W&F 2024/1

Dieter Hoffmann (Hrsg.) (2023): Operation Epsilon. Die Farm-Hall-Protokolle erstmals vollständig, ergänzt um zeitgenössische Briefe und weitere Dokumente der 1945 in England internierten deutschen Atomforscher. Diepholz und Berlin: GNT-Verlag. ISBN 978-3-86225-111-7, 588 S., 44,80 €.

Abb. Buch

Die zentrale Begründung für die US-Regierung und die Wissenschaftler im Manhattan-Projekt zum Bau der ersten Atombomben war die Erwartung, dass Nazi-Deutschland selbst an einer Atombombe arbeitete. In dem empfehlenswerten Film »Oppenheimer« von C. Nolan (2023) sagt der Oppenheimer-Darsteller: „Wir sind in einem Wettlauf gegen die Nazis“.

Wie man heute weiß, war es letztlich kein Wettlauf, weil das NS-Regime die Bedeutung der Entdeckung des Kernspaltungspotenzials kaum verstanden hatte und dem deutschen Uran-Projekt zu wenig Ressourcen zur Verfügung stellte, um die technischen Schwierigkeiten beim Bau der ersten Atombombe zu überwinden.

Kurz vor Kriegsende wurden zentrale Wissenschaftler des deutschen »Uranvereins«, acht Physiker und zwei Chemiker, darunter Otto Hahn, Werner Heisenberg, Max von Laue und Carl-Friedrich von Weizsäcker von den Alliierten als »special guests« in Gewahrsam genommen und auf dem Landsitz Farm Hall nahe Cambridge vom 1. Mai bis 30. Dezember 1945 interniert. Bei dieser Geheimdienstoperation genannt »Operation Epsilon« ging es darum, die zentralen Figuren des deutschen Atombombenprojektes der Öffentlichkeit und den Russen zu entziehen und herauszufinden, ob und wieweit die Deutschen wussten und in der Lage waren, Atombomben zu bauen. Zu diesem Zweck wurden die besonders interessant scheinenden Gespräche der Wissenschaftler abgehört.

Die 212-seitigen sogenannten »Farm-Hall Protokolle« waren über 30 Jahre Verschlusssache in britischen und amerikanischen Archiven und wurden erst 1992 veröffentlicht. Sie sind seitdem der historischen Forschung zugänglich. Und seither gibt es Debatten über Motivation, Kenntnisstand, Charakter und politische Sichtweisen zentraler deutscher Physik-Persönlichkeiten, die auch in der Nachkriegszeit in Westdeutschland eine wichtige Rolle spielten. Genannt sei hier der Wiederaufbau der Physikforschung und Kernenergie in der Bundesrepublik nach dem Krieg, und die nachfolgende Atomdebatte (Göttinger Erklärung von 1957).

Dabei ist zu berücksichtigen, dass die heimlich aufgenommenen Originalmitschnitte in Deutsch nicht mehr vorhanden sind. Das vorliegende Material sind zusammenfassende, wöchentliche Berichte der englischen Offiziere mit längeren, ausgewählten Gesprächszitaten in englischer Sprache und somit keine vollständige Gesprächsdokumentation, sondern eine Rückübersetzung. Schätzungen besagen, dass nur eine kleine Prozentzahl der Gespräche veröffentlicht sind. Das Material wurde bereits verschiedentlich publiziert und interpretiert, so u.a. von J. Bernstein (»Hitler´s Uranium Club«, 1996), D. Hoffmann (»Operation Epsilon«, 1993), H. Rechenberg (1994) und D. Cassidy (2017).

Die Debatte um die angeblich „deutsche Atombombe“ ist bis heute nicht beendet. Die Zahl der Meinungsäußerungen, Artikel und Bücher ist enorm. Jeder Autor fügt seine eigene Sicht der Dinge hinzu. Zentrale Fragen bleiben: Was wussten die deutschen Atomforscher, denn sie hatten ja zu Beginn des Krieges einen Kenntnisvorsprung? Inwieweit hatten sie politische Absichten oder moralische Skrupel eine Bombe zu bauen, denn sie agierten unter der NS-Diktatur mitten im Krieg? Was kann man aus dieser komplexen Geschichte für die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter lernen, auch gerade jüngere Generationen?

