche irische, mehrheitlich katholische Bevölkerung lebte seither getrennt, arbeitete getrennt und führte ein gesellschaftliches Leben, das von dem der britischen Siedler, die außerdem eine andere Religionszugehörigkeit besaßen, getrennt verlief. Der Religionsunterschied hätte für sich genommen nicht die besondere Bedeutung erlangen müssen, wenn es nicht die ausdrückliche politische Strategie der Separation gegeben hätte, die im unmittelbaren Interesse der damaligen britischen Regierungen lag. In den frühen Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts – der Charakter des Kolonialismus verlagerte sich im internationalen Maßstab von militärisch-territorialen stärker auf ökonomische Strategien – veränderte sich entsprechend zwar auch die britische Einflussnahme in Nordirland; aber man war auch zum Gefangenen der Jahrhunderte alten Separationspolitik geworden. Denn zu diesem Zeitpunkt, als die Chance für ein vereinigtes Irland virulent auf die Tagesordnung kam, war die Separation der Protestanten verbunden mit einer Dominanz der Gesellschaft im Norden so manifest und ihre Sorge in einem mehrheitlich katholischen Gesamtirland unter zu gehen so groß, dass eine flexiblere britische Strategie auf taube Ohren stieß. Im Gegenteil, die Dinge verhärteten sich mit der Übernahme der protestantischen Herrschaft in Stormont/Belfast, die bis zum Beginn der »Troubles« andauerte.
Wenn man also gefragt wird, was für eine Art von Bürgerkrieg ist das, ein religiöser, politischer oder sozialer, kann man nur sagen, der Bürgerkrieg brach aus, weil alle diese Faktoren als Ausdruck der Separationspolitik zusammenkamen. Und die Kirchen haben sicherlich ihren eigenen Teil dazu beigetragen, indem sie die Trennung der Communities durch ein separates Erziehungswesen, durch die Betonung der kulturellen Differenz immer weiter befördert haben. Diese Koinzidenz aller Formen von Separatismus hat in Nordirland, anders als in anderen ethnischen Konflikten in denen es in einzelnen Bereichen mehr Durchlässigkeit gab, die vergleichsweise große Schärfe, Traditionslast und Unversöhnlichkeit bewirkt.
Apropos kulturelle Identitäten: lassen sich Veränderungen in dem kulturellen Selbstverständnis der Konfliktparteien im Verlaufe dieses Jahrhunderts festmachen, insbesondere bei den Unionisten, möglicherweise ein Wandel zu einem eigenen »irischen« Selbstverständnis, das in dem jetzigen Friedensprozess eine förderliche Rolle spielen könnte?
Kultur wird in einem Krieg immer benutzt, um ein Bollwerk gegen den Feind zu errichten. Erinnern wir uns, irische Kultur wurde als ein Kampfbegriff im Krieg gegen die Engländer zwischen 1919 und 1921 entwickelt. De Valeras Schlachtruf 1921 war »Ein katholischer Staat für ein katholisches Volk«.
In ähnlicher Weise haben die Unionisten, vor allem weil sie sich immer als bedrohte Minderheit auf der irischen Insel gefühlt haben, ihre Identität in strenger Anlehnung an das Gefühl britisch zu sein gepflegt. Die Unionisten sind aber mit eben dieser Identität in den letzten Jahrzehnten immer mehr in ein Dilemma geraten, weil britisch zu sein selbst in die Krise geraten ist. Die stärkere regionale Differenzierung eines schottischen, walisischen, oder eben englischen Selbstverständnisses, der Zerfall des britischen Empire haben die Verunsicherung bei den nordirischen Unionisten darüber verstärkt, wohin sie sich orientieren sollen.
Liegt hier nicht auch eine Chance – genau im Sinne der Entstehung einer neuen nordirischen Identität, in der die Separation in einem, wenn man so will, positiven, dialektischen Sinne aufgehoben werden könnte?
