W&F 1995/1

Nuklearwaffen ohne Zukunft?

Zur Rolle der Nuklearwaffen nach dem Ende des Kalten Krieges

von Paul Schäfer

Die Vision einer atomwaffenfreien Welt ist fast so alt wie die Atombombe. Nach dem Schrecken von Hiroshima und Nagasaki war das Bestreben, das Teufelszeug wieder loszuwerden, weit verbreitet. 1946 rief die erste Generalversammlung der Vereinten Nationen dazu auf, die Atomwaffen zu beseitigen. Artikel VI des Atomwaffensperrvertrages (Non-Proliferation Treaty) von 1968 fordert Verhandlungen über die allgemeine und vollständige (nukleare) Abrüstung. Doch die nukleare Waffenwelt wuchs und wuchs.

Die internationale Friedensbewegung zu Beginn der 80er Jahre forderte eine radikale Abkehr vom Abschreckungsdenken und die Ächtung aller Massenvernichtungswaffen. Als der Repräsentant der damaligen Supermacht UdSSR, Michael Gorbatschow, 1986 diese Vision aufgriff, schien die Tür für einen rigorosen Einschnitt in die Nuklearpotentiale geöffnet. Mit dem Ende des Kalten Krieges schien der Weg endgültig frei, um schrittweise zu einer Welt ohne Kernwaffen zu gelangen.

Doch schon heute wissen wir, daß dieser Weg noch sehr lang sein wird. Sicher, es gab erste Erfolge. Das zwischen den USA und Rußland am 3.1.1993 vereinbarte Abkommen Start II wird die Nuklearwaffen beider Seiten bis zum Jahre 2003 – möglicherweise etwas früher – auf etwa ein Drittel des heutigen Bestandes reduzieren. Am Ende von Start II sollen beide Seiten nicht mehr als 3.000 bis 3.500 strategische Gefechtsköpfe auf ballistischen Interkontinentalraketen (ICBM), seegestützten Waffen (SLBM) und schweren Bombern haben. Vor den Vereinbarungen über strategische Abrüstung stand das Abkommen über die Verschrottung der atomaren Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag). Diese Abrüstungsschritte wurden ergänzt durch einseitige, aber auf Gegenseitigkeit beruhende Maßnahmen im Bereich der taktischen Nuklearsprengköpfe. In Europa verbleiben allerdings 480 taktische Atomwaffen an Bord von US-Kampfflugzeugen, dazu kommen die Kernwaffen Großbritanniens und Frankreichs.

Diese Bilanz sagt allerdings wenig über den Abrüstungswillen der Atommächte aus, denn es gibt auch ganz andere Signale. So planen z.B. die USA ab 1996 den Bau einer neuen Tritium-Fabrik, obwohl ihre Vorräte weit ins nächste Jahrtausend hineinreichen. Die Atomwaffenbesitzer sträuben sich weiterhin grundsätzlich gegen die Einsicht, daß die vollständige nukleare Abrüstung das einzige probate Mittel gegen die weitere Verbreitung der Kernwaffen ist. Stattdessen entwickeln sie neue Abschreckungsdoktrinen gegen die »Länder des Südens«.

Die nukleare Welt am Ende des 20. Jahrhunderts

1. Die Atomwaffen-Besitzer halten an den Atomwaffen, dem „exklusivsten aller Machtattribute“ (M. Stürmer), fest. Ihre Kernwaffen-Bestände werden zwar verringert, aber deren Modernisierung geht weiter, d.h. eine qualitative Aufrüstung findet statt. Die Doktrin der Abschreckung wird unter neuen Vorzeichen – gegen Länder der »Dritten Welt« gerichtet – fortgeführt.

US-Präsident Clinton hat im Vorfeld der UN-Generalversammlung letzten Herbst eindeutig klargestellt, daß die USA keine neuen atomaren Abrüstungsinitiativen planen und sich weiteren Verringerungen widersetzen werden.1 Dies wird im übrigen auch durch die U.S. Defense Department Nuclear Posture Review (NPR) belegt, die von Clinton in Auftrag gegeben und am 22.9.1994 von Verteidigungsminister Perry vorgelegt wurde. Darin wird festgeschrieben, daß die U.S. strategic nuclear forces im Jahre 2003 aus 14 Trident-U-Booten, aus 450-500 Minuteman III-Interkontinentalraketen, 66 B-52H-Bombern und 20 B-2 Stealth-Bombern bestehen sollen. Die USA behalten sich eine sogenannte »Rekonstitutionsfähigkeit« vor, mit der die Zahl der Sprengköpfe auf den U-Booten und den Interkontinentalraketen rasch aufgestockt werden kann (uploading).

Für die US-Administration ist der Status der »einzig übriggebliebenen Weltmacht« untrennbar mit der führenden Position im militärischen Bereich – Nuklearwaffen eingeschlossen – verbunden. Daher steht für die Clinton-Regierung seither der Kampf gegen die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen auf der weltpolitischen Agenda obenan.

Auch die Russische Föderation hat unter anderen Auspizien den Ehrgeiz, ihren besonderen Status zu verteidigen. Der ökonomische und politische Niedergang muß kompensiert werden. Hinzu kommen, wie ja auch in den USA, die handfesten Interessen des militärisch-industriellen Komplexes. In ihrer neuen Militärdoktrin hat die russische Regierung weitgehend die Abschreckungsformeln der NATO übernommen und dabei sogar »fortschrittliche« Deklarationen der früheren Sowjetunion, wie der Erklärung eines Nicht-Ersteinsatzes (no first-use) der Atomwaffen, über Bord geworfen.

