W&F 2014/1

Nuclear Exits

Internationaler Kongress, 18.-19. Oktober 2013, Helsinki

von Xanthe Hall

Heute, während ich diesen Bericht schreibe, kam die Nachricht, dass Nelson Mandela gestorben ist. Er wird vor allem als der Präsident gefeiert, der der Apartheid in Südafrika ein Ende setzte. Er und der damalige Präsident Frederik de Klerk wurden 1993 für die Beendigung der Apartheid und das Schaffen eines Fundaments für ein neues Südafrika mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Südafrika wurde aber in dieser Zeit nicht nur von der Apartheid befreit, sondern auch von Atomwaffen: 1993 ließ de Klerk wissen, Südafrika habe seine sechs (heimlich gebauten) Atomwaffen zerstört und wolle nun Mitglied im Nichtverbreitungsvertrag werden.

Konzepte für den Ausstieg aus der militärischen Nutzung der Atomtechnologie wurden bei der Konferenz »Nuclear Exits – Countries Foregoing the Nuclear Option« in Helsinki thematisiert, die vom International Peace Bureau und den Internationalen Ärzten zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) ausgerichtet wurde. Die Konferenz ging außerdem der Frage nach, warum die meisten Länder gar nicht erst einsteigen in die atomare Bewaffnung. Warum sind so viele Länder atomwaffenfrei, obwohl eine ganze Reihe von ihnen in der Vergangenheit zuweilen heimlich an Atomwaffen geforscht hatte?

Beispiel Südafrika

De Klerk war Hauptredner der Konferenz und beschrieb seinen damaligen Beschluss als Folge eines „historischen Fensters der Gelegenheit“. Er brauchte nur einen „Vertrauensvorsprung“, um durch das Fenster zu springen, wobei er nicht wusste, was ihn auf der anderen Seite erwartete. Der Abzug der sowjetischen Truppen aus Angola, die Unabhängigkeit in Namibia, der Fall der Mauer in Berlin, Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion – dies waren für ihn alles Zeichen, dass er den Sprung wagen könne. Er glaubte damals, es wäre für Südafrika besser, atomwaffenfrei zu sein, um aus der Isolation in die Gemeinschaft, aus der Dunkelheit ins Licht zu kommen. Auch heute ist er davon überzeugt, dass echte Sicherheit nicht von der Fähigkeit kommt, sich selbst zerstören zu können, sondern vom Vermögen, in Frieden und Gerechtigkeit zusammen zu leben.

Damals leitete der Finne Olli Heinonen die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) in Wien. Er teilte mit uns die Lehren aus dieser Zeit, die er auch heute noch für gültig hält: Die Entwicklung von Atomwaffen wird hinter zivilen Programmen versteckt; Wissen kann man nicht wegbomben; Offenheit, Vertrauen und Zusammenarbeit sind unerlässlich, um ein Atomwaffenprogramm zu beenden.

Juha Rautjärvi erhielt damals von der IAEO den Auftrag, mit den südafrikanischen Militärs über die Zerstörung der Atomwaffen zu verhandeln. Das »Deklaration-Verifikation-Spiel« wird in der Regel scheitern, sagt er; man müsse mit ehrlichen Motiven und Raum für Großzügigkeit an die Sache gehen. Würde eine Atmosphäre des Vertrauen und der Verlässlichkeit zwischen den Akteuren aufgebaut, führe es zu Ehrlichkeit und Abrüstung. Er sprach von seiner leitenden Metapher: „Lass es sich natürlich entfalten, wie eine Blume, ein Gefühl.“

Gründe für den Verzicht

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es eine Reihe weiterer Beschlüsse für den Verzicht auf Atomwaffen: Die Ukraine, Belarus und Kasachstan entschieden im Kontext ihrer Unabhängigkeit, die auf ihrem Territorium stationierten sowjetischen Atomwaffen nach Russland zurückzuschicken und die Startvorrichtungen zu zerstören. Yuri Donskoy aus der Ukraine ist überzeugt, dass in seinem Land vor allem die Tschernobyl-Katastrophe zur Entscheidung gegen Atomwaffen führte. In Kasachstan hingegen waren die Atomwaffentests und ihre Gesundheitsfolgen prägend – bis heute leiden dort viele Menschen unter den Folgen der Tests.