Nun ja, die Frage ist, wer kann eine solche Identität kreieren? Es gibt z.B. Versuche, so etwas wie eine Ulster-Scots-Identität zu schaffen, aber viele Protestanten in Nordirland fühlen sich dabei nicht wohl, nicht zuletzt wegen des sprachlichen Aspekts, der das Englische ausgrenzt. Wir diskutieren diese Fragen in unserer Arbeit intensiv mit Unionisten und ein Problem besteht ja gerade darin, dass diese in ihrer Identität verunsicherte Gruppe sich mit einer Gruppe konfrontiert sieht, die sich ihrer katholisch-nationalistischen Identität sehr sicher ist. Deshalb haben wir besonders im Rahmen der Friedensgespräche großen Wert darauf gelegt, eine Art kulturelle Rückversicherung zu geben, den Unionisten die Angst zu nehmen, dass sie nur die Wahl hätten, irisch, gälisch oder katholisch zu werden. Die Verunsicherung der Protestanten, die mit der erwähnten britischen Desintegration zusammenhängt, lässt sich nicht einfach weg diskutieren. Die wenigsten Unionisten würden sich gern als englisch verstehen, es gibt eine ganze Bandbreite von Sympathien etwa in Richtung schottischer Identität oder in Richtung einer nordirisch-britischen Prägung. Aber das Unwohlsein bleibt, da man sich historisch eben nicht auf die besondere nordirische Geschichte bezogen, sondern sich im Kontext einer umfassenden britischen Geschichte verortet hat. Das heißt, wir haben es mit einer Gruppe zu tun, die mehr und mehr von ihren historischen Wurzeln wegdriftet – ein ernstes Problem.
Würden Sie hierin, auch im Vergleich mit anderen ethnischen Konfliktkonstellationen, eine spezifische ethnische Komponente des nordirischen Konflikts sehen – den Versuch einer Neukonstituierung der sich auflösenden unionistischen Identität?
Wie wir wissen, wird das Konzept der Ethnizität und solcher Begriffe wie Rasse oder Volksgruppenzugehörigkeit gegenwärtig einer kritischen Prüfung unterzogen – in einer, wie ich finde, viel versprechenden und konstruktiven, internationalen Diskussion. Was definiert eine ethnische Gruppe? Was bedeutet es, einer Gruppe zuzugestehen, sich als ethnische Einheit zu verstehen? Ein diesbezüglich spezifisch nordirisches Problem liegt ja auch darin, dass viele der individuellen Akteure in ihrem familienhistorischen Hintergrund gemischte Ursprünge vorfinden und ihre Unterschiedlichkeit erst in dem Moment definieren, wenn sie mit dem »anderen« Gegenüber Differenzen verhandeln müssen oder wollen. Dies ist ein großes Dilemma, was insbesondere bei der katholisch-nationalistischen Community dazu geführt hat, den Konflikt nicht als ethnisch, sondern als primär politisch zu definieren, d.h. als bedingt durch die britische Anwesenheit in Nordirland. Die Unionisten tendieren auch eher zu einer politischen Definition, denn sie stellen den Machtanspruch der Republik Irland auf das Gesamtterritorium der Insel in den Vordergrund – trotz der offensichtlichen, auch konstitutionellen Veränderungen der jüngeren Zeit. Es gibt sicher bei den Protestanten noch eine kleinere, aber relevante Gruppe, die die religiöse Dimension betonen, die sich als Bollwerk des Protestantismus, der richtigen Gotteslehre auf der irischen Insel verstehen. Dominant sind aber sicher die politischen und kulturellen Perzeptionen der Differenzen. Wir als akademische Einrichtung, die sich mit ethnischen, politischen, und religiösen Konflikten beschäftigt, halten es nicht für adäquat, den Menschen mit denen wir zusammen arbeiten ihre Sicht der Konfliktdimension vorzuschreiben, sondern vielmehr ihre jeweiligen Perzeptionen ernst zu nehmen und auf dieser Grundlage an Lösungen zu arbeiten.
Wir haben die militärische Dimension der »Troubles« bereits angesprochen. Die beidseitige Einsicht, dass militärische Gewalt keine politische Lösung brachte, der 1994 erklärte und 1997 erneuerte Waffenstillstand der IRA haben den Weg für die Friedensverhandlungen auf der Basis einer gleichberechtigten Einbeziehung der Konfliktparteien – »inclusiveness« statt »separation« – geebnet. Das Good Friday Agreement sieht sowohl einen bemerkenswert modernen Kanon der Institutionalisierung sozialer, politischer und kultureller Rechte im Rahmen einer weitgehend souveränen Teilung der Regierungsmacht in Nordirland vor als auch ein Programm der Demilitarisierung, der Abrüstung der paramilitärischen Organisationen sowie der staatlichen Sicherheitskräfte, einschließlich einer umfassenden Reform der Sicherheitsstrukturen. Welchen Stellenwert geben Sie der Waffenfrage, die die politische Implementierung des Abkommens bis heute zu verhindern scheint?
