»Offener Himmel«: Krise abgewendet?
von Christian Nünlist
Seit dem Inkrafttreten des »Open Skies«-Abkommens (2002) gab es zwischen den USA, Kanada, Russland und 31 europäischen Vertragsstaaten weit mehr als 1.000 Inspektionsflüge. Der »Vertrag über den Offenen Himmel« symbolisiert ein wichtiges Element von militärischer Transparenz, Vertrauensbildung und Konfliktvermeidung im euro-atlantischen Raum. Er erlaubt eine jährlich definierte Anzahl unbewaffneter Beobachtungsflüge auf vorgängig miteinander vereinbarten Routen sowie Luftaufnahmen von militärischem Personal und Material.
»Open Skies« war 1955 ursprünglich eine Idee von US-Präsident Eisenhower. Doch die Sowjetunion hatte sich im Kalten Krieg vehement gegen die vermeintliche Spionagemassnahme gewehrt. Eine Umsetzung war erst möglich, als die USA und Russland nach 1991 eine neue europäische Sicherheitsarchitektur aufbauten. Verifizierbare Rüstungskontrolle half mit, die Waffenarsenale aus dem Kalten Krieg abzubauen und Europa mit weniger Waffen sicherer zu machen.
Tempi passati. Seit 2014 sind die russisch-westlichen Beziehungen wieder von Antagonismus geprägt. Wichtige Pfeiler der gemeinsam vereinbarten Sicherheitsarchitektur zerbröseln. 2007 suspendierte Russland unilateral den Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) – obschon eine einseitige Aussetzung im Vertrag gar nicht vorgesehen ist. Das Wiener Dokument über vertrauens- und sicherheitsbildende Massnahmen sollte eigentlich alle fünf Jahre angepasst werden. Dies geschah letztmals 2011. Spätere Versuche scheiterten an divergierenden Interessen von Russland und den USA.
Im September 2018 kam es auch beim »Offenen Himmel« zum Eklat: Die USA weigerten sich am 10. September, ein russisches TU-214-Flugzeug für »Open Skies«-Missionen zu zertifizieren. Russland hatte zuvor seine Flugzeuge modernisiert und mit leistungsstarken Digitalsensoren ausgestattet. Die amerikanischen OC-135-Flugzeuge stammen hingegen aus den 1960er-Jahren und operieren auch heute noch mit Nassfilmtechnologie. Im US-Kongress glaubte man, die Russen seien im heiklen Bereich der Militärspionage im Vorteil, und wollte deshalb den »Offenen Himmel« generell boykottieren.
Im Eifer wurde vergessen, dass es bei »Open Skies« nie um Militärspionage ging, sondern um kooperative Sicherheit und Vertrauensaufbau. Militärische und zivile Satelliten decken längst jedes Gebiet der Welt in weitaus besserer Auflösung ab, als die »Open Skies«-Beobachtungsflüge dies erlauben. Dennoch macht der »Offene Himmel« auch für die USA und den Westen weiterhin Sinn, vor allem aus zwei Gründen:
Erstens verfügen nicht alle europäischen Verbündeten über so ausgereifte Technologie wie die USA. Die baltischen Staaten, Polen, aber auch Deutschland und die Schweiz etc., profitieren von den Aufnahmen. Auf den gemeinsam durchgeführten Flügen werden ferner Kontakte zwischen Militärs gefördert. Gerade für kleinere Staaten ist »Open Skies« wichtig, um über die Militärpotenziale grösserer Staaten transparente, verifizierbare Angaben zu erhalten.
Zweitens kann »Open Skies« auch in Krisen eine stabilisierende Funktion erfüllen. Nach Ausbruch der Ukrainekrise erbrachten die Beobachtungsflüge im April 2014 wichtige Fakten über den russischen militärischen Aufmarsch nahe der Grenze zur Ukraine. Diese Aufnahmen sind verifizierbar und dürfen auch in bilateralen und multilateralen Foren verwendet und diskutiert werden. »Open Skies« ermöglicht in heiklen Momenten eine sachliche Diskussion aufgrund multilateral erhobener, neutraler Fakten.
Dies sahen zum Glück auch die USA so und zertifizierten das russische Flugzeug eine Woche später doch noch. Die »Open Skies«-Krise ist damit aber noch nicht ausgestanden. Georgien erlaubt seit 2011 keine russischen Überflüge mehr, Russland beharrt aber inzwischen auf seiner Überflugquote. Die Türkei untersagte Überflüge über das Grenzgebiet zu Syrien genauso wie Russland über die Enklave Kaliningrad und die USA über Alaska und Hawaii. 2018 fand noch kein einziger Open-Skies-Flug statt. Erst vor kurzem einigten sich die 34 Vertragsstaaten in Wien darauf, 2019 wieder Flüge durchzuführen.
Die Minikrise zeigt: Letztlich fungiert auch der »Offene Himmel« als Fiebermesser für die russisch-westlichen Beziehungen. Zwar wären gerade jetzt Rüstungskontrollmechanismen dringend nötig, sie sind vor dem Hintergrund des »neuen Kalten Krieges« seit 2014 aber weitestgehend wirkungslos geworden. Daran ändert sich vermutlich nichts, solange es an Vertrauen zwischen Russland und dem Westen mangelt.
Dr. Christian Nünlist ist Senior Researcher am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich. Er beschäftigt sich mit Fragen der europäischen Sicherheit.