Jeder Fall des Ausstiegs aus der militärischen Atomenergie ist anders gelagert und muss im je spezifischen Kontext betrachtet werden. Konkrete Fälle der Beendigung heimlicher nuklearer Forschungs- und Entwicklungsprogramme in der Schweiz und in Schweden wurden auf der Konferenz beispielhaft beschrieben. Es lohnt sich aber, meinten die FriedensforscherInnen Sico van der Meer und Maria Rost Rublee, gemeinsame Charakteristika und Parallelen der Fälle anzuschauen. Van der Meer definiert als ersten Schritt zur Bombe den Bau eines Kernreaktors. Er untersuchte systematisch alle Länder, die einen Kernreaktor bauten, aber keine Atomwaffen entwickelten, unabhängig davon, ob dies eine bewusste Entscheidung war oder nicht. Er nennt diese Staaten „fähig, aber unwillig“ und stellt die Frage: Warum wurde beschlossen, zu verzichten, bzw. warum gab es keine Notwendigkeit, zu entscheiden?

Es gibt bisher viel mehr Forschung über die Motive für den Bau von Atomwaffen als für den Verzicht. Nichtverbreitung wird bisher nur als Gegensatz zur Verbreitung von Atomwaffen verstanden; somit denken viele, dass die Motivation zum Bau von Atomwaffen in den verzichtenden Staaten einfach fehlt. Van der Meer sagt, diese Annahme sei wissenschaftlich nicht fundiert, und meint, wir bräuchten dazu mehr Forschung. Er argumentiert, seine bisherige Forschung deute darauf hin, dass die Entscheidung zum Verzicht in den meisten Ländern aufgrund innenpolitischer Interessen zustande gekommen sei. Damit meint er sowohl die Interessen der Zivilgesellschaft als die auch von politischen Parteien.

Die Entscheidung beeinflussen

Rost Rublee forscht ebenfalls zum Thema. Sie kam jedoch zum Schluss, dass Normen die wichtigere Rolle spielen und ihrerseits die politischen Prozesse in einem Land stark beeinflussen. Sie postuliert, die Zivilgesellschaft könnte mit einer Strategie der aktiven Anwendung der Sozialpsychologie solche Normen etablieren oder verstärken. Hier vier Beispiele:

  • Eine gewünschte Norm, die bereits breit akzeptiert ist, kann mit einer anderen verknüpft werden (z.B. Nichtverbreitung = Neutralität und Frieden).
  • Oder man stellt eine Norm in einen Kontext, der sie durch bisheriges Verhalten als konsequent erscheinen lässt (z.B. Belege über die Einhaltung von Abrüstungsverpflichtungen).
  • Die Umstände spielen auch eine Rolle bei der Frage, wie stark eine Norm wirkt. In unsicheren Zeiten wird eine Norm eher Akzeptanz finden. In Großbritannien versuchen Friedensgruppen daher, die Finanzkrise zu nutzen, um Ausgaben für ein neues Atomwaffensystem zu verhindern.
  • Staaten akzeptieren eher den normativen Einfluss von vergleichbaren Staaten und lehnen ihn von Staaten ab, die als deutlich andersartig wahrgenommen werden. Ein Argument der japanischen AktivistInnen ist daher: Japan darf nicht wie Pakistan handeln.

Beispiele in Europa

Thomas Jonter, Professor für Internationale Beziehungen in Schweden, unterstützt das Argument von van der Meer, dass im schwedischen Fall innenpolitische Interessen die stärkste Wirkung entwickelt hätten. Dort sei der Einfluss der sozialdemokratischen Frauen am größten gewesen, andere Faktoren hätten aber auch eine Rolle gespielt. Jonter ist davon überzeugt, dass die Entscheidung, das Atomwaffenprogramm in das zivile Atomenergieprogramm einzugliedern, das Ende für die militärische Komponente bedeutet habe. Die Wissenschaftler seien inhaltlich und zeitlich überfordert gewesen, und es habe ein Interessenskonflikt bestanden zwischen den beiden Zielen, Atomkraft zu erzeugen und Waffen zu bauen.