Die Realität nicht nur der nordirischen Geschichte seit 1921 – das reicht eben auch weit in die Geschichte Irlands zurück – ist, dass die Leute, die die Waffen hatten und einsetzten, seien es die Loyalist Volunteers oder Provisional IRA, kleine, aber zentrale Akteursgruppen waren, an denen sich die politische Geschichte des Konfliktes abarbeitete. Es gibt so etwas wie Wellenbewegungen oder Moden, in denen sich das Verhältnis von Waffen und Politik in Nordirland konstituierte. Für jede Gesellschaft ist es eine problematische Herausforderung, die Waffen in den Händen Weniger zu kontrollieren. Der Kontext der Akzeptanz oder Inakzeptanz in dem Waffen angewendet werden bedarf jedoch einer besonderen Analyse – besonders wenn wie in Nordirland Waffengewalt zwar nie mehrheitlich unterstützt wurde, aber eine gewisse soziale Akzeptanz aus dem Gefühl der Deklassierung heraus besaß. Die Aufgabe der Politik ist es, eine gesellschaftliche Situation zu schaffen, in der die Waffen weder die Emotionen (verletzter Rechte) noch die Logik (der Durchsetzung politischer Ziele) für sich in Anspruch nehmen können. Die positive Veränderung der 90er-Jahre bestand auch darin, dass es mehr und mehr gelang, den Interessen der Gruppen, die am Rande der loyalistischen bzw. republikanischen Community agieren, eine politische Stimme und Einfluss zu geben. Das heißt nicht, dass dies schon ausreicht und diejenigen militanten Splittergruppen auf beiden Seiten, die nach wie vor auf Waffengewalt setzen, sind eben in den politischen Dialog auch noch nicht hinreichend einbezogen. Es gibt auch fließende Übergänge in den Bereich einer Alltagskriminalität hinein, die mit den politischen Wurzeln des Konflikts kaum etwas zu tun hat, statistisch gesehen allerdings in Nordirland noch in geringerem Maße als in anderen vergleichbaren Gesellschaften.
Um auf die Beendigung des Krieges zu sprechen zu kommen: Ja, es gibt ein größeres Problem in Nordirland mit »decommissioning«, der Entwaffnung der paramilitärischen Organisationen, und das ist angesichts der Geschichte des Konfliktes nicht überraschend. Leute unterzeichnen einen Friedensvertrag nicht wegen, sondern trotz ihrer Gefühle. Es dominieren nach wie vor Gefühle der Verletzung und des Misstrauens zwischen den Konfliktparteien. Beide Seiten haben mit dem Friedensabkommen nicht das bekommen was sie wollten. Von außen mag es wie ein Doppelsieg aussehen, aber die Konfliktparteien fühlen sich beide als Verlierer. Die Unionisten mussten in eine Teilung künftiger Regierungsgewalt (power-sharing) mit Sinn Fein einwilligen, Sinn Fein musste – zumindest zunächst – den Anspruch auf eine vereinigtes Irland aufgeben. Das Agreement ist in so fern die zweitbeste Lösung für beide Seiten und dafür lässt sich nicht immer die notwendige emotionale Energie aufbringen. In der Diskussion um »Decommissioning« oder auch die anstehende Polizeireform kommt dieses Dilemma exemplarisch zum Ausdruck…
Aber die Diskussion um den im September veröffentlichten Patten-Report für eine neue Polizeistruktur umreißt sowohl das komplizierte Verhältnis legaler und illegaler Waffen als auch die sehr weitreichenden neuen Aufgaben einer Sicherheitsarchitektur in einer modernen zivilen Gesellschaft…
Ich sehe uns hier in Nordirland mit diesen Themen in einer Art zeitlicher Verzögerung zur internationalen Diskussion konfrontiert, die z.B. von den größeren NGOs, Oxfam und anderen, im Bereich der Kleinwaffenkontrolle mit Blick auf post-conflict-Situationen geführt wird. Das ist in Nordirland noch nicht ganz angekommen. Die Gewehre haben in der irischen Geschichte einen spezifisch hohen Symbolwert, dies gilt für beide Seiten, aber besonders für die republikanische. Es mangelt noch an einer gewissen Kreativität hinsichtlich politischer Gesten, die von den Republikanern nicht als Unterwerfung gegenüber den Unionisten verstanden werden wollen. Ich habe die Hoffnung, dass die internationalen Erfahrungen, die wir gegenwärtig in der Arbeit unserer Organisationen machen, zunehmend Eingang finden in den nordirischen Kontext. Wir haben in Nordirland auch die Erfahrung, dass es immer Bewegung gab, wenn die Zeit hinsichtlich der Beziehungen zwischen den Konfliktparteien reif war. Die Lösung der Waffenfrage ist in so fern kein technisches Problem, sondern ein Problem des Vertrauenszuwachses. Daran arbeiten wir im Augenblick.