Präsident Jelzin hat aber auf der UN-Generalversammlung im Herbst `94 immerhin weitere Reduzierungen vorgeschlagen. Das Kalkül für die weiteren Abrüstungsvorschläge liegt auf der Hand: Die Start-II-Regelung ist für die Russische Föderation zu teuer. Der russischen Seite wird – wenn sie nicht eine deutliche Unterlegenheit in Kauf nehmen will – eine aufwendige Umrüstung abverlangt, wenn sie sich auf diesem, dann immer noch sehr hohen Rüstungsniveau mit den USA messen will. Diese Umrüstung ist nicht so ohne weiteres unter den finanziellen Problemen zu bewerkstelligen (Verlagerung auf seegestützte Trägermittel!). Weitere Abrüstungsmaßnahmen wären billiger.

Großbritannien und Frankreich führen in diesem Jahrzehnt umfangreiche Modernisierungen ihrer Arsenale durch, an denen keine Abstriche gemacht werden. Lediglich deren Umfang wird eher moderat reduziert. Frankreich hat zudem die am meisten umstrittene Kurzstreckenrakete HADES außer Dienst gestellt. Nach der Dislozierung neuer U-Boote verlagert sich die Planung der Franzosen und Briten auf die Modernisierung des taktischen Atomwaffenpotentials. Priorität hat dabei die Entwicklung nuklearer Abstandswaffen für Jagdbomber.

Der Atomwaffenbesitz wirft offenkundig immer noch einen Abglanz früherer Größe auf diese Kolonialmächte, den man nicht missen möchte. Und dann gibt es immer noch die exklusive Rolle im UNO-Sicherheitsrat, die elementar mit dem Status als Atommacht zusammenhängt. Nicht zu unrecht wird darüber hinaus mit großem Argwohn die nicht unbeträchtliche Kräfteverschiebung seit 1989 zugunsten des »wiedervereinigten« Deutschland beobachtet. Die Briten müssen zudem feststellen, daß ihre »special partnership« mit den USA ausgehöhlt und durch die neuen »partners in leadership« Bonn-Washington ersetzt wird.

Briten und Franzosen sehen sich auch mit der neuen Situation konfrontiert, was aus ihren Potentialen im Rahmen einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Union wird. Um die alleinige Verfügungsgewalt über die nationalen Atomwaffen beibehalten zu können, rücken sie derzeit näher zusammen. Sie haben eine Gemeinsame Kommission gebildet, die sich allen Fragen der Atompolitik und -doktrin widmen soll.2

Für das Militärbündnis NATO schließlich gilt: Die alten Formeln der Abschreckungsdoktrin werden auch nach dem Ende des Kalten Krieges von NATO-Dokument zu NATO-Dokument gebetsmühlenartig wiederholt. So lesen wir: „In diesem Zusammenhang unterstreichen wir den essentiellen Wert des Erhalts breit dislozierter substrategischer nuklearer Kräfte der NATO durch die Vereinigten Staaten und europäische Bündnispartner. Diese Kräfte, die integraler Bestandteil des nuklearen Dispositivs der NATO sind, stellen ein wesentliches Element der transatlantischen Bindung dar.“ 3

China läßt an seinem Nuklearwaffenstatus auch nicht rütteln. Gegenwärtig werden erhebliche Anstrengungen unternommen, um das bestehende Potential qualitativ zu modernisieren. Die Kernwaffenversuche der letzten Jahre verdeutlichen, daß China heftig an der Modernisierung seiner Atomsprengköpfe arbeitet. Die VR China dürfte dabei vom Zerfall der UdSSR profitieren: Russische bzw. ukrainische Technologie und Experten werden eingekauft. Hinzu kommt, daß dank der mäßigenden Rolle Chinas auf Nordkorea die USA die Exportbeschränkungen im Hochtechnologiebereich jüngst aufgehoben haben. China verfügt bisher mit ca. 250 strategischen Sprengköpfen über ein vergleichsweise bescheidenes Arsenal.

Die chinesische Regierung erklärt, daß sie zu umfassender nuklearer Abrüstung bereit sei. Ihr Außenminister hat vor den Vereinten Nationen im September 1994 eine Reihe von Vorschlägen zur nuklearen Abrüstung gemacht: Dies reicht von einer »no-first-use«-Politik, über die Einstellung der Produktion von spaltbarem Material für Kernwaffen bis zu einer Konvention über ein allgemeines Verbot der Atomwaffen. Doch einseitige Schritte werden kategorisch ausgeschlossen – solange die nukleare Vormacht der USA und Rußlands bestehenbleibt. In Zukunft könnte eine negative Entwicklung dadurch eintreten, daß die USA und andere Staaten Raketenabwehrsysteme entwickeln und stationieren. Die VR China würde sich gedrängt fühlen, ihr bestehendes Nuklear-Potential erheblich aufzustocken.

2. Der de-facto-Atomwaffenstaat Israel und die potentiellen Atomwaffenstaaten Pakistan und Indien denken gar nicht daran, von ihren Atomprogrammen abzurücken. Auch ein Beitritt zum NPT wird rigoros ausgeschlossen. Damit bleiben Massenvernichtungswaffen Instrumente im Kampf um regionale Vorherrschaft in Nah- und Fernost.

Zur nationalen Sicherheitsdoktrin Israels gehören nukleare Abschreckungswaffen, da man sich – ja nicht zu Unrecht – als bedrohte Insel in einem Meer von Feinden sieht. Israel kann jährlich 40 Kilogramm Plutonium herstellen (reicht für zehn Atombomben), soll bereits im Besitz von 70 Atombomben sein, verfügt über zwei Raketensysteme (Jericho 1 u. 2) mit Reichweiten zwischen 500 und 1.500 Kilometern und über Weltraumsatelliten.4 Der Angriff der Bomberstaffel auf den irakischen Nuklearreaktor Osirak 1981 hat klargemacht, daß Israel diese Monopolstellung mit Gewalt behaupten will.