Der renommierte Wissenschaftshistoriker Dieter Hoffmann hat nun eine zweite, substanziell ergänzte Auflage seines bereits 1993 erschienenen Buches »Operation Epsilon« vorgelegt. Ergänzt werden die erst 1992 freigegebenen 24 Berichte um zeitgenössische Briefe und weitere Dokumente der 1945 in Farm Hall internierten deutschen Atomforscher. Das Buch enthält die alliierten Porträts der internierten Wissenschaftler, die Farm Hall Protokolle in Deutsch und einen zusätzlichen Dokumentenanhang mit Briefen der Internierten an Angehörige sowie Tagebucheinträge von Erich Bagge, Walther Gerlach, Otto Hahn, Werner Heisenberg, Max von Laue und Carl-Friedrich von Weizsäcker. Zudem wurde ein aufschlussreiches Interview mit Letzterem aus dem Juni 1992 abgedruckt. Das gewichtige Buch (1183g) umfasst 588 Seiten und wird ergänzt durch Fotos, Originaldokumente und persönliche Zeichnungen von Walter Gerlach.

Die internierten Wissenschaftler erhielten Besuch von englischen Kollegen (C. Darwin, P. Blackett), hielten Vorträge über Physik, diskutierten ab dem 6. August 1945 die Funktion und Folgen der Bombe und feierten die Verleihung des Chemie-Nobelpreises an Otto Hahn (S. 370ff.).

Zentrale Themen der Diskussionen waren die eigene Rolle im Nationalsozialismus, die Sorge und Hoffnung schnell nach Haus zu kommen (Weizsäckers Limerick: „Es waren zehn Forscher in Farm Hall/ Die galten für fürchterlich harmvoll/ Beim Jüngsten Gericht/ Erschienen sie nicht/ Denn sie saßen noch immer in Farm Hall“), die Frage wie die USA die Atombombe bauen und abwerfen konnten, und die politischen und persönlichen Konsequenzen für die Nachkriegsordnung in Deutschland.

Eine Stärke des Buches ist die Zusammenfassung des vorliegenden Materials mit vielen erklärenden Annotationen über handelnde Personen, Querverbindungen zu anderen Quellen und biografischen Daten. Dies macht weitere Analysen möglich und verbessert die Einsicht in die Charaktere der Beteiligten.

Spannend zu lesen sind nach wie vor die Reaktionen der Wissenschaftler nach Erhalt der Nachricht vom Abwurf der Bombe auf Hiroshima (S. 165ff). Sie reichen von „Bluff“ und Überraschung“ bis hin zum Entsetzen, dass ihre Entdeckung (O. Hahn) zum Zweck der Zerstörung vieler Menschen benutzt worden war. Sie verfassten sogleich ein Memorandum über ihre eigenen Arbeiten (S. 205) und verwiesen auf ihre geringen Mittel und Personal. Hahn sagte den Kollegen: „Wenn die Amerikaner eine Uranbombe haben, dann sind Sie alle zweitklassig.“ Heisenberg stimmte zu. In der Tat hatten die Deutschen im Wesentlichen auf einen „Uran­brenner“ (Reaktor) mit schwerem Wasser als Moderator gesetzt und auf den schwierigeren Plutoniumpfad für eine Bombe, die im Krieg nicht mehr fertig werden würde. Es ließen sich weitere interessante Zitate wiedergeben, die einiges Licht auf die deutschen Physiker werfen.

Wichtig zum Verständnis der Kenntnis des Atombombenbaus ist der Vortrag über die Wirkungsweise der Bombe, den Heisenberg innerhalb von wenigen Tagen ausarbeitete (S. 234ff) und in dem er die Wirkungsweise der Bombe im Wesentlichen korrekt beschrieb. Dieser Vortrag ist in dem Buch ebenso abgedruckt wie die darauffolgenden Fachdiskussionen in Farm Hall, die nicht frei von Irrtümern sind, was angesichts der Kriegssituation, dem dezentral organisierten Projekt, dem Ressourcenmangel und den Kriegsbedingungen jedoch verständlich ist. Weizsäcker hat in dem ebenfalls abgedruckten Interview vom 3. Juni 1992 basierend auf den Erfahrungen der Physiker beim Bombenbau gefolgert: „Auch ich habe mich ja immer dafür eingesetzt, dass die Wissenschaftler sich auch politisch um die Konsequenzen ihres Tuns aktiv kümmern, und zwar als Wissenschaftler, nicht indem sie plötzlich Politiker werden.“ (S. 544)

Das Buch beinhaltet jedenfalls viel historisches Material für diejenigen, die sich für die Geschichte der Atomforschung, die Verantwortung von Naturwissenschaftler*innen und für die Wissenschaftsgeschichte Deutschlands interessieren. Es ist sowohl für jüngere Leser*innen geeignet als auch für interessierte Forscher*innen, die sich mit den ersten militärrelevanten Nuklearprogrammen und der Rolle der Wissenschaft beschäftigen. Es bietet eine gute Quelle für weitere Diskussionen. Ein Schlusswort über die damalige Zeit und den »Uranverein« ist jedenfalls noch nicht gesprochen, aber das Buch bildet dafür eine empfehlenswerte Grundlage.

Götz Neuneck

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2024/1 Konflikte im »ewigen« Eis, Seite 60–61