Sind die Schwierigkeiten, die es jetzt bei der Implementierung des Good Friday Agreements gibt, für Sie ein déjà vu-Erlebnis im Vergleich zum Scheitern des Sunningdale-Abkommens 1974 oder des Anglo-Irish-Agreements von 1985?
Nein, das kann man auf keinen Fall sagen. Sunningdale war ein erster großer Versuch, power-sharing zu etablieren, und ich kenne viele private, nicht öffentlich geäußerte Meinungen von Unionisten, die es sehr bedauern, dass das Abkommen damals von ihnen zu Fall gebracht wurde. Es hätte 25 Jahre der Gewalt ersparen können. Dies gilt in ähnlicher Weise für die irische-britische Übereinkunft vor 14 Jahren. Aber auch hier sind historische Entwicklungen zu berücksichtigen, die die Veränderungen in diesem Zeitraum erst ermöglicht haben. Die Republik Irland hat sehr allmählich, seit dem Eintritt in die Europäische Gemeinschaft 1973, begonnen, sich aus der vollständigen wirtschaftlichen Abhängigkeit Großbritanniens zu lösen und eine eigene, inzwischen sehr anerkannte Rolle im Rahmen Europas bzw. der EU zu spielen. Erst auf dieser Basis wurde es möglich, großzügiger im Umgang mit dem alten verhassten Kolonialherren zu werden. Erst seit wenigen Jahren treffen sich die Staatsoberhäupter regelmäßig und offiziell. Geschichte braucht ihre Zeit…
… und die jüngeren irischen Entwicklungen vollziehen sich parallel zu den weltweiten Prozessen der Globalisierung. Ehemals nationale Akteure stehen angesichts der Internationalisierung der Finanzmärkte und der Kommunikationstechnologien vor neuen Herausforderungen, aber auch Möglichkeiten zur Gestaltung des regionalen Kontextes…
In der Tat wäre das Good Friday Agreement vor zehn Jahren nicht denkbar gewesen. Nicht bevor wir begannen, das alte »Millennium des Nationalismus« hinter uns zu lassen und den Weg für ein Millennium neuer konstitutioneller Möglichkeiten zu öffnen. Das Agreement ist ein faszinierendes Beispiel für diese Suche nach neuen Wegen und es kann sich im internationalen Vergleich sehen lassen. Es erkennt die großen globalen Veränderungen, die Notwendigkeit von Pluralismus, Mobilität und grenzüberschreitender Kooperation an. Erstmals gibt es das gesetzlich verbriefte Recht, die britische oder irische Staatsbürgerschaft – oder beide – und damit die politische und kulturelle Identität frei zu wählen. Ein vereinigtes Irland war eine Lösung des letzten Jahrhunderts, eine Integration Nordirlands in Großbritannien ebenfalls. Das Belfast Agreement ist die Lösung für das nächste Jahrhundert. Und wir suchen nach vergleichbaren Modellen auch in anderen post-conflict-Situationen.
Prof. Mari Fitzduff ist Direktorin der akademischen Einrichtung »Initiative on Conflict Resolution and Ethnicity« (INCORE.) an der Ulster University in Derry/Londonderry, Nordirland (http://www.incore.ulst.ac.uk).
Dr. Corinna Hauswedell ist Gastwissenschaftlerin am »Bonn International Center for Conversion« (BICC) mit einem Forschungsprojekt über Demilitarisierung in Nordirland.