Indien mißt sich weltpolitisch an China und strebt einen Ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat an. Der Status eines de-facto-Atomwaffenlandes scheint dabei unverzichtbar. Pakistan fühlt sich traditionell durch Indien bedroht und glaubt, nur Kernwaffen könnten die nötige Sicherheit bieten.

Das indische Atomwaffenprogramm geht auf die 60er Jahre zurück. Es begann unmittelbar, nachdem China seine erste Atombombe gezündet hatte. Indien dürfte nach Expertenschätzungen bis Ende 1995 ungefähr 425 Kilogramm waffengrädiges Plutonium angesammelt haben, wobei unklar ist, ob das aus dem einen der beiden Forschungsreaktoren gewonnene Material tatsächlich waffentauglich ist. Damit stünde eine Menge zur Verfügung, die für 32 bis 70 Bomben reichen dürfte. Mittels einer Gaszentrifugenanlage kann außerdem hoch angereichertes Uran erzeugt werden. Ebenfalls wird angenommen, daß Neu-Delhi inzwischen die benötigten Zündvorrichtungen bauen kann. Mit den MIG 23 und MIG 27 stehen auch Transportkapazitäten zur Verfügung.

Seit den frühen siebziger Jahren arbeitet man auch in Pakistan an Nuklearwaffen und hat mit deutscher, amerikanischer und chinesischer Hilfe inzwischen ein beachtliches Level erreicht. Dies gilt v.a. für die Urananreicherungsanlage in Kahuta, die wahrscheinlich jährlich 45 bis 75 Kilogramm waffenfähiges Uran produziert. Die USA haben mit starkem Druck erreicht, daß die Volksrepublik China ihre Unterstützung weiter drosselt. Immerhin soll Pakistan von China eine »Kopie« eines Atomwaffendesigns erhalten haben und wäre demzufolge auch in der Lage, die Bombe zu bauen. Über Trägertechnologien verfügt das Land ohnehin: Von den USA gelieferte F-16-Bomber könnten dafür umgerüstet werden. 1989 testete Pakistan zwei Kurzstreckenraketen, die offensichtlich mit französischer Hilfe entwickelt worden waren.5

3. Die Herausbildung neuer Kernwaffenstaaten in der »Dritten Welt« ist auf längere Sicht nicht auszuschließen. Damit wäre das Ende eines rüstungskontrollpolitisch wichtigen Abkommens, des Atomwaffensperrvertrages, besiegelt.

Die düsteren Prognosen über Mächte, die sich Massenvernichtungswaffen zulegen könnten, sind skeptisch zu betrachten. Die »verbreitungspolitische« Lage in Lateinamerika, in Afrika und auf der koreanischen Halbinsel hat sich in jüngster Zeit entspannt: Brasilien und Argentinien sind dem NPT beigetreten, ihre hegemonialen Rivalitäten scheinen gezügelt; Südafrika hat sein A-Waffenprogramm beendet; im Rahmenabkommen mit den USA vom vergangenen November hat Nordkorea unterschrieben, auf die Wiederaufarbeitung und andere proliferationsträchtige Technologien verzichten zu wollen. Ob dies das letzte Wort bleibt, sei allerdings dahingestellt.6

Algerien, Libyen und Ägypten verfügen zwar über gewisse technologische Möglichkeiten, aber es erscheint unwahrscheinlich, daß sie in absehbarer Zeit in der Lage sind, Atomwaffen und passende Trägersysteme zu produzieren. Nicht vergessen werden sollte, daß auch Südkorea und Taiwan über erhebliche Kapazitäten und Fertigkeiten auf dem Nuklearsektor verfügen. Es wird von der weiteren politischen Entwicklung in Südostasien abhängen, ob daraus neue Verbreitungsgefahren erwachsen.

Die nuklearen Fähigkeiten des Iran werden als gering, seine Ambitionen allerdings als groß eingeschätzt. Mit US-amerikanischer, deutscher und französischer Hilfe wurde bereits unter dem Schahregime in den 70er Jahren mit dem Bau von Atomreaktoren und Kernforschungsanlagen begonnen. Die Revolution 1979 brachte zunächst einen gravierenden Einschnitt. Das Mullah-Regime geriet in die internationale Isolierung, ein Teil der Wissenschaftler und Techniker verließ das Land. Später wurde ein Großteil der nationalen Ressourcen durch den Krieg mit dem Irak gebunden.

Seit Ende der 80er Jahre hat die Islamische Republik Iran den alten Faden wiederaufgenommen und verfolgt ein ehrgeiziges Atomprogramm.7 Allein 1993 soll Teheran mehr als 15 Mrd. Dollar für seine nuklearen Beschaffungen ausgegeben haben.8 Eine Zusammenarbeit mit China, Pakistan und Indien wurde aufgenommen. Jetzt ist auch Rußland im Geschäft: Moskau hat die Lieferung von Reaktoren im Wert von 800 Mio. Dollar zugesagt, um das unvollendete und im irakisch-iranischen Krieg zwischen 1984 und 1988 zerstörte Kernkraftwerk Buschihr in vier Jahren zu Ende bauen zu können. Hinzu kommt, daß die Kohl-Regierung in Bonn erklärt hat, die Exportgenehmigung für das in Hanau einlagernde Nuklearmaterial für den Iran demnächst erteilen zu wollen.9