Die Geschichte des schweizer Atomwaffenprogramms hört sich fast wie ein Krimi an. Die Schweiz kaufte 1953 im Rahmen des »Atoms for Peace«-Programms einen Forschungsreaktor der USA, war aber nicht in der Lage, selbst Uran anzureichern. Dann wurde in Lucens in einem Bergstollen heimlich ein weiterer Reaktor gebaut; das erforderliche Uran wurde aus dem belgischen Kongo und Schwerwasser aus Norwegen und den USA importiert. Dieser Reaktor sollte vor allem Plutonium für ein Atomwaffenprogramm liefern. Dafür kaufte die Schweiz in Frankreich auch 57 Mirage-Kampfflugzeuge – ursprünglich sollten es 100 werden, die Zahl wurde aus Kostengründen aber reduziert. Der Kostenfaktor sei wichtig gewesen, sagt Andi Nidecker, den Ausschlag habe aber eine Kernschmelze des Lucens-Reaktors gegeben, die lange Jahre vertuscht worden war. Mit dem GAU 1969 platzte der nukleare Traum für die Schweiz.

Viele weitere Länder erhielten ebenfalls Atomtechnologie über das »Atoms for Peace«-Programm. Darüber hinaus hatten die USA dafür gesorgt, dass Länder wie Deutschland und Schweden ihre eigenen Atomwaffenambitionen aufgaben, indem sie ihnen Militär- und Atomtechnologie anboten. US-Atomwaffen mit einer »Twin Key«-Funktion wurden in großer Zahl in Deutschland stationiert, wodurch das bundesdeutsche Militär im Ernstfall faktisch die Verfügung über Atomwaffen erlangt hätte. Mit diesem Angebot der USA wurde in Deutschland in den späten 1950er Jahren die Diskussion über eigene Atomwaffen entkräftet. Dieses Arrangement mit den USA, »nukleare Teilhabe« genannt, hat bis heute Bestand. Noch immer lagern ca. 20 US-Atombomben in Deutschland, und deutsche Piloten üben in Tornado-Flugzeugen deren Einsatz.

Die Gender-Frage

Meines Wissens zum ersten Mal wurde auf der Helsinki-Konferenz über die Rolle von »Gender« bei der nuklearen Abrüstung gesprochen. Das Gender-Thema wird bei anderen Friedensfragen schon seit Längerem prominent diskutiert, eine entsprechende Präsentation auf einer Atomwaffenkonferenz war für mich aber ein Novum. Emma Rosengren forscht zu diesem Aspekt und hat überzeugend präsentiert, welch wichtige Rolle Gender in der Debatte spielt. In Abrüstungsgremien gehören nach wie vor nur selten Frauen zu den Delegationen. Zwar gibt es eine Resolution des UN-Sicherheitsrats zur Frage von »Frauen, Frieden und Sicherheit« (Resolution 1325 vom Oktober 2000), aber diese wirkt sich eher im Bereich der konventionellen Abrüstung aus, nicht bei der nuklearen.

Fazit

Wir brauchen mehr Forschung über »Best Practice«-Beispiele von »Nuclear Exits«, um besser zu verstehen, welchen gemeinsamen Nenner diese Fälle haben. Die Zivilgesellschaft sollte die Erkenntnisse der Sozialpsychologie bezüglich Normenbildung, -bearbeitung und-stärkung besser nutzen. Und die Genderfrage muss intensiver beleuchtet werden, um genderspezifische Ansätze erfolgreich anzuwenden.

Xanthe Hall

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2014/1 Konfliktdynamik im »Globalen Norden«, Seite 46–47