Soviel scheint plausibel: Die Bekundungen des Iran, Atomenergie nur zu zivilen Zwecken nutzen zu wollen, sind wenig glaubhaft. Die Energieprobleme des Landes sind angesichts der Erdöl- und v.a. Erdgasvorräte auf lange Sicht lösbar. Warum aber sollte der Iran nach der Atombombe greifen? Der Iran fühlt sich regional bedroht durch Israel und dessen nukleare Kapazitäten, durch den Irak, aber vor allem durch die seit dem letzten Golfkrieg immens verstärkte Präsenz der USA. Die Beispiele Irak, Libyen, Haiti, Nordkorea werden in Teheran so wahrgenommen, daß man dem »Teufel« in Washington nur widerstehen könne, wenn man selber Drohmittel in der Hand hat. „Unter diesen Umständen könnte eine nukleare Fähigkeit als der einzige Garant der hochgeschätzten nationalen Unabhängigkeit, oder zugespitzt, des Überlebens, angesehen werden.“ 10 Das Kalkül wäre recht einfach: Von der Annahme ausgehend, daß Kernwaffen Vorsicht und Zurückhaltung bewirken, weil ein großer militärischer Zusammenprall befürchtet wird, könnten Kernwaffen – allein durch ihre Existenz – von Interventionen, Strafaktionen und Einschüchterungsversuchen der USA abschrecken.11

Die Islamische Republik könnte sich auf verschiedenen Wegen in den Besitz von Massenvernichtungswaffen bringen. Die Zusammenarbeit mit Nordkorea bei den Trägertechnologien zeigt, wie es gehen könnte. Der Iran finanziert gegenwärtig die Entwicklung der Nodong 2-Rakete, die über eine Reichweite von 1.300 km verfügen soll. 150 Exemplare dieser Rakete will Teheran angeblich bestellen.

Noch aber scheint es so zu sein, daß die Islamische Republik eine endgültige Entscheidung über die Beschaffung von Atomwaffen nicht getroffen hat. Mit dem gegenwärtigen Atomprogramm werden aber die Voraussetzungen für die »nukleare Option« geschaffen.

4. Die Umbrüche seit 1989 haben bei den »latenten Atomwaffen-Staaten« Japan und v.a. der Bundesrepublik Deutschland neue machtpolitische Ambitionen geweckt. Beide wollen Ständige Mitglieder des UNO-Sicherheitsrates werden. Sie halten sich die nukleare Optionen offen.

Der Generalinspekteur der Bundeswehr General Klaus Naumann erkärt: Deutschland sei „nicht mehr im Maschinenraum des Dampfers UN, KSZE, NATO, EU usw., sondern auf der Brücke.“ 12 Erstmals seit Richelieus Tagen sei Deutschland wirklich souverän und könne sein Umfeld weit über Europa hinaus mitgestalten.13 Das Schäuble/Lamers-Papier „Überlegungen zur europäischen Politik“ hat verdeutlicht, daß man in Verbindung mit Frankreich in Europa eine dominante Rolle spielen will. Gestützt auf diese Machtposition drängt die Bundesregierung in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, denn „dort spielt die Musik“ (Außenminister Kinkel). Welche Rolle könnte in diesem Kontext der Verfügung über Atomwaffen zukommen? Reicht nicht die ökonomische und politische Macht der Bundesrepublik aus, um das Ziel, im Konzert der Großen gleichberechtigt mitzuspielen, zu erreichen? Oder noch schärfer: Ist die BRD nicht besonders gut damit gefahren, als Nicht-Kernwaffenstaat aufzutreten? Warum sollte sie jetzt diesen Status aufgeben?

Festzuhalten ist:

<>a. Die Bundesrepublik Deutschland <>kann als latente Atommacht bezeichnet werden.14 Allein im sog. »Bundeslager« in Hanau lagern 2 t Plutonium – der Stoff für nukleare Alpträume ist reichlich vorhanden.15 Am technischen Know-how und der industriellen Basis dürfte es auch nicht fehlen. Schließlich hat die Bundeswehr in Gestalt der Tornado-Flugzeuge geeignete Trägermittel. Allzulange würde die Bundesrepublik nicht brauchen, um von einer potentiellen zu einer faktischen Atommacht zu werden.

b. Deutschland hat sich zuletzt in den 2+4-Vereinbarungen völkerrechtlich verpflichtet, Massenvernichtungswaffen nicht zu entwickeln, zu produzieren oder zu erwerben. Es ist Unterzeichnerstaat des Atomwaffensperrvertrages. Es dürfte verdammt schwer sein, sich aus diesen Verpflichtungen herauszuwinden.

Allerdings hat die Bundesregierung den NPT-Vertrag nur mit Vorbehalten unterschrieben. Der gewichtigste: Der Atomwaffenverzicht könnte bei einer Einigung Europas hinfällig werden. Die Bundesregierung hat es im unklaren gelassen, ob dieser Vorbehalt noch gültig ist. Sie hält sich ein Hintertürchen offen.

Damit ist die Richtung angedeutet, in der der einseitige Atomwaffenverzicht »aufgeweicht« werden könnte: durch bi- oder multilaterale Kooperation. „Wenn wir eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik schaffen, müssen die nuklearen Waffen einbezogen werden, und wenn diese Politik wirklich eine gemeinsame ist, dann heißt das natürlich auch, daß die Deutschen ein Mitwirkungsrecht bekommen müssen, (…).“ 16 Es ist nicht allzuweit hergeholt, wenn man annimmt, daß Teile des herrschenden Blocks jetzt ungeduldig auf den Zugriff auf die Atomwaffen unserer Nachbarn warten (siehe hierzu den Beitrag von D. Deiseroth in dieser Ausgabe).

Erst in jüngerer Zeit hat eine Formulierung in der „Konzeptionellen Leitlinie zur Weiterentwicklung der Bundeswehr“ Aufsehen erregt, in der die Aufgaben der künftigen Krisenreaktionskräfte der Bundeswehr festgelegt wurden. Für Einsätze der KRK sind dabei u.a. vorgesehen, „in der Luftwaffe sechs fliegende Staffeln für Luftangriff, Luftverteidigung, Aufklärung und nukleare Teilhabe.“ 17 Das Verteidigungsministerium bagatellisierte nach öffentlichen Protesten. Von einer nuklearen Einsatzplanung für diese Luftwaffen-Verbände könne keine Rede sein. Aber die Sache ist damit nicht aus der Welt. Zumindest zeigt sie schlaglichtartig, welche Bedeutung die Bundeswehr der nuklearen Teilhabe zumißt.

Hellhörig muß auch machen, daß sich aus der »Elite« der außenpolitischen Politikberater jüngst Stimmen zu Wort gemeldet haben, die ebenfalls die Frage nuklearer Mitverfügung zum Thema gemacht haben. Sie bleiben gewohnt kryptisch. Uwe Nerlich will im Rahmen der gemeinsamen europäischen Verteidigung neue »Obligationen« für Nuklearwaffenstaaten (NWS) erreichen. Es soll »neuartige Konsultationen« zwischen NWS und NNWS geben.18 Vielleicht ist es erhellend, daß derselbe Autor an anderer Stelle über Konfliktszenarien der Zukunft schreibt, „… daß bei künftigen Bedrohungen mit nuklearen oder anderen MVW (Massenvernichtungswaffen) konventionelle Reaktionen in den meisten Eventualfällen nicht ausreichen, also die Möglichkeit direkter nichtkonventioneller Reaktionen in Aussicht genommen werden muß.“ 19

Auch die Proliferationsexperten Häckel und Kaiser haben von den Briten und Franzosen „die Bereitschaft zur weitgehenden Europäisierung der Funktion ihrer Kernwaffen“ gefordert.20 Sie schlagen eine europäische nukleare Planungsgruppe, die die Einsatzoptionen definiert, und eine Entscheidungsstruktur mit europäischer politischer Spitze, die ein Vetorecht Frankreichs und Großbritanniens erhalten kann, vor.21

Die Frage bleibt, welche Motive die politische Klasse dieses Landes dazu treiben könnten, auf die nukleare Karte zu setzen. Sicher, die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates sind heute ausschließlich Nuklearmächte. Aber das kann und soll sich ja ändern. Die Bundesregierung hat einen Preis für den Eintritt in dies erlauchte Gremium bereits entrichtet: Die Erlangung von Kriegführungsfähigkeit. Die ganzen Entwicklungen um die Bundeswehreinsätze »out-of-area« (die in dem BVerfG-Urteil kulminierten) hatten ja auch den offen ausgesprochenen Hintersinn, den Beweis für die »nötige Reife« des geeinten Detuschland zu erbringen. Eine Verfügung über Atomwaffen wäre im Moment allerdings kontraproduktiv. Der besondere Appeal der BRD gegenüber den sog. Dritte-Welt-Staaten ist immer noch ihr Status als Nicht-Kernwaffenstaat (dies gilt gleichermaßen für Japan). Nur so kann sie darauf hoffen, die nötige Unterstützung bei den Ländern der »Dritten Welt« für ihr Ansinnen zu bekommen, in den Sicherheitsrat aufgenommen zu werden.

Mehr spricht für die Annahme, daß das Problem erst richtig anfängt, wenn die Bundesrepublik ihren Sitz im Sicherheitsrat erreicht hat. Wird damit nicht der Hunger nach größerer Macht, nach der Beseitigung jeglicher Statusdifferenzierung, völliger Gleichberechtigung also, geweckt werden?

Oder aber, was ist, wenn sie diesen Sitz dauerhaft verweigert bekommt? Wird die Bundesrepublik nicht dann dem Beispiel Chinas folgen, das 1969 erstmals eine Atombombe testete und 1971 in den Sicherheitsrat aufgenommen wurde?

Die Fragen zeigen nur, daß keinerlei Grund zur Beruhigung besteht. Die Entscheidung über eine deutsche Atomwaffenoption steht heute nicht auf der Tagesordnung. Aber vielleicht morgen.

Kernwaffen und Counter-Proliferation: Militärpolitische Implikationen

Mit dem Ende der vielbeschworenen »Konfrontationsära« schien auch ein tiefgreifender Paradigmenwechsel in der internationalen Politik fällig: Beendigung des Rüstungswettlaufs, Zusammenarbeit Ost und West, Nord und Süd bei der Lösung der globalen Probleme. Doch für maßgebliche Teile der sog. strategic community scheint das Denken in den Konfrontationskategorien des Kalten Krieges zur zweiten Natur geworden zu sein. Die militärnahen Denkfabriken v.a. in den USA, die führenden Militärs und Sicherheitspolitiker haben neue Bedrohungen entdeckt, gegen die sich das westliche Bündnis wappnen müsse. Im Zentrum stehe dabei die drohende Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen, der mit einer Strategie der Counter-Proliferation begegnet werden müsse. Dabei geht es vor allem um die Entwicklung neuer Raketenabwehrsysteme. Sie sollen in regionalen Kriegen (Theater Missile Defense) eingesetzt werden und die eigenen Truppen unangreifbarer machen. Aber es geht auch um neue nukleare Einsatzoptionen.

In den USA wurden die Vorarbeiten dazu zwischen 1991 und 1993 geleistet. Eine deterrence study group unter dem Luftwaffenkommandeur Thomas Reed legte erste Ergebnisse 1992 vor (Reed-Panel 1992) 22, die US-Marine verabschiedete im Dezember 1992 den STRATPLAN 201023; im April 1993 einigten sich die Joint Chiefs of Staff auf eine gemeinsame Nukleardoktrin, die »Doctrine for Joint Nuclear Operations«24. Die erste praktische Konsequenz: 1993 bildeten Navy und Air Force erstmals seit 1947 ein gemeinsames Kommando STRATCOM, das die nukleare Einsatz- und Zielplanung auf die veränderten Rahmenbedingungen einstellen sollte.25 Die Clinton-Regierung bestätigte in einer Bottom-Up Review vom Oktober 1993 diese Neuorientierung und billigte, daß Verteidigungsminister Les Aspin die Defence Counterproliferation Initiative (DCI) einleitete. Les Aspin versuchte auch unverzüglich, diese Initiative den NATO-Partnern schmackhaft zu machen. In einem Report an den Kongreß vom Mai 1994 legte Staatssekretär John Deutch im einzelnen dar, welche Schlußfolgerungen für Forschung & Entwicklung, für künftige Beschaffungen und Militärplanungen zu ziehen seien.26 Deutch forderte die Bereitstellung von zusätzlichen 400 Mio. $ pro Jahr für die DCI.

Die »Doctrine for Joint Nuclear Operations« (JCS-Doktrin) wiederholt weitgehend die eingestanzten Formeln der US-Abschreckungsdoktrin: Zu einer glaubwürdigen und durchsetzungsfähigen atomaren Abschreckung gehörten ein ausgewogenes Mix zwischen hochwirksamen konventionellen und nuklearen Waffen, ein breites Einsatzspektrum auch für die Atomwaffen, mit dem alle Konfliktvarianten abgedeckt werden können. „From a massive exchange of nuclear weapons to limited use on a regional battlefield, US nuclear capabilities must confront an enemy with risks of unacceptable damage and disproportionate loss should the enemy choose to introduce WMD (wepaons of mass destruction) in a conflict.“ 27 Sicherung der sog. Eskalationsdominanz – auf jeder Stufe des »Konflikts« – müssen dem Gegner die Bedingungen diktiert werden können.

Neu an der JCS-Doktrin ist allerdings das Gewicht, das der Nuklearstreitmacht für künftige regionale Konflikte zugemessen wird. Die Kernwaffen sollen den potentiellen Gegner davon abhalten, Massenvernichtungswaffen einzusetzen. Und, falls die Abschreckung versagt, soll eine adäquate Vergeltung gewährleistet sein. Darüber hinaus sollen US-Kernwaffen auch als Abschreckungsmittel gegen konventionelle Bedrohungen eingesetzt werden! Daher der Schluß: „A selective capability of being able to use lower-yield weapons in retaliation, … is a useful alternative for the US National Command Authorities (NCA).“ 28

Die neue Counter-Proliferation-Doktrin verwischt die Trennlinie zwischen strategischen und taktischen Nuklearwaffen weitgehend. Auch der erwähnte Reed-Report schreibt, „daß die Trennung zwischen strategischen und taktischen, nuklearen Gefechtsfeldwaffen zusehends schwächer wird“.29

Die Implikationen dieser neuen Nukleardoktrin sind in doppelter Hinsicht weitreichend:

a. die nuklearen Dispositive und Einsatzpläne der »regionalen Kommandozentralen« der USA – also z.B. des SACEUR in Europa – werden geprüft und verändert. Neue nichtstrategische Atomwaffen für das »Gefechtsfeld« sollen eingesetzt werden.

b. die Entwicklung und Beschaffung neuer Atomsprengköpfe soll auf den Weg gebracht werden. Zwar hat der Kongreß 1993 die F&E-Pläne der Militärs empfindlich eingeengt (man habe genügend moderne Sprengköpfe, wurde gesagt), aber dennoch wurden einige Schlupflöcher gelassen. So sind in den Etats 1994 und 1995 Mittel für die Erforschung eines neuen High Power Radio Frequency (HPRF)-Sprengkopfes eingestellt, mit dem man elektronische Einrichtungen des Gegners zerstören will.30

Die stattfindende Umorientierung hat ihren Preis. Das Pentagon hat in seinem Etat für 1995 ca. 3 Milliarden Dollar für Counter-Proliferation eingestellt.31 Nach wie vor wird – trotz des Rahmenabkommens mit Nordkorea – ein 8 Mrd. teures Raketenabwehrsystem für Japan geplant. Die amerikanisch-europäische Kooperation zur Weiterentwicklung der THAAD-Rakete macht Fortschritte. Die Rüstungsdirektoren aus den USA, Deutschland, Frankreich und Italien haben jetzt vereinbart, gemeinsam ein Raketenabwehrsystem MEADS (Medium Extended Air Defense System) zu entwickeln, das im Jahre 2005 in Dienst gestellt werden soll.32

Militärische Planung und Außenpolitik sind nicht dasselbe. Zwischen State Department und Pentagon besteht nicht unbedingt volle Übereinstimmung, wie die Gefahr der Proliferation einzuschätzen und wie ihr am besten zu begegnen ist. Soll die traditionelle Politik vorbeugender Diplomatie fortgesetzt und nur durch »moderate« Rüstungsmaßnahmen ergänzt oder durch eine harte, militärisch orientierte Abschreckungspolitik verdrängt werden. Auch die außenpolitischen »think tanks« streiten sich noch, ob man die weitere Proliferation noch verhindern kann oder sich – gleichsam fatalistisch – auf eine gefährliche Ausbreitung einstellen muß.33 Es ist bisher nur eine kleine Minderheit, die eine radikale Lösung des Proliferationsproblems in der globalen nuklearen Abrüstung sieht.

Die Waage zwischen den vorherrschenden Lagern, die beide die atomare Abschreckung nicht in Frage stellen, aber neigt sich mehr und mehr zur Seite der »Hardliner«. Der überwältigende Wahlsieg der Republikaner im November 1994 hat diesen Trend verstärkt.

Noch sind die vom State Department gesetzten Akzente prägend: Die komplizierte Nuklearabrüstung in Rußland und der Ukraine wird mit erheblichen finanziellen Mitteln unterstützt. Die Ukraine konnte dadurch dazu gebracht werden, dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten. Auch im Streit mit Nordkorea setzte die Clinton-Regierung auf Diplomatie und wirtschaftliche Hilfe. Verteidigungsminister Perry, der in Südkorea wieder Atomraketen stationieren wollte, wurde zurückgepfiffen. Die Frage ist: Wie lange noch?

Entwertung der Kernwaffen?

Kritische Autoren haben viel darüber geschrieben, daß nach dem Ende der »Konfrontationsära« die Atomwaffen zunehmend entfunktionalisiert und entwertet würden. Die Kernwaffen seien keine Gefechtsfeldwaffen und würden daher in der heutigen Welt bestenfalls zur Minimalabschreckung gebraucht. An den Protagonisten des Nuklearkomplexes ist diese Kritik an der Abschreckungsdoktrin jedoch vorbeigegangen. Die Debatten um die Verwundbarkeit der modernen Zivilisation (nuklearer Winter!) haben nur zu vermehrten Anstrengungen geführt, solche ausgeklügelten Waffen zu entwickeln, mit denen die sog. Kollateralschäden (Umwelt, Zivilbevölkerung, Infrastruktur) minimiert werden können.

Die neue US-amerikanische Eindämmungspolitik glaubt, noch unverdrossener auf Kernwaffen setzen zu können. Zum einen wegen der technischen Entwicklung kleinerer, aber noch wirkungsvollerer Sprengköpfe. Zum anderen wegen der drückenden Überlegenheit, die das Problem der Selbstabschreckung reduziert. Damit scheint ein Problem gelöst, daß die Nuklearstrategen seit Mitte der 50er Jahre beschäftigt hat: Wie können Atomwaffen unter dem Vorzeichen der gegenseitigen Vernichtungsdrohung (mutual assured destruction) noch politisch instrumentiert werden? Wenn die Zerstörungspotentiale die militärischen Handlungsmöglichkeiten der Kontrahenten paralysieren, wie soll militärische Macht noch in politische Macht umgesetzt werden? Die Antwort war seit der Veröffentlichung von Henry Kissingers Klassiker „Kernwaffen und Auswärtige Politik“ immer diesselbe: Gestützt auf technologische Druchbrüche bei der Waffenentwicklung und kombiniert mit »geschickter« Diplomatie sollten Kernwaffen auch für begrenzte Kriege nutzbar gemacht werden.34 Verteidigungsminister Schlesinger verkündete 1974 eine Doktrin, die »selektive Einsatzoptionen« für Atomwaffen in begrenzten Konflikten vorsah. Die mit Pershing 2 und Marschflugkörpern aufkommenden Phantasien von der möglichen »Enthauptung« des Gegners waren nur die zugespitzteste Form dieser Strategien. Die Studie »Discriminate Deterrence« knüpfte ebenfalls an Überlegungen an, einen militärischen Sieg mit gezieltem Einsatz der Kernwaffen erreichen zu können, ohne zugleich den großen, alles vernichtenden Knall auszulösen.

Zu den Risiken dieser Nuklearstrategie gehörte immer der Aspekt der Selbstabschreckung. Läßt sich tatsächlich eine uferlose Eskalation in einem Konflikt, in dem Massenvernichtungswaffen eingesetzt werden, vermeiden? Das Kalkül der Militärs: Die erdrückende Übermacht der bestehenden Atommächte über potentielle Gegner in der »Dritten Welt« wird schon ausreichen, um die andere Seite vom Einsatz von Massenvernichtungswaffen abzuhalten. Falls dies nicht gelingt, wird ein »begrenzter nuklearer Gegenschlag« den Gegner rasch zur Kapitulation nötigen.

Aber hat nicht der Golfkrieg gezeigt, daß für die Niederhaltung unbotmäßiger Regime Atomwaffen völlig überflüssig sind? Sollte diese Erkenntnis nicht ausreichen, um alle Seiten davon zu überzeugen, daß die Atombombe heute obsolet ist? Erinnert sei nur an die aufschlußreiche Antwort eines indischen Generals, der auf die Frage nach den Schlüssen, die aus diesem Krieg zu ziehen seien, antwortete: Man dürfe sich nicht mit Amerika anlegen, wenn man nicht Atomwaffen besitze. Gerade die konventionelle Überlegenheit der hochindustrialisierten Länder scheint den underdogs nahezulegen, sich durch den Erwerb von Massenvernichtungswaffen wenigstens ein »bescheidenes« Drohpotential zu verschaffen. So dreht sich die Rüstungsspirale immer weiter und die Atombombe bleibt begehrt.

Die oben aufgeführten Beispiele zeigen auch, daß Massenvernichtungswaffen bei der Konkurrenz um regionale Vormachtstellungen eine erhebliche Rolle spielen. Solche hegemonialen Konflikte werden künftig zunehmen. Dies verdeutlicht einmal mehr, wie aktuell und dringend die Forderung nach einer völligen Ächtung der Massenvernichtungswaffen ist.

Anmerkungen

1) IAP-Dienst Sicherheitspolitik, 21/94, S. 3. Zurück

2) France, Britain Pursue Nuclear Ties, in: Defense News Zurück

3) Kommunique der Ministertagung des Verteidigungsplanungsausschusses und der Nuklearen Planungsgruppe am 14./15.12.1994. Zurück

4) Juliane Just, Atombomben aus Israels Negev-Wüste, in: Neues Deutschland, 20.2.1995, S. 7. Zurück

5) S. dazu: David Albright, India and Pakistan`s Nuclear Arms Race: Out of the Closet, but not in the Street, in: Arms Control Today, June 1993, pp. 12-16. Zurück

6) Vgl. J. Scheffran, M. Kalinowski, P. Schäfer, Nordkoreas Nuklearprogramm und die Strategie der Counterproliferation, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/94, S. 834 ff. Zurück

7) S. dazu: Iran`s Nuclear Activities and the Congressional Response, Congressional Research Service, May 20, 1992. Zurück

8) Institut für strategische Analysen, Die nuklearen Beschaffungsmaßnahmen des Iran, Kurzberichte Nr. 7/94. Zurück

9) Winfried Wolf, Wege zu Massenvernichtungswaffen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/95. Zurück

10) Shahram Chubin, Does Iran want Nuclear Weapons? In: Survival, vol. 37, no 1, Spring 1995, p. 90. Zurück

11) a.a.O. p. 97. Zurück

12) Klaus Naumann, Bundeswehr vor neuen Herausforderungen, in: Soldat und Technik 1/1995, S. 9. Zurück

13) Ders., Sicherheit in Europa – Konsequenzen für die Bundeswehr, in: Europäische Sicherheit 1/95, S. 8. Zurück

14) Matthias Küntzel, Die Stellung der BRD im System der nuklearen Nonproliferation: antimilitarismus information, 12/94, S. 59 ff. Zurück

15) Japan ist drauf und dran, hier die Bundesrepublik in den Schatten zu stellen. Nach heutigen Planungen wird Japan im Jahre 2020 einen solchen Vorrat an Plutonium gehortet haben, der die Gesamtmenge des militärischen Plutoniums übertrifft, welches die beiden Supermächte jemals für Waffen produziert haben. Siehe: Die ZEIT, Nr. 19, vom 7.5.1993, S. 26. Zurück

16) Karl Lamers, im Hessischen Rundfunk, 10. März 1991. Zurück

17) BMVg., Konzeptionelle Leitlinie zur Weiterentwicklung der Bundeswehr vom 12. Juli 1994. S. auch den Beitrag von Dieter Deiseroth in diesem Heft. Zurück

18) Uwe Nerlich, Überlegungen zur Neuordnung der euro-amerikanischen Verteidigung im Rahmen der NATO: Einige Voraussetzungen und Optionen. Ebenhausen 1994, S. 47/48. Zurück

19) Ders., Militärisch relevante Gefahren in künftigen Konstellationen, in: W. Heydrich/J. Krause/U. Nerlich/J. Nötzold/R. Rummel (Hrsg.): Sicherheitspolitik Deutschlands: Neue Konstellationen, Risiken, Instrumente, Baden-Baden 1992. Man beachte die Spitzenleistung verschleiernder Sprache: Der Atomkrieg heißt jetzt »nichtkonventionelle Reaktionen«. Zurück

20) Erwin Häckel/Karl Kaiser, Kernwaffenbesitz und Kernwaffenabrüstung: Bestehen Gefahren der nuklearen Proliferation in Europa? in: Joachim Krause (Hrsg.), Kernwaffenverbreitung und internationaler Systemwandel, Baden-Baden, 1994, S. 260. Zurück

21) An dieser Stelle soll nicht näher auf die Studie »The role and future of nuclear weapons in Europe«, Assembly of Western European Union, Doc. 1420, 19.5.1994, eingegangen werden, die im Rahmen der Parlamentarischen Versammlung der WEU von Mr. Decker erstellt wurde. Der Report zeigt nur, daß es innerhalb der WEU Überlegungen gibt, die in die gleiche Richtung zielen. Eine koordinierte WEU-Politik wird daraus noch lange nicht. Mitgliedern des Verteidigungsausschusses, die am 2. März 1994 im WEU-Hauptquartier in Brüssel weilten, wurde mitgeteilt, daß es keinerlei Überlegungen zur Nuklearfrage gäbe. Zurück

22) Thomas C. Reed and Michael O. Wheeler, The Role of Nuclear Weapons in the New World Order, 13. January 1994. Zurück

23) STRATPLAN 2010, Final Report, Office of the Deputy Chief of Naval Operations for Plans, Policy and Operations, June 1992. Zurück

24) Joint Chiefs of Staff, Doctrine for Joint Nuclear Operations, 29.4.1993. Zurück

25) Hans Kristensen, Joshua Handler, Changing Targets: Nuclear Doctrine from the Cold War to the Third World, Paper von Greenpeace International, 26.1. 1995. Zurück

26) Pete V. Domenici, Countering Weapons of Mass Destruction, in: The Washington Quarterly, Winter 1995, pp. 145-152. Zurück

27) JCS, Doctrine for Joint Nuclear Operations, 29. April 1993, I-2. Zurück

28) a.a.O., I-3. Zurück

29) Thomas C. Reed and Michael Wheeler, a.a.O., p. 33. Zurück

30) Hans Kristensen and Joshua Handler, a.a.O., p. 13/14; s.o. den Hinweis auf die mini-nukes im Beitrag von Wolfgang Liebert im gleichen Heft. Zurück

31) a.a.O., p. 79. Zurück

32) FAZ vom 22.2.1995. Zurück

33) Leonard S. Spector, Neo-Nonproliferation, in: Survival, vol, no. 1, Spring 1955, pp. 66-85. Zurück

34) Henry Kissinger, Kernwaffen und Auswärtige Politik, München 1959. Zurück

Paul Schäfer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Gerhard Zwerenz (PDS).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1995/1 Atomwaffen abschaffen, Seite